Kapitel 65
Bogotá,
Kolumbien
14. April 2011
Nathan rollte langsam vor das Tor. Er ließ das Fenster herunter. Der Posten blies eine Rauchwolke aus dem Mundwinkel und streckte Nathan die Hand entgegen wie ein Portier, der ein Trinkgeld erwartete.
»Identificación, por favor.«
Nathan reichte ihm den Ausweis durchs Fenster.
»Harry Singleton?« Der Posten warf einen gelangweilten Blick auf Nathan. Eine Sonnenbrille spiegelte sich in der anderen. »Neu hier?«
Nathan nickte.
Der Posten hielt ihm die Karte wieder hin. Er trat zurück und nahm einen weiteren langen Zug von seiner Zigarette. Sein Partner ging um das Fahrzeug herum und checkte die Unterseite mit dem Teleskopspiegel. Nathan verfolgte ihn in den Außenspiegeln. Er versuchte desinteressiert zu wirken, aber sein Herz pochte ihm bis in den Hals. Beim geringsten Anzeichen von Gefahr würde er den Rückwärtsgang einlegen und fliehen.
Der zweite Wachmann bellte dem ersten etwas zu. Der winkte Nathan hinein. Nathan parkte das SUV neben einem anderen in einer Ecke des Hofs. Er checkte die beiden Pistolen in den Innentaschen seiner Jacke, dann stieg er aus. So locker, wie es nur gehen wollte, ging er auf den Hauptbau zu. Er war nur zweigeschossig, weiß getüncht, die kleinen Fenster mit Gittern versehen. Rechts hatte er eine kleine Veranda mit rotem Schindeldach. Links schloss sich ein kleineres, eingeschossiges Gebäude an, dessen kleine Fenster blaue Rahmen hatten. Seine Stiefel knirschten über den Kies.
Nathan ging eine kleine Treppe vor dem Eingang hinauf. Er probierte die Schlüssel, einen nach dem anderen. Er wagte nicht, sich umzudrehen, aber er konnte die dumpfen Blicke der Wachleute geradezu spüren. Er stieß die Tür auf, als gehörte das Haus ihm. Als er eintrat, hörte er das Tor draußen zuschlagen. Seine Stiefel versanken mit einem Mal in einem cremefarbenen Teppich. Alles war so verdammt britisch: die gemusterte Tapete im Flur, der Teppich auf der Treppe mit dem Eichenhandlauf, der hölzerne Hutständer in der Ecke.
Er schlug die Tür hinter sich zu und trat in die Lounge. Ein braunes Ledersofa, einige Sessel, ein Couchtisch in der Mitte, auf dem einige halb leere Tee- und Kaffeebecher standen. Neben einem gewaltigen Schreibtisch aus Mahagoni tickte eine nicht weniger imposante Standuhr vor sich hin. Auf dem Schreibtisch sah er einen Computermonitor mit einem Keyboard davor. Die orangefarbenen Lichter wiesen auf Standby.
Über ihm hörte er das Knarren von Dielen. Die Pistole in der Hand, sprang Nathan hinter die Tür der Lounge. Schritte kamen die Treppe herab.
»Es muss noch im Wagen sein«, sagte eine Männerstimme, die unverkennbar einem Schotten gehörte.
»Ich hätte schwören können, dass ich es mit reingebracht habe.« Die andere Stimme hatte einen nobligen Akzent.
»Könnte auch noch in der Botschaft sein.«
»Sir Hitler wird nicht sehr erfreut sein.«
»Pass auf, was du sagst, Rupes«, sagte der Schotte. »Sonst lässt er dich öffentlich an die Wand stellen, hängen und vierteilen.«
»Ist doch meine Rede. Der Mann ist übergeschnappt.«
»Mensch, Alter, ich sag ja nur.«
»Kannst du dir vorstellen, was los ist, wenn London davon erfährt?«
»Tja, was sollen wir schon groß machen?« Die Schritte kamen näher. »Vielleicht ist es in der Lounge.«
Nathan drückte sich hinter der Tür gegen die Wand. Sein Finger schloss sich um den Abzug. Er hatte das Überraschungselement auf seiner Seite; sie auszuschalten wäre nicht das Problem. Allerdings würden die Schüsse die Wachposten alarmieren. Und eine Belagerung würde er nicht überstehen.
