Kapitel 32
Bogotá,
Kolumbien
12. April 2011
Ein schrilles metallisches Piepsen weckte Nathan. Völlig benommen, setzte er sich auf. Er stellte den Alarm an seinem Telefon ab.
Er hatte eine halbe Stunde geschlafen. Er rollte sich aus dem Bett und sah im Spiegel des Badezimmers nach seiner Schulter. Sie war grün und blau wie ein verschmiertes Tattoo. Aber es war nichts gebrochen.
Er verließ das Hotel, trat hinaus auf die Straße, auf der es so lebhaft zuging, dass er im ersten Augenblick völlig verwirrt war. Hupende Fahrzeuge standen Stoßstange an Stoßstange, stießen Abgase aus, Mopeds schossen durch die Lücken, die sich auftaten und wieder schlossen wie die metallenen Mäuler einer tödlichen Falle. Nathan traf auf einen Straßenhändler, der in einem Hauseingang stand, und kaufte eine arepa: einen Maisfladen mit Schinken, Käse und Eiern.
Kauend erreichte er die Plaza de Bolivar mitten im Touristenzentrum der alten kolonialen Stadt. Historische Steinbauten türmten sich rund um den zur Fußgängerzone erklärten Platz auf. Auf der Ostseite stand die Catedral Primada, deren scharfe Spitzen auf den barocken Türmen eben, wie der Pinsel eines göttlichen Malers, der bedeckte Abendhimmel zu verschmieren begann.
Nathan warf einen Blick über den Platz. Er sah nichts als Touristen und einige Kolumbianer, die nach einem langen Arbeitstag noch spazieren waren. Niemand bedachte ihn mit einem verstohlenen Blick. Niemand wandte sich plötzlich ab. Niemand änderte abrupt sein Gebaren.
Eine Sirene. Nathan fuhr zusammen. Bewaffnete Bereitschaftspolizei in schwarzer Montur und Schirmen vor den Helmen stürzten aus einem grauen Panzerwagen und stellten sich in einer Ecke des Platzes auf. Sie beachteten Nathan noch nicht einmal. Scheinwerfer fuhren über die Wolken. Regentropfen begannen dick, warm und schmierig auf das Pflaster zu klatschen, als wollten sie es sich unterwerfen. Die Passanten stoben auseinander. Die Polizisten drängten sich wieder in ihren Truck. Nathan lief in die Kathedrale. Er wischte sich das durchnässte Haar aus den Augen. Reihen vergoldeter Pfeiler führten zu einem mit Kandelabern und diamantenbesetzten Kreuzen gespickten Altar.
Manuel saß auf einer der Holzbänke in der Nähe der vordersten Säule, sein Arm über der Lehne, sein Kopf in Richtung Eingang gewandt. Die schwarze Augenklappe verlieh ihm etwas Finsteres. Nathan sank auf die Sitzbank vor ihm.
»Das perfekte Wetter für einen Ausflug«, sagte Nathan, ohne sich umzudrehen.
»Was ist los?«
Nathan zog die Jacke aus und wischte das Wasser weg.
»Also?«
»Ich bin nicht der, für den du mich hältst.«
»Das dachte ich mir schon.«
»Ich brauche deine Hilfe.«
»Wer bist du denn?«
Nathan zog sich die Jacke wieder über. Er erschauerte. Manuel die Wahrheit zu sagen, fiel ihm nicht leicht.
»Ich kann dir nicht helfen«, sagte Manuel, »wenn du mir nicht sagst, wer du bist.«
»Ich arbeite für den britischen Staat.«
»MI6?«
»Die Serious Organised Crime Agency.«
»Drogen?«
Nathan nickte. Manuel sagte nichts. Nathan drehte sich zu ihm um. »Ich hatte keine andere Wahl.«
Manuel starrte ihn so intensiv an, als wollte er ihn mit seinem Blick durchbohren. Das Treffen mit ihm, dachte Nathan, war vielleicht doch keine so gute Idee.
