Kapitel 38

Turks- und Caicosinseln
12. April 2011

»Bist du sicher, dass das die richtige Insel ist?«, rief Elijah zu Patrice hinüber, der nervös nickte.

Elijah kletterte auf einen Haufen Felsen auf der rechten Seite des Strands. Sie waren kantig und scharf. Blut lief ihm über die Zehen und mischte sich mit dem Sand. Schmerz verspürte er keinen.

Wieder sah er zu Patrice hinüber. »Bist du sicher, dass wir den richtigen Tag haben?«

»Absolut«, rief Patrice zurück.

»Und wo zum Teufel sind dann die verdammten Haitianer?«

»Komm zurück. Lass die anderen nachsehen.«

Elijah kletterte etwas höher. Er rutschte auf einem Strang nassen Seetangs aus und schnitt sich den Unterarm auf. Er stürzte fluchend. Er sah sich in einer weiteren kleinen Bucht mit einem Strand, auch dieser verlassen, aber von der Jacht aus nicht mehr zu sehen. Der Sand schimmerte rötlich im Licht der untergehenden Sonne. Er legte sich hin und musterte den Himmel. Von Lichtstrahlen durchbrochen, breitete er sich nach allen Richtungen aus. Muster wurden erkennbar und bildeten die Gesichter von Bekannten: seines Vaters, seiner Mutter, seines Bruders, mit dem er längst nicht mehr sprach. Sie funkelten ihn an, vorwurfsvoll, knurrten ihn wütend an. Er hob die Hände und wischte sie beiseite. Die Bilder zerbarsten wie Seifenblasen und fielen in einem Schauer von Farben in den schimmernden Sand.

Sein Blick begann sich zu trüben. Er setzte sich auf und rieb sich die Stirn. Was machte er hier? Als es ihm wieder einfiel, hob er die Pistole auf, die neben ihm gelandet war. Er taumelte die Bucht entlang auf einen weiteren Felshaufen zu. Er kletterte darüber hinweg und landete auf einem weiteren Stück weißen Strands.

Auf diesem gab es Fußspuren.

Sie waren frisch und hatten scharfe Kanten im nassen Sand. Sie führten vom Meer weg auf die Mitte der Insel zu. Es waren mindestens zehn Paare, deren verwirrendes Muster ihm vor den Augen zu verschwimmen begann. Oder war es eine einzelne Person, die hin und her gelaufen war?

Er hörte einen Schuss. Elijah erstarrte.

Dann herrschte wieder Stille, die nur der Schrei eines Seevogels unterbrach.

Weitere Schüsse. Das Knattern von Feuerstößen. Schreie, bei denen es ihn kalt überlief. Er sah sich um. Der Himmel wurde schwarz und schwer. Der Sand rund um ihn bewegte sich raschelnd, als wäre er von Millionen winziger Insekten bewohnt.

Lauf!

Die Stimme dröhnte in seinem Kopf und hallte in seinem Körper nach. Elijah eilte zurück in die letzte Bucht und hetzte dann zurück zur ersten Felsmauer. Seine Füße waren offen und blutig, er spürte sie jedoch nicht. Mit finsterer Miene hob er die Waffe.

Bring sie um. Bring sie um. Bring sie um.

Er lag flach auf den Felsen. Sie gruben sich in die Haut unter seiner Kleidung. Schüsse und Schreie waren verstummt. Nichts regte sich in der Luft. Die Stimme war verschwunden. Nur das leise Zischen der Gischt auf dem Sand war zu hören.

Die Jacht dümpelte sanft im Wasser, kein Mensch war an Deck.

Elijah murmelte ein Gebet. Er hatte gehört, dass Kindersoldaten in irgendeinem vergessenen afrikanischen Staat durch ihren Glauben unbesiegbar geworden waren.

Verschwommenen Blicks ging er über den Sand auf das Wasser zu. Er steckte die Hand in die Tasche. Das Pulver war ein nasser Klumpen. Er kratzte eine größere Menge ab und schob den Stoff in den Mund; sofort waren Zunge, Lippen und Rachen taub. Er watete ins Wasser, bis es ihm an die Hüften reichte, und schwamm zur Jacht zurück, wo er sich an der Leiter über die Bordkante zog.

