Kapitel 46

Bogotá, Kolumbien
13. April 2011

Lippen knabberten an ihm. Dann ein Kratzen.

Nathan furchte die Stirn.

Laura konnte manchmal so was von lästig sein.

Ein Scharren. Dann ein Quieken.

»Lass mich in Ruhe«, murmelte er. »Mir geht’s beschissen.«

Wieso war Laura denn überhaupt hier? Sie hatte ihn doch schon vor Monaten verlassen. Dass sie die Nase voll hätte von seiner Arbeitssucht, hatte sie geschrien. Zu schweigen von seiner Verschlossenheit.

Nathan verzog das Gesicht. Ihm war, als schlüge ihm jemand wiederholt einen Backstein auf den Schädel. War er wieder mal mit Caitlin um die Häuser gezogen? Vielleicht um die Demütigung zu ertränken, dass Laura ihn für einen Maler verlassen hatte, einen Bohemien mit spitzen Ohren vom Hoxton Square.

Das Bett war hart und kalt unter seiner Backe, als läge er auf Beton. Wieder huschte etwas an ihm vorbei, etwas wischte gegen seinen Schenkel, nagte an seiner Kleidung. Wieder piepste es.

Ratten.

Nathan stieß mit den Beinen aus, was die Tiere quiekend davonhuschen ließ. Er versuchte sich aufzusetzen, fiel aber wieder zurück. Seine Hände waren auf den Rücken gefesselt; sie waren taub. Er versuchte sich aufzusetzen, lehnte sich gegen die Wand, atmete tief ein. Er öffnete die Augen.

Es war stockdunkel.

Entsetzen und Klaustrophobie drohten ihn zu übermannen. Er atmete lang und tief durch. Er schloss die Augen und zwang sich zur Ruhe. Erinnerungen an den Kampf bei El Tiempo stellten sich ein. Vermutlich befand er sich in irgendeinem Gefängnis. Er konnte sich jedoch nicht erinnern, wie man ihn hergebracht hatte. Er konnte sich weiß Gott wo im Land befinden, wenn er überhaupt noch in Kolumbien war.

Wenigstens war er noch am Leben. Im Geiste checkte er seinen Körper durch. Die Schläfe, an der der Security-Typ ihn mit dem Gewehrkolben erwischt hatte, tat höllisch weh. Sein Körper war voller Prellungen. Knochen jedoch waren keine gebrochen; auch offene Wunden hatte er nicht.

Was war mit Lucia? Hatten sie sie auch erwischt? Falls sie davongekommen war, konnte er nur hoffen, dass sie sich mit Manuel traf. Er hatte bei den Campesinos etwas zu sagen und könnte ihn mithilfe seiner Kontakte aufspüren.

Nathan schüttelte den Kopf: alles reines Wunschdenken. Er hatte vor langer Zeit schon gelernt, mit anderen erst gar nicht zu rechnen. Es war immer besser, nur auf sich selbst zu zählen.

Er stand auf und tastete sich an der Wand entlang. Er befand sich in einer Zelle von etwa zwei mal vier Metern. Die Wände waren aus Stein. Der Boden war feucht. In einer Ecke standen ein Eimer und ein Stuhl. Der Uringestank war überwältigend. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich eine massive Metalltür. Er tastete nach einer Klinke, nach einem Knauf. Die Tür war rostig und kalt.

Und verschlossen.

Nathan setzte sich auf den Boden. In einer Ecke quiekten die Ratten; wahrscheinlich planten sie ihren nächsten Angriff auf ihn. Nathan stellte sich auf ein langes Warten ein. Ihm pochte das Herz in den Schläfen. Obwohl er seine Augen nun seit geraumer Zeit auf die Dunkelheit einzustellen versuchte, konnte er noch immer nichts sehen.

Wie zum Teufel sollte er von hier fliehen? Welche Art von Strafe hatte man für ihn parat?

Es hieß jetzt stark bleiben. Seine Gedanken drifteten zurück zu seinem Wissen über Combat-Survival. Er erinnerte sich noch an das Flucht- und Ausweichtraining mitten im walisischen Winter, die Hügel der Brecon Beacons schneebedeckt. Man hatte ihnen fünf Stunden Vorsprung gegeben, keine Waffen, kein Survival-Kit, nichts. Nur die Maßgabe, ihren Verfolgern so lange wie nur möglich zu entgehen. Der Ausbilder beim SAS hatte sie mit einem grimmigen Lächeln wissen lassen, ihnen stünden einige der bis dato härtesten Tage ihres Lebens bevor.

Und er hatte recht behalten. Nathan hatte länger »überlebt« als die anderen Rekruten, mehr als zwei Tage. Aber schließlich hatten die Hunde seine Witterung aufgenommen und ihn irgendwo im Unterholz erwischt. Die Strafe für die Gefangennahme war ein 18-stündiges Verhör; mit einer Kapuze über dem Kopf. Dann Prügel, Demütigung, Desorientierung. Nathan hatte durchgehalten, hatte sich in sich zurückgezogen, sich geweigert, sich brechen zu lassen.