»Erinnerst du dich noch an unser Gespräch, als wir in mein Dorf kamen?«, fragte Manuel. »Als du mich gefragt hast, was uns motiviert? Vertrauen und Loyalität.«
»Du kannst mir vertrauen.«
»Du hast mir nicht die Wahrheit gesagt.«
»Es ging nicht anders.«
Manuel legte die Stirn in Falten.
»Tut mir Leid.« Nathan schickte sich zum Gehen. »Ich dachte, du könntest das verstehen.«
Manuel griff nach seinem Arm. »Setz dich wieder.« Nathan sank zurück auf die Bank.
»Sag mir die ganze Wahrheit«, sagte Manuel, seine Stimme nicht mehr so scharf.
Nathan sah sich um. Eine weinende junge Mutter kniete betend auf einer der Bänke am anderen Ende der Reihe, während ihre kleinen Kinder im Mittelgang spielten. In einer Ecke schnarchte ein alter Mann mit einem roten Tuch um den Kopf. Ein Paar, das sich bei der Hand hielt, zündete eine Kerze an. Niemand konnte sie hören.
Er holte tief Luft. Er hatte Wochen mit Manuel im Dschungel verbracht, und dennoch hätte er nicht sagen wollen, dass er ihn wirklich kannte. Konnte er ihm denn tatsächlich vertrauen? Konnte er überhaupt noch irgendjemandem trauen? Aber was blieb ihm denn anderes übrig?
Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte Manuel: »Du kannst mir vertrauen. Du hast mir das Leben gerettet. Ich stehe für immer in deiner Schuld. Vergiss das nicht.«
»Okay.« Nathan erzählte Manuel von seinen Ermittlungen in Sachen Front, von seinen Erkenntnissen über den schwarzen Koks, von Amonite Victor, Sir George Lloyd-Wanless, vom Mord an Caitlin und dem Mann mit der Narbe. Als er fertig war, lehnte er sich zurück und starrte auf das gewaltige Kruzifix, das von der Decke hing. Nägel in den Händen und Füßen. Aus der Dornenkrone rann Blut.
Ein so religiöses und doch so brutales Land.
Manuel sagte lange gar nichts. Nathan sah sich um. Manuel starrte auf seine Handflächen, als versuchte er die Vergangenheit in ihnen zu lesen. Immer wieder schob er die Unterlippe vor. Dann machte er den Mund auf.
»Du bist jetzt einer von uns«, sagte er. Er legte Nathan eine Hand auf die Schulter und sah ihn mit einem freundlichen Leuchten in dem einen guten Auge an.
»Ist dir das klar?«
Nathan antwortete nicht.
»Du hast unter der Front und dem angloamerikanischen Imperialismus gelitten«, fuhr Manuel fort. »Du weißt, wie es ist, einen Angehörigen zu verlieren.«
Nathan unterdrückte die Tränen, die ihm in die Augen zu treten drohten.
Manuel fasste ihn bei den Schultern. »Ich werde dir helfen.«
Einige Minuten später spazierten sie durch die kopfsteingepflasterten, moosbewachsenen Gassen des alten Bogotá. Es hatte zu regnen aufgehört, aber rundum war alles noch nass. Große bräunliche Pfützen schimmerten im letzten Licht.
