Kapitel 2
Putumayo,
Kolumbien
30. März 2011
Nathan hob die Hände. Sein M-16 fiel zu Boden und versank schmatzend im weichen Schlamm. Manuels junge Züge waren war voller Misstrauen. Der Schweiß hatte ihm Strähnen seines langen schwarzen Haars ins Gesicht geklebt. Er mochte einen Kopf kleiner als Nathan sein, war aber nach all den Jahren harten Überlebens im Dschungel drahtig und zäh.
»Wo hast du mit einer Waffe umzugehen gelernt?« Manuels Lippen bewegten sich kaum beim Sprechen. »Du hast gesagt, du wärst Fotograf für eine NRO.«
»Ich bin Fotograf.«
»Wieso weißt du dich dann so gut zu wehren?«
Nathan schürzte die Lippen. Das also war es, was Manuel Sorgen machte. Jetzt galt es, seine Worte mit Bedacht zu wählen, andernfalls würde es zu kompliziert.
»Mein Paps war Schießausbilder«, sagte Nathan, während er langsam die Hände sinken ließ. »Ich war mit ihm jedes Wochenende auf dem Schießplatz.« Besser, auf die Wahrheit zu bauen, auch wenn es nicht die ganze Wahrheit war.
»Und warum die versteckte Waffe?«, fragte Manuel.
»He, wir sind in Kolumbien.« Seelenruhig und selbstgewiss, wie er hoffte, hob Nathan die Achseln. »Läuft hier nicht jeder mit so ’nem Ding rum?«
»Ich helfe deiner NRO gerne.« Manuel ließ die Pistole sinken. »Aber nicht wenn du von der DEA bist. Oder von der CIA.«
»Ich bin Brite. Nicht Amerikaner.«
»Ist doch dasselbe.«
»Nach all der Zeit zusammen dachte ich, wir wären Freunde.«
»Freunde?« Manuel schüttelte den Kopf, als hätte er nie etwas Dümmeres gehört.
Nathan wartete, bis Manuel sich abgewandt und wieder auf den Weg gemacht hatte. Dann bückte er sich, um das M-16 aus dem Schlamm zu ziehen. Er wischte es sorgfältig ab und prüfte das System. Nachdem er sicher sein konnte, dass die Waffe funktionstüchtig war, eilte er hinter Manuel her.
»Wer hat die verpfiffen?«, fragte Nathan.
Manuel zuckte die Achseln.
»Die Front 154?«
Manuel fuhr herum. »Was sagst du?«
»War’s die Front?«
»Keine Ahnung, wovon du redest.«
»Ich verstehe. Alles klar.«
»Nichts verstehst du.«
»Ich meine–«
Brummend stapfte Manuel weiter. Nathan schüttelte den Kopf und zertrat einen schwarzen Käfer, der eben einen Haufen Laub überquerte. Wie zum Teufel sollte er etwas über diese verdammte Front in Erfahrung bringen, wenn keiner über sie reden wollte? Er brauchte Fakten und nicht nur Fotos als Beweise für ihre Aktivitäten. Es war schwierig genug gewesen, seinen Boss dazu zu überreden, ihn hier herüberkommen zu lassen. Er musste ihm dafür etwas Handfestes liefern.
Er hob den Blick. Manuel war drauf und dran, im dichten Grün zu verschwinden. Verärgert und frustriert eilte Nathan ihm nach. Sie setzten ihren Weg fort. Der Wald ging in sanfte Hügel über. Gelegentlich hing eine Wolke um eine der Kuppen wie der Bart eines alten Mannes.
Nathan spürte einen Biss am Knöchel. Mit spitzen Fingern entfernte er einen großen Käfer, der sich in seine feuchte Socke zu graben versuchte. Er verzog das Gesicht. Er konnte Käfer nicht haben, und der hier war ein besonders stattliches Exemplar.
Er hatte einen glänzenden schwarzen Rücken und die Form einer Acht, wobei die vordere Hälfte kleiner war als die hintere. Seine fünf gebogenen Zangen – drei oben, zwei unten – am Kiefer maßen gut zwei Zoll und waren wie eine Säge mit scharfen Zähnen gesäumt. Die sechs dünnen Beine, die sich jetzt hilflos bewegten, endeten in kräftigen Klauen. Am Kopf hatte er mehr Antennen als der Ü-Wagen eines Nachrichtenteams vom TV.
»Manuel, was zum Teufel ist das für ein Monster?«
Manuel war zu weit voraus, um ihn zu hören. Nathan verzog das Gesicht. Der Käfer hatte sich irgendwie umgedreht und ihn am Finger erwischt. Er ließ ihn fallen und das Tier verschwand hastig im Laub.
Er holte Manuel ein, als der sich über eine fast meterhohe Pflanze mit geraden Zweigen und kleinen Büscheln von Blüten beugte. Die glänzenden grünen Blätter hatten spitze Enden und zwei geschwungene Linien zu beiden Seiten der Mittelrippe. Nathan hatte seit seiner Ankunft im Land genügend davon gesehen, aber diese Blätter schienen besonders dunkel und dicht.
Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte Manuel: »Je dunkler desto stärker.«
Manuel fuhr mit schwieligen Fingern den weißlichen Stamm der buschigen Pflanze entlang. Er brach einen Zweig ab und reichte ihn Nathan, der ihn eingehend musterte, während ihm die Frage kam, wie eine Pflanze zum Mittelpunkt eines der schlimmsten Konflikte der Welt hatte werden können. Dann kam ihm ein Gedanke.