Die Flanke eines Gesichts erschien an der Türkante. Der Schotte sah jünger aus, als seine raue Stimme das hätte vermuten lassen. Er hatte kurzes Haar, einen Drei-Tage-Bart, Koteletten und eine stumpfe Nase, die einen Schlag zu viel abbekommen zu haben schien.
»Nee, sagte er. »Muss noch im Wagen sein.«
Die Vordertür öffnete sich und fiel wieder zu. Nathan gestattete sich einen Seufzer der Erleichterung. Er wartete einige Sekunden, dann spurtete er durch die Tür in den Flur und die Treppe hinauf. Oben angekommen, ging er in die Hocke.
Es gab drei Türen mit blanken Messingknäufen, die alle geschlossen waren. Er probierte die erste. Nichts als ein Doppelbett mit dicken, flauschigen Kissen, ein Bücherregal mit einer Gesamtausgabe von Jeffrey Archers Werken und in der Ecke ein glänzender Ledersessel. Die zweite Tür führte in ein riesiges Bad mit Marmorfliesen, einer eisernen Wanne mit goldenen Hähnen und einer Dusche, die groß genug für einen Elefanten schien.
Auch das dritte Zimmer war groß und teuer eingerichtet. Auf der einen Seite stand ein polierter Schreibtisch, in der Ecke eine Glasvitrine, der Kronleuchter glich dem in der Lounge. Gerahmte Gemälde mit englischen Landschaften schmückten die Wände. Auf dem Schreibtisch häufte sich ein Stapel Papiere. Es handelte sich um die Protokolle von Meetings britischer Botschaftsangehöriger mit kolumbianischen Offiziellen, in der Hauptsache Verwaltungskram: rechtswirksame Vereinbarungen, Absprachen über Verfahrensweisen.
Eine nach der anderen riss er die Schubladen am Schreibtisch auf: Büroklammern, Heftmaschinen, Schreibkram, Papier. Er sah sich genauer um. Die Glasvitrine enthielt mehrere Reihen Bücher zu verschiedenen Themen: kolumbianisches Recht, kolumbianische Drogenpolitik, sogar eine Art Knigge der kolumbianischen Kultur.
Wo waren die Beweise, die es Manuels Überzeugung nach hier geben sollte?
Er hörte die Haustür knarren. Der Schotte und Rupes hatten sich in der Wolle. Nathan verließ das Büro und trat in das Schlafzimmer. Die Stimmen kamen die Treppe herauf.
»Krieg dich wieder ein«, sagte der Schotte. »Ist mir scheißegal, wozu Amonite das Zeug braucht.«
»Ha! Das wirst du dir schnell anders überlegen, wenn du erst mal in deiner gemütlichen Zelle in Pentonville sitzt.«
»Ich hab doch nichts gemacht.«
»Du hast die E-Mail gelesen, oder?«, fragte Rupes, als sie oben angelangt waren. Er war ins Schnaufen geraten. »Wir gehen zur nächsten Phase über.«
»Wir befolgen nur Befehle.«
»Glaubst du, der Außenminister kauft dir diesen Krampf ab, wenn er dahinterkommt? Und was ist mit dem ganzen Mist im Keller?«
Der Schotte stöhnte und ging ins Büro.
»Du hast doch nicht etwa vergessen, wer El Patrón ist, oder?«, rief Rupes. Er folgte dem Schotten in das Büro und schloss die Tür hinter sich.
Nathan schlich die Treppe hinab. Es gab noch eine Tür am Ende des Flurs. Er öffnete sie sachte. Eine Treppe führte in den Keller. Er knipste das Licht an und ging hinab. Im Keller stapelten sich Holzkisten bis unter die Decke. Er fand kaum Platz, sich zwischen den Stapeln durchzuzwängen. Auf einem Tisch in der Ecke fand er einen Schraubendreher mit flachem Blatt. Er stemmte die Seite einer der Kisten auf und spähte hinein.