»Ich muss das Hauptquartier der Front finden«, sagte Nathan. »Dort muss auch Amonite sein.«
»Niemand weiß, wo die stecken. Ich habe mich schon umgehört.«
»Aber sie müssen doch in Kolumbien sein, oder nicht?«
»Putumayo, höchstwahrscheinlich. Könnte aber auch Medellín sein. Die Front hat dort ein starkes Netz.« Manuel warf den schmuddeligen Straßengören, die an seinem Hemd zupften, einige Münzen zu. »Erst letzte Woche hat man den Bürgermeister von Medellín bei einer Kundgebung vor Hunderten von Leuten erschossen. Er hatte den Fehler gemacht, die Front öffentlich zu kritisieren.«
»Was ist mit den Schmugglern? Wie stoppen wir die?«
Manuel zögerte, als müsste er sich erst zu etwas entschließen. »Ich habe von einem jamaikanischen Drogen-Don gehört. Einem gewissen Elijah Evans. Er hat Verbindungen zur Front.«
»Die Drogen werden also von Jamaika aus verteilt?«
»Möglich.«
»Woher weißt du das?«
»Meine Freunde bei den Campesinos haben so ihre Kontakte zu Haiti. Der Mann ist ihnen bekannt.«
Nathan musterte Manuel eingehend. Er sagte ihm definitiv nicht alles, was er wusste. Sollte er ihn drängen?
Wieder schien Manuel seine Gedanken zu lesen. Wir arbeiten mit den Haitianern«, sagte er. »Sie sind auf unserer Seite?«
»Und das bedeutet?«
»Du wirst sehen.«
»Was ist mit der Person, die ich deiner Ansicht nach kennen lernen sollte?«
»Lucia Carlisla.«
»Nie von ihr gehört.«
»Sie leitet KGF.« Manuel senkte die Stimme. »Kolumbianer Gegen die Front.«
»Eine Kampagne? Oder was ist das?«
»Sie kommt eben erst in Fahrt.« Manuel wich einer überquellenden Mülltonne aus. »Beste Beziehungen zu den Medien und der Finanzwelt. Beeindruckende Frau. Und nicht nur weil sie gut aussieht.«
»Und auf der Abschussliste der Front, denk ich mal.«
»Komm, hier rein.« Manuel zog Nathan in ein kleines, zwischen zwei Gemüseläden gelegenes Internetcafé. Junge Leute mit Kopfhörern saßen wie gebannt bei Computerspielen und schossen wie wild drauflos. Manuel sprach mit dem Mann an der Kasse und setzte sich dann an den hintersten Terminal. Er schlug mit der Hand auf den Stuhl neben ihm. Nathan setzte sich.
Manuel ging auf die Website von Caracol TV. Einige Klicks und die Aufzeichnung einer Nachrichtensendung begann zu laufen. Manuel steckte einen Kopfhörer ein und reichte ihn Nathan.
»Das gibt’s doch nicht!« Nathan wies auf den Monitor.
»Was ist, kennst du den?«
»George Lloyd-Wanless. Das ist der schmierige Kerl, von dem ich dir eben erzählt habe. Ist das Lucia?«
Manuel nickte. »Hör zu.«
Lucia war tatsächlich attraktiv, trotz der nicht ganz zugeknöpften Jeansbluse, in der sie entschieden nachlässig gekleidet wirkte neben der professionellen Aufmachung der Nachrichtensprecherin, ganz zu schweigen von George. Ihre haselnussbraunen Augen standen etwas schräg nach oben, was ihr etwas Elfenhaftes gab und die hohen Wangenknochen betonte. Ihr langes dunkles Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst, was den Blick auf einen schlanken Hals freigab. Ihr Gesicht jedoch war im Zorn derart verzerrt, dass Nathan sich fragte, ob es je ein Mann gewagt hatte, sie anzusprechen.
Er bemühte sich, ihr rasantes Spanisch mitzubekommen. Ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht, als Lucia George die Leviten las. Als man die Debatte abbrach, verspürte Nathan zum ersten Mal seit langem einen Hoffnungsschimmer.
»Wow, was für ein Mädel!«, sagte er und schlug sich klatschend aufs Knie.
Die Kunden der benachbarten Terminals drehten sich nach ihnen um. Nathan senkte die Stimme. »Weiß sie etwas?«
»Ich könnte mir denken, dass sie Leute kennt, die was wissen könnten.«
Nathan stand auf. »Dann reden wir doch mit ihr.«