Könnte das die fragliche Sorte sein?
Er wandte sich an Manuel. »Die Art habe ich jedenfalls noch nie gesehen.«
»Ich auch nicht.«
Nathan zerbrach den Zweig in mehrere Stücke und steckte diese in die Brusttasche seines Hemds. Er würde sie zuhause ins Labor geben.
Manuel wies nach rechts. »Schau!«
Ein Stück vor ihnen erstreckte sich inmitten des üppigen Dschungels ein Feld voll abgestorbener Maispflanzen und verdorrter Palmlilien. Was in aller Welt hatte zu einer solchen Verwüstung geführt? Nathan watete hinein. Er berührte einen der Stängel. Er war brüchig und zerfiel ihm in der Hand. Der Boden war staubig, braun und völlig ausgedorrt; eine Sintflut hätte hier nichts mehr wachsen lassen.
»Siehst du jetzt?«, sagte Manuel.
»Sicher, aber wie kommt so was?« Nathan ging tiefer ins Feld und schoss einige Fotos.
»Sie verseuchen alles«, rief Manuel. »Sie zerstören unsere Lebensgrundlage.«
»Wer?«
»Na, der Staat. Die DEA.«
Nathan schüttelte den Kopf. Was sie hier sahen, war nicht das Ergebnis einer Begasungskampagne der amerikanischen Drogenbehörde. Dafür war die Wirkung zu durchschlagend und punktuell. Hier war etwas weit Schlimmeres am Werk.
Er war eben dabei, die Kamera wieder im Rucksack zu verstauen, als ihm etwas ins Auge stach. Etwa ein Dutzend Meter vor ihm wurde der Boden zwischen den Pflanzen schwarz und schien sich zu bewegen. Wie eine Welle. Auch die Pflanzen rundum wurden schwarz, als gieße jemand Erdöl darüber.
»Nathan, lauf!«
Stolpernd, sein Blick wie gebannt, wich Nathan zurück. Die Stängel lösten sich vor seinen Augen auf, als gieße eine unsichtbare Hand Säure darüber. Ein gedämpftes Surren, wie das einer Hochspannungsleitung, wuchs rasch zu einem lauten Rauschen an, als die schwarze Welle auf ihn zukam.
»Nathan, mach schon! Komm!«
All die Wochen über hatte er keine derartige Angst in Manuels Stimme gehört.
Knackend brachen die Stängel. Tausende von schwarzen Käfern, jeder faustgroß, schwärmten an Nathan vorbei und fraßen alles auf ihrem Weg. Er begann zu laufen. Käfer knirschten unter seinen schweren Stiefeln. Einige krabbelten ihm die grüne Militärhose hoch. Als er sie in seiner Verzweiflung wegwischte, wäre er um ein Haar gefallen.
Manuel stand etwa zwanzig Meter weiter auf einem mit hohem Gras bewachsenen grünen Hügel. Unter lauten Rufen fuchtelte er mit den Armen. Nathan spürte scharfe Bisse an den Beinen. Getrieben von einem nie gekannten Schub schieren Entsetzens stürzte er auf Manuel zu. Er war über und über mit Käfern bedeckt, spürte die Bisse ihrer Zangen, das Graben der Klauen, das Kratzen auf seiner Haut.
Er warf sich ins Gras des Hügels, wälzte sich darin, schlug um sich, zerquetschte die Käfer unter sich. Er sprang auf, wischte sich die Tiere vom Leib, die sich in seine Kleidung verbissen hatten. Was immer am Boden landete, zerschlug Manuel mit einem dicken Knüppel. Das Rauschen wuchs zu einem Tosen an; dann schien das Feld unter einer Masse gefräßiger Insekten zu explodieren. In nur wenigen Augenblicken waren die toten Stängel wie weggefegt. Dann verschwanden auch die Käfer wieder, versickerten wie dunkles Blut im Sand. Nicht ein trockenes Blatt war mehr übrig. Nichts als kahle, geschundene, leidende Erde. Schweigen legte sich über sie, als wäre die Wildnis zu erschüttert, um auf das eben Geschehene zu reagieren.
Die Augen weit aufgerissen, atmete Nathan schwer. Was hatte diese Käfer zu derart bösartigen Kreaturen gemacht?
»Schau dir das an«, sagte Manuel. Er stieß einen der toten Käfer mit der Stiefelspitze an.
»Was sind denn das für Viecher?«
Manuel drehte den Käfer um. Sein schwarzer Rücken glänzte im letzten Sonnenlicht.
»Manuel, was ist hier los?«
Der Kolumbianer richtete sich wieder auf und zertrat den Käfer mit dem Stiefel; kräftig drehte er den Absatz in die Erde, immer wieder.
»Gehen wir«, sagte er.
Manuel schritt voran. Mit ungläubigem Kopfschütteln lief Nathan hinter ihm drein.
Stundenlang schleppten sie sich über die Hügel, ihre zerfetzte Kleidung klatschnass vom Schweiß. Dann setzte die Erschöpfung ein. Sie waren in dichteren Wald gekommen. Nathan hoffte inständig, dass Manuel wusste, wo es hingehen sollte. Andernfalls waren sie aufgeschmissen.
Tschop. Tschop. Tschop.
Er erstarrte.
Die Kampfhubschrauber waren wieder da.