»Ist jemand da?« Keine Antwort.

Elijah ging unter Deck. Er machte Licht.

»Hallo?«, rief er.

Ein dumpfer Laut kam aus der Toilette. Elijah richtete die Waffe auf die geschlossene Tür. Langsam und vorsichtig drehte er am Knauf. Dann riss er sie auf.

»Nicht schießen!«, schrie Patrice. Er riss die Hände hoch und fiel auf die Knie.

Elijah trat zurück. »Dummkopf.« Er versuchte seine zitternden Hände unter Kontrolle zu bekommen, indem er sich am Tisch hinter ihm festhielt. »Wo sind die denn alle?«

»Sie wollten nicht länger rumsitzen.«

»Und? Wo sind sie?«

»Na auf der Insel«, sagte Patrice und kam taumelnd heraus. »Wes spielte verrückt. Er dachte, du hättest dich verlaufen.«

»Auf einer so kleinen Insel?«

Patrice lehnte sich an die Wand. Elijah fiel auf das Sofa zu seiner Linken. Ihm war schwindlig. Mit zusammengezogenen Brauen sah Patrice ihn aus dem Augenwinkel an.

»Was ist denn?«, fragte Elijah.

»Du siehst gar nicht gut aus.«

»Wieso wurde denn da geschossen?«

»Weiß ich nicht.«

»Gehen wir wieder an Land.«

Patrice biss die Zähne zusammen. »Können wir nicht einfach abhauen?«

»Und die anderem ihrem Schicksal überlassen?«

»Die sind wahrscheinlich tot.«

»Das wissen wir nicht.« Elijah kam taumelnd auf die Beine. Er griff nach Patrices Arm. »Komm.«

Patrice rührte sich nicht. Elijah versetzte ihm eine Ohrfeige und stieß ihn, sodass er rücklings auf das Bett fiel. Dann sprang er hinterher und setzte sich auf ihn. Er hielt Patrice die Waffe an die Schläfe.

»Ich bin hier der Boss«, flüsterte Elijah und strich mit der anderen Hand über Patrices Haar. »Vergiss das nicht.«

Patrices Nüstern blähten sich, aber er sagte nichts. Elijah stand auf und wies mit der Waffe auf die Treppe. Patrice stapfte an Deck. Elijah folgte ihm.

Die Wirkung der Droge ließ wieder nach; höllische Kopfschmerzen stellten sich ein. Er nahm den Feldstecher zur Hand und suchte die Insel ab. Jenseits des Strands gingen die welligen Dünen über in langes, leuchtend grünes Gras, schwankende Palmen und Streifen wilden Gebüschs. Seevögel mit grauen Schwingen und gelben Schnäbeln kreisten darüber. Ganz vorne leckte das blaugrüne Wasser am makellos weißen Sand.

Er sah eine Bewegung, zu seiner Linken, auf der seinem Erkundungsgang entgegengesetzten Seite. Etwas Dunkelgrünes platzte auf die Felsen, fiel nach vorne und kroch auf den Strand. Sein Blick plötzlich ungetrübt, holte Elijah das Geschehen heran.

Ein Mann schleppte sich an den Strand. Sein Kampfanzug war zerfetzt, das zerrissene Hemd hing ihm von den Schultern. An seinem Hals baumelte ein Sturmgewehr, das sich in Zweigen und Felsen verfing und sein qualvolles Fortkommen behinderte. Der Mann blickte auf und zeigte ihm ein vernarbtes Gesicht. Blutunterlaufene Augen, in denen selbst auf die Entfernung die Angst zu sehen war, starrten direkt in den Feldstecher.

»Das ist Wes!« Elijah fuhr herum zu Patrice. Er wies mit dem Feldstecher in die Richtung des kriechenden Mannes. »Wir müssen ihm helfen!«

»Boss!«

»Wirf den Rettungsring aus.«

»Aber Boss…« Patrice wies auf den Strand.

