Kapitel 13

North London, England
8. April 2011

Nathan legte die kugelsichere Weste an und sondierte die Lage. Sie befanden sich in Hackney, einem der ruppigsten Viertel Londons. Überquellende Mülltonnen säumten den Gehsteig vor einem abbruchreifen georgianischen Haus mit vernagelten Fenstern. Ein knochiger Schäferhund lauerte vor dem verrosteten Schmiedeeisentor und verbellte Passanten. Die Pforten der Hölle waren nicht besser bewacht.

»Das ist es.« Steve wies mit dem Finger nach vorn. »Typische Crackhöhle, in all ihrer upgefuckten Pracht.« Er sah sich nach den Leuten von der Bereitschaftspolizei um, die unruhig hinter ihm mit den Füßen scharrten: schwarzer Overall, visierbewehrter blauer Helm, Schlagstock, durchsichtiger Schild.

Nathan wischte sich über die Stirn. Der bezogene Himmel deckte sie mit einem hartnäckigen Sprühregen ein. Straßenlampen erwachten flackernd zum Leben; die späte Nachmittagssonne hatte nicht die geringste Chance. Vergangene Nacht hatte er wieder kaum geschlafen. Caitlin hatte sich beim Spanier derart volllaufen lassen, dass er sie praktisch hatte heimtragen müssen. Dann hatte er im Bett gelegen und durch die Vorhänge den Mond angestarrt. Immer wieder ging ihm sein Gespräch mit Cedric durch den Kopf. Ihm raste das Herz beim bloßen Gedanken daran, dass Amonite hier in London war.

»Also, Jungs«, sagte Steve. »Gehen wir’s an. Ihr wisst Bescheid.« Mit seinen strahlend blauen Augen musterte er Nathan von Kopf bis Fuß. »Na denn, Natty Boy, willst du mal mit dem alten Vollstrecker hier?« Er tätschelte die Einmannramme, die gegen die Backsteinwand gelehnt war.

Nathan versuchte sich an einem Lächeln. »Klar.« Er wiegte die Ramme in der Armbeuge. Sie war so schwer, wie sie aussah.

Zwei Cracker kamen aus dem Haus wie Erscheinungen und stolperten den Pfad herab ans Tor. Einer von ihnen versetzte dem bellenden Hund einen Tritt. Er trug eine schwarze Wollmütze und eine zerschlissene Army-Jacke. Der andere hatte ein verwaschenes Guns N’ Roses-T-Shirt an und fror. Ihre hageren Gesichter wurden lang, als sie die Bereitschaftspolizei, Nathan mit der Ramme vorne dran, auf sich zukommen sahen.

Nathan trat das Tor aus den Angeln. Er stieß die beiden Cracker beiseite, die rücklings über den Hund in den mit Unrat übersäten Garten fielen. Er sprintete zur Haustür und wappnete sich gegen den Krach. Er hoffte, sie war nicht mit einem Panzerriegel gesichert. Crackhäuser schützten sich damit gern gegen rivalisierende Gangs.

Kein Panzerriegel.

Ein Krach. Ein Splitterregen. Die Tür gab nach. Die Cracker im Flur stoben auseinander. Auf einem Tisch saß eine halbnackte junge Frau mit kurzem gebleichten Haar und mageren Armen und zog an einer Crackpfeife. Nathan kam taumelnd vor zwei komatosen Männern zu stehen, die zwischen Einwegspritzen, leeren Pizzakartons und Fetzen von Alufolie umgekippt waren. Der ätzende Gestank brennender Drogen und schalem Sex erfüllte den rauchverhangenen Raum.

Unter Geschrei und Verwünschungen drang die Bereitschaftspolizei ein. Man zog den Süchtigen die Schlagstöcke über, stieß sie zu Boden, legte ihnen Handschellen an. Einige wehrten sich, schwangen Stühle, warfen mit Flaschen und Dosen und anderem Kram. Nathan ließ die Ramme fallen. Er stürzte sich in das Getümmel an der Treppe. Ein Süchtiger mit großen Augen und fiesem Grinsen ging mit einem Messer auf Nathan los. Nathan blockte den Stoß und versetzte dem Angreifer einen Faustschlag, der ihn rückwärts gegen die Wand krachen ließ. Nathan duckte sich an einem Polizisten vorbei, der einen anderen Süchtigen gegen das Geländer gedrückt hielt. Drei Stufen auf einmal, rannte er die Treppe hinauf.

Tony musste im Haus sein. Steves Informant hatte ihn erst wenige Stunden zuvor hineingehen sehen.

Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung war. Er konnte sich gerade noch nach rechts wegducken, als ein Kricketschläger über die Stelle hinwegwischte, wo eben noch sein Kopf gewesen war. Er packte seinen Angreifer bei den Knöcheln, riss ihn zu Boden und stieß ihn die Treppe hinab. Dann sprang er auf und brach die Tür zum Zimmer vor ihm auf.

Nichts als ein Haufen Müll in der Ecke und ein ungemachtes Bett mit zerrissenen, fleckigen Laken.

»Hast du ihn gefunden?«

Es war Steves heisere Stimme. Nathan drehte sich um. Steve stand gegen den Türrahmen gelehnt, den Anflug eines Grinsens auf seinem ungeschlachten Gesicht.

»Gehen wir den Rest durch.«

Ohne auf den Kampflärm unter ihnen zu achten, schob Nathan sich an Steve vorbei. Er machte Licht im Zimmer nebenan. Die Funzel schwächelte wie alles andere im Haus, inklusive seiner Bewohner. Spritzen, Crackpfeifen und zerknüllte Zigarettenschachteln bedeckten den abgetretenen Teppich. Nathan schüttelte den Kopf. Er war stets aufs Neue entsetzt darüber, wie tief man als Junkie sinken konnte. Was für ein Dreck!