Sie war voller Gewehre vom Typ SA80, dem Sturmgewehr der britischen Infanterie, nebst 30-Schuss-Magazinen. Es handelte sich um das verbesserte Modell L85A2. Nathan kannte sich damit aus.
Benutzten Sir George und Amonite Schutzhäuser der britischen Botschaft zur Zwischenlagerung von Waffenlieferungen für die Front?
Nathan legte den Schraubendreher wieder auf den Tisch und schlich die Treppe hinauf. Er warf einen Blick in die Lounge. Einer der Männer hatte seine Tasche neben dem Monitor auf dem Schreibtisch liegen gelassen. Nathan warf einen Blick hinein: ein Roman, ein Schokoriegel, eine Dose Coke, einige Dokumente, ein USB-Stick, ein Taschenkalender. Nathan steckte den USB-Stick ein und ging den Kalender durch. Er war voller Notizen. Auf der letzten Seite fand er eine Liste von Wörtern und Buchstaben, die ihm nach Usernamen und Passwörtern aussahen.
Nathan tippte auf die Leertaste des Keyboards. Der Monitor erwachte zum Leben und fragte nach Benutzernamen und Passwort. Er tippte das erste Paar ein.
Es piepste.
Error: Falsches Passwort.
Nathan hielt den Atem an. Die Männer oben waren immer noch in ihre Debatte vertieft. Er tippte das nächste Wortpaar ein. Wieder das Piepsen. Er arbeitete sich durch die ganze Liste, bis er die letzte Zeile erreicht hatte. Er tippte sie ein und drückte »Enter«. Die Dialogbox verschwand. Der Desktop des Computers lud sich.
Bingo.
Er durchsuchte die Verzeichnisse auf der Festplatte. Es handelte sich wieder größtenteils um Verwaltungskram: Budgets, Positionspapiere, Sitzungsprotokolle, strategische Dokumente, Ermittlungsberichte. Nathan öffnete das E-Mail-Programm. Der Bildschirm fror ein. Sekunden vergingen, streckten sich zu Minuten. Die Stimmen oben waren verstummt. Mit rasendem Puls stand Nathan auf. Endlich begann die Mailbox mit dem Download der Nachrichten. Oben hob die Debatte wieder an. Nathan überflog die Betreffzeilen. Es war größtenteils der übliche Spam, Sexsites, Viagra, falsche Rolex-Uhren, dazwischen Mails wegen bevorstehender Meetings und Konferenzen. Eine Zeile jedoch fiel ihm auf. Er öffnete die Mail.
Von: Büro des britischen Botschafters
An: alle Angestellten
Betreff: Präsident bei Gala
Der kolumbianische Präsident spricht dieses Wochenende voraussichtlich auf einer großen Gala. Sir George vertritt die Regierung ihrer Majestät. Strengster Sicherheitsvorkehrungen wegen bitten wir um zeitige Anmeldung.
Nathan schloss die Mail und scrollte Dutzende von anderen durch. Er wollte eben aufgeben, als neue Post in die Mailbox kam.
Von: Sir George Lloyd Wanless
An: Sicherheits- und Aufklärungsgruppe der Botschaft
Betreff: Dringend
Wie bereits beim Meeting besprochen, wurde als Mörder von Octavia Glosserto der ehemalige SOCA-Agent Nathan Kershner identifiziert. Die kolumbianische Agency for Security and Intelligence hat Interpol um die Herausgabe einer Red Notice ersucht. Darüber hinaus sucht Scotland Yard ihn wegen des Mordversuchs an einem britischen Polizisten sowie Drogenschmuggel großen Stils. Er ist bewaffnet und gefährlich. Mobilisation aller eingetragenen Informanten. Einsatz aller nötigen Mittel. Fotos in der Anlage.