»Was hab ich dir grade gesagt?«, fuhr Elijah ihn an. Patrice konnte einem so was von auf die Nerven gehen. »Hol den verdammten Rettungsring.«

»Zu spät!«, rief Patrice. »Wir müssen zusehen, dass wir hier wegkommen.«

Elijah fuhr herum. Ein Rush Black Coke brachte seinen Blick für einen Augenblick ins Wanken. Trübe Schatten kamen aus dem Unterholz auf Wes zu wie Dämonen aus dem finstersten Höllenschlund. Der Himmel war wieder finster und aufgewühlt. In seinen Ohren rauschte es.

Schließlich ein Augenblick der Klarheit: Sie waren in einen Hinterhalt geraten.

Fünf Haitianer in zerrissenen Tarnuniformen kletterten hinter Wes die Felsen hinab. Der hatte mittlerweile den Strand erreicht und kam auf das Wasser zu. Er winkte mit beiden Armen. Zwei der Haitianer nahmen ihre Sturmgewehre von der Schulter. Sie knieten nieder, zielten und feuerten. Sand spritzte rund um Wes auf. Wes schrie. Er drehte sich um und spritzte die Haitianer mit seiner eigenen Waffe ab. Einer von ihnen ging zu Boden.

»Lass den Motor an!«, rief Elijah.

Wes hatte jetzt das Meer erreicht. Kugeln fuhren rund um ihn ins Wasser. Die Maschine begann zu grollen; mit einem Beben kam Leben in die Jacht.

Elijah hörte ein Krachen, dann einen dumpfen Schlag. Die Haitianer schossen auf das Boot. Er duckte sich, fummelte nach seiner Waffe und feuerte. Die Kugeln verfehlten ihr Ziel. Er war zu weit weg.

Wes watete bis an die Knie ins Wasser. So weit wie er die Augen aufgerissen hatte, quollen sie ihm schier aus dem Kopf.

»Elijah«, schrie er. »Komm zurück, du Dreckskerl!« Das Boot glitt rückwärts davon.

Elijah wandte sich an Patrice. »Warte auf ihn!«

»Nein«, sagte Patrice.

»Das ist ein Befehl.« Elijah sprang auf.

»Es ist zu spät.«

»Feigling.« Elijah schlug Patrice mit dem Handrücken ins Gesicht.

»Es ist zu spät«, wiederholte Patrice und funkelte Elijah an.

Wieder fielen Schüsse. Als Elijah sich umdrehte, sah er Wes’ Brust explodieren, als eine Garbe Hochgeschwindigkeitsgeschosse durch seinen Körper fuhr. Wie in einem makabren Reggaetanz drehte er sich um die eigene Achse; die Dreadlocks peitschten ihm um den Kopf, das Gewehr um seinen Hals beschrieb einen Kreis. Dann brach er zusammen und kippte kopfüber ins Meer.

Die Jacht begann an Tempo zu gewinnen. Sie waren noch immer im Rückwärtsgang. Geschosse pfiffen in ihre Richtung, bohrten sich in den Rumpf, prallten singend von der Reling. Elijah kniete an Deck und schoss zurück. Die Haitianer hatten jetzt das Wasser erreicht.

»Ich bring euch alle um, ihr Schweine!«, schrie er.

Einer der Haitianer hob etwas in die Höhe. Elijah griff nach dem Feldstecher. Fast wäre ihm das Herz stehengeblieben. Es war der abgetrennte Kopf von einem seiner Leute. Der Haitianer schwang ihn einige Male hoch in der Luft und ließ ihn dann los, sodass er in hohem Bogen davonflog, um schließlich mit einem dumpfen Plumps ins Wasser zu fallen.

Bring Sie um. Bring Sie um. Bring sie um.

Blut durchpulste Elijahs Schläfen. Schwer atmend brach er auf dem Deck zusammen. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Wes’ Leiche hob und senkte sich in der sanften Brandung. Alle bis auf einen zogen die Haitianer sich zurück. Der kniete nieder und nahm eine große Röhre mit grüner Spitze auf die Schulter.

»Granate!«, kreischte Patrice.

Ein RPG! Elijah schloss die Augen. Fieberhaft suchte sein Verstand nach dem richtigen Bibelvers.

Alles um ihn drehte sich.

Nur Gott konnte sie jetzt noch retten.

Schwarzer Koks
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