Die Ausbildung hatte ihm in Mexiko das Leben gerettet, als Amonite ihn erwischt und gefoltert hatte. Dennoch hoffte er, nie wieder darauf angewiesen zu sein.

Eine Ewigkeit, wie es schien, saß Nathan so da und zerbrach sich den Kopf. Nach einer Weile rutschte er seitwärts weg und schlief ein. Er träumte von Caitlin. Sie gingen die Caledonian Road hinab Richtung Canal 125, ihrer Lieblingsbar, von deren kleiner Terrasse aus man einen Blick auf den Kanal in der Nähe der Brücke hatte. Caitlin sagte irgendwas, aber er konnte sie nicht verstehen.

»Ich habe kein Wort verstanden, Caitlin.« Sie murmelte wieder etwas.

»Sprich doch deutlich, Caitlin. Du bist betrunken. Das ist nicht komisch.«

Caitlin sah ihn mit ihren geschwungenen kaffeebraunen Augen an.

Sie öffnete den Mund. Die blutigen Fetzen ihrer Zunge flatterten darin wie ein zerrissenes Laken im Wind.

»Großer Gott!« Nathan griff nach ihrem Unterarm. »Was haben die mit dir gemacht?«

Tränen liefen ihr über die Wangen, mischten sich mit ihrem Make-up zu schwarzen Schlieren. Ein kleiner roter Strich erschien an ihrem Hals. Aufreizend langsam, ja gemächlich wurde er breiter, bis sich ein roter Strom daraus ergoss.

Ihre Stimme war ein gequältes Flüstern: »Die werden dir das auch noch antun, Nate.« Dann schwoll sie zu einem schrillen Heulen: »Dasselbe wie mir.«

Nathan fuhr kerzengerade auf, zitternd, schwitzend, keuchend. Ein ferner Schrei hallte durch die Stille. Er biss die Zähne zusammen, holte mehrmals tief Luft, streckte die Beine, um das Blut zirkulieren zu lassen. Caitlins Gesicht hing immer noch vor ihm, starrte ihn vorwurfsvoll an. Als er seine Atmung wieder im Griff hatte, zerfiel das Gesicht in der Dunkelheit wie die Pixel auf dem Monitor eines PC. Nur die Augen blieben übrig. Schaurig schwebten sie vor ihm, dann verschwanden sie mit einem letzten Zwinkern im Nichts.

Der Schrei wiederholte sich, lauter diesmal, flehend. Nathan schob sich in die Zellenecke. Er zog die Knie an die Brust. Er wartete.

Auf die Hilfe der SOCA war nicht zu hoffen, selbst wenn die von ihm erfuhren. Cedric war zu sehr mit internen politischen Spielchen beschäftigt und Sir George stand eindeutig im Bund mit der Front.

Nathan verfluchte seine Naivität. Er hatte seinen Dienst bei der SOCA voller Ideale angetreten, felsenfest davon überzeugt, den Krieg gegen Drogen gewinnen zu können. Er hatte so viele von Drogen zerstörte Leben gesehen. Kinder in Lumpen, von ihren zugeknallten Eltern in irgendeinem Crackhaus vergessen. Junge Männer, die sich in die abscheulichsten Gewalttaten flüchteten, um das Geld für ihre tägliche Dosis Schore zu stehlen. Hilflose Passanten in der Schusslinie, wann immer in Brixton Schüsse aus vorbeifahrenden Autos fielen.

Cedric hatte ihm einmal gesagt, der Krieg gegen Drogen sei zu gewinnen, aber in Mexiko schließlich war Nathan seine Vergeblichkeit aufgegangen. Je härter man durchgriff, desto brutaler reagierten die Gangs. Das harte Durchgreifen führte nur zu steigenden Preisen. Die wachsenden Profite wiederum verführten immer mehr junge Leute zum Dealen. Dass die Vollzugsbehörden, bürokratisch wie sie waren und von den Kartellen bis ins Mark korrumpiert, den Drogenstrom nach Nordamerika und Europa tatsächlich eindämmen könnten, war nur ein Traum.

Die Tür schwang auf und knallte gegen die Wand. Nathan schloss die Augen gegen das jähe Licht.

»Unser sicario ist aufgewacht«, sagte eine grobe Männerstimme auf Englisch, aber mit dickem kolumbianischem Akzent.

Nathan öffnete die Augen einen Spalt weit, aber das Licht war zu stark.

»Wer sind Sie?«, murmelte er.

»Eine Freundin möchte dich sehen.«

»Wer?«

»Hi, Nathan«, hörte er eine Stimme, die er auf der Stelle erkannte.

Schwarzer Koks
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