Kapitel 97
Putumayo,
Kolumbien
17. April 2011
Die Sonne stand bereits tief, als Nathan einmal mehr auf den Komplex zuzukriechen begann. Manuel war im Wald verschwunden. Er zog die Leute von der Front hinter sich her, die auf sie Jagd machen sollten. Das Walkie-Talkie war stumm geblieben. Nathan tippte darauf, dass Amonite ihren nächsten Zug plante.
Die Bergfestung war zur Hälfte zerstört. Rauch quoll aus klaffenden Löchern im Hügel. Felsbrocken lagen rundum verstreut, Erdbrocken und zerfetzte Bäume. Das Semtex hatte ganze Arbeit geleistet.
Nathan richtete seinen Beobachtungsposten im dichten Unterholz auf der anderen Seite der Kuppe ein. Er fand eine Mulde, die relativ trocken geblieben war, und bedeckte sich mit Blättern und Zweigen. Er nahm den Rucksack ab, holte den Feldstecher heraus und wartete. Ihm war schwindelig, winzige Lichter tanzten am Rande seines Blickfelds, die Nachwirkungen des schwarzen Kokses. Noch immer war er nicht müde, aber das Gefühl der Unbesiegbarkeit hatte einer rasenden Aggression Platz gemacht. Er musste seine ganze Willenskraft aufbieten, um nicht einfach aufzuspringen und die Anlage im Sturm anzugehen.
Drei Posten marschierten vorbei, den Blick auf die Umgebung gerichtet. Sie bezogen Posten vor etwas, was Nathan nach einem zweiten Eingang in die Festung aussah. Hinter den Bäumen und all dem üppigen Grün war sie kaum zu sehen.
Nathan begann seinen Angriff zu planen. Manuel hatte ihn gebeten zu warten, bis er mit Verstärkung von den Campesinos zurückkam. Die standen zum Angriff bereit und warteten nur auf Manuels Kommando. Aber Nathan hatte keine Zeit. Wenn Lucia da drin war, dann musste er sie herausholen, bevor es zu spät war. Aber es galt jetzt, den richtigen Augenblick für den Angriff abzuwarten. Er musste die Wachen von dem Eingang wegbekommen, sie irgendwie ablenken.
Er mochte etwa eine halbe Stunde dagelegen haben, als das Wummern von Rotorblättern die Luft erfüllte. Ein zweiter Lynx zog einen Kreis über dem ersten und landete, gerade noch zu sehen, auf der Kuppe.
Nathan zoomte die Szene heran. Vier Männer stiegen aus dem Quirl. Drei von ihnen waren die typischen Killer der Front mit kugelsicheren schwarzen Westen und Maschinenpistolen. Der vierte war ein hochgewachsener Karibe mit gekrümmtem Rücken, der mit seinem ausgezehrten Gesicht und den knochigen Achseln eher nach einem Zombie aussah.
Reverend Elijah Evans. Die Zwischenstation in Jamaika. Nathan war sich sicher. Eine Rampe senkte sich aus dem Hubschrauber. Ein weiterer Killer schob einen alten Mann in einem Rollstuhl heraus. Sein Gesicht war entstellt, eine seiner Backen hing ins Leere, ein Auge blickte glasig ins Nichts.
El Patrón.
Nathan holte ihn näher heran. Er versuchte sich die Fotos von Pablo Escobar ins Gedächtnis zu rufen, die er gesehen hatte. Es bestand durchaus eine gewisse Ähnlichkeit, das rundliche Gesicht, die mittlerweile grauen Locken, der stechende Blick. Aber mit Sicherheit hätte er es nicht sagen können. Vielleicht war es nur ein Schwindler, der die Rolle von Escobar zu spielen, sich seiner Reputation zu bedienen versuchte, die zwei Jahrzehnte nach seinem mutmaßlichen Tod noch immer Furcht auslöste.
Elijah und El Patrón schienen sich zu streiten. Sie richteten vorwurfsvolle Finger aufeinander und versuchten den Lärm der Rotorblätter zu übertönen. Einer der Wachen hatte den Eingang verlassen, um zu sehen, wer da gelandet war.
Nathan verließ seine Mulde.
Die anderen Wachen waren vor dem Eingang geblieben; Kette rauchend, die Gewehre schussbereit, starrten sie in den Wald. Ein hochgewachsener Mann mit angehender Glatze schien der Chef zu sein.
Nathan zielte auf den Mann und drückte ab. Der Mann brach zusammen. Er erschoss den zweiten, noch bevor der wusste, was da geschah.
Der dritte jedoch warf sich hinter einen Felsen. Nathan sprang auf und lief los.
Als er um den Felsen herumkam, war der Mann nicht mehr da.
Nathan suchte die Umgebung ab. Er sah den Mann davonkriechen, während er mit einer Hand etwas aus der Tasche zu bekommen versuchte. Ein Walkie-Talkie. Nathan gab einen kurzen Feuerstoß auf ihn ab. Ein Schauer durchzuckte den Mann, dann lag er flach.
Nathan lief den Hügel hinauf.
Lucia kauerte in einer Ecke der Zelle. Ihre Hände waren mit Handschellen gefesselt. Sie kam sich vor wie zerschlagen, war aber keineswegs verzweifelt. Nathan war irgendwo da draußen, am Leben, frei.
Amonite dagegen war fuchsteufelswild gewesen. Nach ihrem kurzen Wortwechsel mit Nathan hatte sie das Walkie-Talkie gegen die Wand geworfen und dann mit dem Stiefel in den Boden getreten. Einen Augenblick lang hatte es fast so ausgesehen, als wollte sie Lucia töten. Aber sie wusste sehr gut, dass Lucia lebend mehr wert war als tot. Deshalb saß sie jetzt in dieser Zelle hier, anstatt irgendwo mit einer Kugel im Kopf herumzuliegen.
Auf dem Weg durch die Korridore der unterirdischen Anlage hatte sie die Trümmer und die Leichen gesehen. Es musste zu einer Schlacht gekommen sein. Hatte Nathan das Chaos angerichtet? Wenn ja, dann war es kein Wunder, dass Amonite derart außer sich war.
Lucia biss die Zähne zusammen. Jetzt hieß es, stark zu bleiben und auszuharren.
Sie hatte Nathan zwar weggeschickt, aber sie wusste, er würde zurückkommen. Und wenn er kam, dann musste sie bereit sein.