Nathan war wie vor den Kopf geschlagen. Er sollte der Attentäter sein? Er klickte auf die Anlage. Fotos von ihm, mit und ohne langem Haar, erschienen auf dem Bildschirm.
Die Stimmen oben waren wieder verstummt. Nathans Hand schwebte über der Tastatur. Jemand war auf die Toilette gegangen. Er griff nach der Pistole und stand auf. Die Toilettenspülung war zu hören. Dann hoben die Stimmen wieder an. Nathan warf einen Blick auf die Uhr: 17.54. Er scrollte sich noch ein letztes Mal durch die Inbox und klickte auf eine Mail, die ihm vorhin nicht aufgefallen war.
Von: Büro des britischen Botschafters
An: militärische Beratungsgruppe
Betreff: grünes Licht
Grünes Licht gewährt für nächste Phase der Operation. Lynx + Apaches treffen in Kürze ein. Übergabeort in der Anlage.
Über ihm knarrte eine Diele. Jemand hatte das Büro verlassen. Nathan klickte auf den Anhang. Er bestand aus einer Pdf-Karte der Region Putumayo. Er drückte auf »Print«.
Es klingelte an der Tür. Nathans Hand schloss sich um die Waffe. Vom Treppenabsatz her waren Schritte zu hören.
Surrend kam Leben in den Drucker, der viel zu laut war, viel zu langsam. Dann meldete er einen Stau. Nathan öffnete die Klappe der Papierzufuhr und riss das Blatt heraus. Noch einmal drückte er »Print«.
Die Schritte kamen jetzt von der Treppe. Mit ihnen näherte sich Rupes grummelnde Stimme.
Schließlich glitt die Karte in das Auffangfach. Nathan griff danach und klickte den PC in den Schlafmodus. Die Pistole gehoben, sprang er mit rasendem Puls hinter die Tür.
Die Haustür knarrte.
»Harry, wieso zum Teufel klingelst du denn?«, fragte Rupes. Nathan erstarrte. Harry Singleton hatte sich irgendwie aus dem Kofferraum des SUV befreien können.
»Lass mich vorbei!«, rief Harry. »Er ist hier!«
»Wer?«
»Dieser Kershner, du Idiot! Er hat mich mit einer Pistole bedroht.«
»Was?«
Nathan sprang hinter der Tür hervor und stieß einen grauhaarigen Rupes gegen den ramponierten Harry, der auf der Schwelle stand. Er sprang die paar Stufen hinab in den Hof. Eine Waffe mit Schalldämpfer spuckte hinter ihm her. Beton splitterte von der Mauer um die Anlage, als die Kugel sirrend abprallte. Er spürte einen scharfen Schmerz im linken Arm. Er strauchelte, verlor die Pistole, fand die Balance wieder und rannte weiter. Das Tor ging auf und einer der Wachposten spähte um die Kante, sein Gewehr in der Hand. Nathan riss die andere Pistole aus der Jacke und schob sie dem Posten ins verblüffte Gesicht.
»Geh mir verdammt noch mal aus dem Weg!«
Der Posten wich stolpernd zurück. Ohne die Pistole von ihm zu nehmen, schlüpfte Nathan durch den Spalt im Tor und an den Posten vorbei. Draußen stürzte er direkt vor einem Bus über die Straße, so dass er von der Anlage aus nicht mehr zu sehen war. Er sprang über einen Zaun in einen Park, zerriss sich an einem der schmiedeeisernen Spitzen das Hemd. Er raste durch die Grünanlage, rutschte in einer Pfütze aus, sprang wieder auf die Beine, sah sich auf der anderen Seite in einer nicht weniger stark befahrenen Straße. Er lief weiter, in nördlicher Richtung; seine Beine schmerzten, es wollte ihm schier die Lunge zerreißen, in seinen Schläfen pochte das Blut.
Schließlich drosselte er das Tempo und stieß auf eine stille Nebenstraße. Er lehnte sich keuchend an eine Wand. In seinem Kopf drehte sich alles. Sein Arm war ganz nass. Er sah ihn sich an.
Der Ärmel seiner Jacke war voller Blut.