Kapitel 57

Bogotá, Kolumbien
14. April 2011

Nathan hob die Lampe auf und richtete sie nach oben. Der Junkie krabbelte wie eine Spinne die Wand hinauf. Nathan nahm die Lampe zwischen die Zähne und machte sich unter Schmerzen an den Aufstieg. Über ihm hörte er das Geräusch von Metall auf Metall. Er sah nach oben, verdrehte den Kopf so, dass der Schein der Lampe gegen die Decke fiel. Der Junkie hatte die Schultern gegen den Gullydeckel gestemmt und versuchte ihn anzuheben. Der Deckel bewegte sich nicht.

Unter ihnen hallten die Stimmen durch den Tunnel. Wieder waren sie ein Stück näher als zuvor.

Nathan zog sich weitere zwei Meter nach oben. Klettern war noch nie seine Stärke gewesen, aber Verzweiflung und Zorn trieben ihn an. Steine rieselten auf ihn herab, trafen ihn am Kopf. Der Junkie trat gegen die Wand in dem Versuch, Brocken loszutreten.

Einer von Nathans Füßen verlor den Halt. Dann der andere. Nur seine Finger bewahrten ihn vor dem Absturz. Weitere Steine fielen auf ihn herab. Er zog den Kopf ein. In dem verzweifelten Versuch, einen Halt zu finden, scharrte er mit den Schuhen an der Wand.

Ein Stein traf ihn direkt auf den Scheitel. Er war einen Augenblick benommen. Nach und nach verloren seine Finger den Halt, unerbittlich, unter großen Schmerzen, die Kuppen wund. Dann fiel er. Hart schlug er unten auf. Seine Knie brachen ein. Er rollte sich seitwärts ab.

Er musste einen Augenblick das Bewusstsein verloren haben, weil er mit einem Mal die Augen aufschlug und in die Dunkelheit über ihm sah. Er tastete nach der Lampe, bekam sie zu fassen und richtete sie nach oben.

Der Junkie drückte noch immer gegen den Deckel. Dann hämmerte er frustriert mit den Fäusten darauf ein. Erdkrümel regneten auf Nathan herab. Schließlich stieß der Junkie einen Triumphschrei aus. Der Deckel hob sich. Warme Luft kam herein. Der Junkie schob den Deckel beiseite und zog sich hinaus.

Nathan kam schwankend auf die Beine. Er blickte hinauf.

Zwei Silhouetten zeichneten sich vor dem Mondlicht ab. Ein Hund bellte.

Der Junkie kreischte.

Nathan sprang beiseite. Ein Schwall Flüssigkeit kam durch das Mannloch und schlug klatschend ein Stück vor ihm auf. Augenblicklich erfüllte ein unverkennbarer Geruch den Tunnel. Die Flüssigkeit war kein Wasser; es war Benzin. Nathan schnappte nach Luft. Sofort hatte er verstanden, was da geschah.

Über ihm explodierte etwas. Er spürte einen Luftzug. Dann schlug der lodernde Körper des Junkies funkenstiebend im Tunnel auf. Er brannte wie eine Fackel: die Kleidung, die Haare, die Haut. Einen Augenblick blieb er benommen liegen. Dann begann er sich wild zuckend zu winden.

Nathan presste sich flach gegen die Wand. Zum Schutz vor der Hitze nahm er die Hände vors Gesicht. Zentimeter für Zentimeter schob er sich seitwärts davon.

Dem Junkie entfuhr ein gurgelnder Schrei.

Nathan sah sich nach der Lampe um, konnte sie aber nicht finden. Sie musste irgendwo unter dem Ausstieg liegen. Die Flammen leuchteten den Tunnel aus und enthüllten ihm einen Seitenkorridor, der in die Dunkelheit führte. Nathan wich weiter zurück. Er ignorierte die Horden von Ratten, die an ihm vorbeieilten. Sie flohen vor den Flammen. Er konnte das Feuer in ihren Augen sehen. Sie würden wiederkommen, wenn der Junkie genießbar war.

Der Junkie stieß einen letzten Schrei aus. Arme und Beine bewegten sich wie die Schwingen eines entstellten Phönix. Dann rührte er sich plötzlich nicht mehr.

Nathan schluckte schwer. Sein Zorn darüber, dass der Junkie ihn aufs Kreuz gelegt hatte, verschwand. Niemand hatte einen derart schrecklichen Tod verdient. Schmerzen und Entsetzen verdrängend, lief er in den Seitengang. Das Knistern der Flammen legte sich. Gelächter hallte von oben herab in den Tunnel. Einige Schüsse krachten; Geschosse prallten rund um ihn von der Wand.

Nathan hörte aufgeregte Rufe hinter sich. Er fuhr herum. Eine Gruppe schwer bewaffneter Männer näherte sich der brennenden Leiche. Sie traten nach den Ratten. Einer von ihnen schoss eine Kugel in den Junkie. Dann schlug er einem Kollegen gegen die erhobene Hand und rief etwas nach oben.

Waren das Leute von der Front oder der übliche Reinigungstrupp, von dem der Junkie gesprochen hatte?

Nathan hatte nicht die Absicht, es herauszufinden. Zum ersten Mal dankbar für die Dunkelheit, eilte er den Korridor hinab. Das Knistern der sterbenden Flammen kaschierte das Geräusch seiner Schritte. Er erreichte eine Biegung. Das letzte Licht warf flüchtige Schatten gegen die Wand.

Er sah sich um. Eine Gestalt hatte sich von der Gruppe gelöst und war in den Korridor getreten. Jetzt sah sie ihn direkt an.

Es war Amonite.

Sie wies auf ihn und rief den anderen etwas zu. Man legte auf ihn an.

Nathan hatte eben die Biegung erreicht, als die ersten Kugeln in die Wand fuhren. Die Arme vor sich ausgestreckt, rannte er in die Dunkelheit. Stolpernd knallte er gegen etwas Hartes.

Es war eine Wand.

Er tastete um sich, um zu sehen, in welche Richtung der Korridor führte.

Eine weitere Wand.

Er fuhr herum, trat einen Schritt vor. Lief wieder gegen eine Wand.

Dann kapierte er. Er befand sich in einer Sackgasse.

Schwarzer Koks
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