»Der ist nicht hier«, sagte Steve. »Versuchen wir’s in dem anderen Laden die Straße rauf. Da ist um diese Tageszeit immer mächtig was los.«

Gedämpfte Laute drangen aus dem dritten Raum auf der anderen Seite der Treppe. Nathan sprang hinüber. Er drückte die Klinke.

Verschlossen.

Die Laute wurden zu Schreien.

»Steve, fass mal mit an!«, rief Nathan und stemmte die Schulter gegen die Tür. Steve tat es ihm nach. Zusammen warfen sie sich gegen die Tür, aber sie gab nicht nach.

Nathan beugte sich über das Geländer. »He, bring mal einer die Ramme rauf!« Ein bulliger Polizist kam die Treppe heraufgesprungen und drückte Nathan die Ramme in die ausgestreckten Hände. Nathan trat einen Schritt zurück. Das Geschrei jenseits der Tür war zu einem Kreischen schieren Entsetzens angewachsen. Nathan tat einen Satz nach vorn und krachte durch die Tür und warf auch noch den Tisch, mit dem sie verbarrikadiert war, mit um.

Er erstarrte.

Ein Mann mit hagerem Gesicht hatte einen Arm um die Brust einer jungen Frau gelegt und hielt ihr ein Messer an den Hals. Seine Pupillen waren groß wie Untertassen, aus seiner Nase lief Blut. Es war ein untersetzter, kahlköpfiger Kerl in weißem T-Shirt und schwarzer Hose. Die Wangen der Frau waren hohl, ihre Haut ledrig vom jahrelangen Drogenkonsum. Sie zitterte am ganzen Körper.

»Keine Bewegung«, sagte der Mann, den stieren Blick starr auf Nathan gerichtet. Nathan blieb reglos stehen. Rasch schätzte er die Lage ein: Wenn er ihn beruhigen, ihn irgendwie ablenken, ihm lange genug gut zureden könnte, sah er eine Möglichkeit, sich ihm zu nähern und ihn dann zu entwaffnen.

»Lass sie los, Tony«, sagte Steve über Nathans Schulter. »Du steckst schon tief genug in der Scheiße.«

Nathan wurde nervös. Steve war nicht eben hilfreich.

»Lass das Messer fallen, du Arschloch!«, rief Steve.

Die Klinge des Messers zog Blut.

Nathan ließ die Ramme fallen. Die Dielen knarrten. Tonys Augen verengten sich.

»Steve«, zischte Nathan über die Schulter. »Lass mich das machen.« Er streckte beide Hände und senkte die Stimme. »Lassen Sie sie gehen. Es passiert Ihnen nichts.«

»Geh aus dem Weg, verfluchte Scheiße!«, fuhr Tony ihn an.

»Lassen Sie das Messer fallen. Kommen Sie ganz ruhig mit.«

Mehr Blut. Die Frau schrie auf. Die Handflächen nach oben gerichtet, trat Nathan beiseite. Er machte Steve und den anderen Polizisten Zeichen. Sie wichen ebenfalls aus. Tony zerrte das schluchzende Mädchen an ihnen vorbei.

»Da unten sind zwanzig Bullen«, sagte Nathan.

Tony machte eine Geste mit dem Messer. Er schob sich durch die Tür und stolperte, immer noch das Mädchen vor sich, die Treppe hinab. Mit einigen Schritten Abstand folgte Nathan den beiden nach unten. Er spielte mit dem Gedanken, Tony zu erschießen, aber sie brauchten ihn lebend.

»Lasst ihn durch«, rief Nathan den Polizisten zu, die sich am Fuß der Treppe versammelt hatten. »Bewaffnet und gefährlich.«

Steve packte Nathan an der Schulter. »Bist du verrückt?«

»Wenn wir ihn aufzuhalten versuchen, bringt er sie um.«

Die Polizisten bildeten zwei Reihen. Tony schob die Frau an ihnen vorbei zur Haustür hinaus. Draußen stieß er die Frau in den Garten und rannte los. Trotz seiner kurzen Beine legte er ein erstaunliches Tempo vor. Nathan und Steve sprinteten los.

Tony bog in den Innenhof eines Blocks von Sozialwohnungen und lief in ein Haus. Nathan sprang hinterher und starrte die Treppe hinauf.

»Keine Spur von ihm«, sagte Steve, der den Korridor im Erdgeschoss hinauf und hinunter sah.

Steve holte sein Funkgerät heraus. »Wir brauchen den Hubschrauber. Einer von dem Gesindel ist ausgerückt. In der Gegend der Dalston Road.«

Eine Männerstimme drang durch das Rauschen: »Schon unterwegs.«

Draußen bewegte sich ein Schatten. Nathan stieß mit der Schulter gegen die Metalltür ein Stück den Korridor hinauf und sah sich auf einem verlassenen Parkplatz. Tony erklomm eben eine fast zwei Meter hohe Mauer. Er hatte alle Mühe, seinen feisten Körper hinüberzuziehen. Nathan raste los und sprang in dem Augenblick auf die Mauerkante, in dem Tony sich auf der anderen Seite fallenließ. Nathan fand sein Gleichgewicht und zog seine Waffe. Auf der anderen Seite war es stockdunkel. Ein Stein flog an ihm vorbei. Er legte sich flach.

Nathan hörte ein Wummern über sich, das ihn vorübergehend in den kolumbianischen Dschungel versetzte. Der Suchscheinwerfer eines Hubschraubers leuchtete die Gegend aus. Es war ein Garten voll gepflegter Sträucher und Blumenbeete. In einer Ecke sah er Sandkasten und Schaukel. Ein Kinderspielplatz.

Aber keine Spur von Tony.

Schwarzer Koks
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