Kapitel 12

Kingston, Jamaika
7. April 2011

Reverend Elijah Evans befingerte sein Kollar und putzte sich die Nase. Er warf einen Blick über die Schulter nach den vier kräftigen Männern mit dem polierten Sarg auf den breiten Schultern. Der erste, ein junger Mann mit feuchten Augen und strenger Miene, bedeutete ihm mit einem Nicken, dass man bereit war.

Elijah strich sich die Knitter aus dem schwarzen Talar und zentrierte das Holzkreuz auf seiner Brust. Er richtete sich zu seiner ganzen Größe von fast einem Meter neunzig auf und atmete ein-, zweimal tief durch. Dann schlug er seine ledergebundene Bibel auf: Johannesevangelium, Kapitel elf. Er räusperte sich und trat durch die offenen Flügel des Portals in die Kirche; die Sargträger folgten ihm auf dem Fuß.

»Ich bin die Auferstehung und das Leben«, las er mit Stentorstimme, als er die Prozession den Mittelgang hinaufführte. »Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebet und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben.«

Auf den Bankreihen saßen dicht gedrängt Männer und Frauen im Sonntagsstaat. Sie weinten und machten eine ernste Miene zur Beerdigung von Shaun Davis, einem Einundzwanzigjährigen, den man am Samstag zuvor in Tivoli Gardens in Downtown Kingston totgeschlagen, geköpft und dann in Brand gesetzt hatte. Er war eine Säule der Kirche gewesen, Leiter des Kirchenchors und hatte an Jamaikas University of the West Indies studiert.

Elijah erreichte die Kanzel. Er wandte sich der Gemeinde zu. In der ersten Reihe saßen Shauns Eltern: grauhaarig, gebeugt, tiefe Kummerfurchen im aschfahlen Gesicht.

Elijah würde sie später trösten.

Man setzte den Sarg auf einem Postament ab. Er war geschlossen. Elijahs Leichnam war zu verstümmelt, um ihn offen aufzubahren.

Elijah las aus Jesaja 13: »Denn siehe, des Herrn Tag kommt grausam, zornig, grimmig, das Land zu verstören und die Sünder daraus zu vertilgen.«

Er pausierte. Alles blickte erwartungsvoll zu ihm auf. Er hob zur Unterstreichung des Gesagten die linke Hand.

»Ich will den Erdboden heimsuchen um seiner Bosheit willen und will dem Hochmut der Stolzen ein Ende machen und die Hoffart der Gewaltigen demütigen.«

Eine Salve halbherzig geraunter »Amen« ging durch die Gemeinde. Mit einer Handbewegung schlug er die Bibel wieder zu und hob seinen Blick in die Eichenstreben des Gebälks.

»Wir haben uns hier zusammengefunden, um das Hinscheiden eines unschuldigen jungen Mannes zu betrauern. Gottlose Drogenhändler haben ihm das Leben gestohlen.«

Heftiges Schluchzen drang aus der ersten Reihe zu ihm hinauf. Shauns Mutter sank zu Boden. Dort lag sie wie ein Fötus und zitterte am ganzen Leib. Ihr Gatte und zwei weitere Gemeindemitglieder beeilten sich, ihr aufzuhelfen. Von Weinkrämpfen geschüttelt, sackte sie zurück auf die Bank.

Elijah senkte den Kopf.

»Mit Drogen zu handeln, ist eine Sünde«, sagte er. Ein beifälliges Murmeln ging durch die Gemeinde. »Und Drogenhändler werden am Tag der Abrechnung von Gott dem Herrn bestraft.«

Zu einer scharfen Tirade bereit, hob Elijah den Kopf. Er stockte.

In der Nähe des Portals, noch hinter der letzten Bank, stand eine Frau von der Breite zweier Särge und starrte ihn an. Trotz der Hitze draußen trug sie einen schweren schwarzen Mantel. Sie hatte eine knubbelige Nase und engstehende Augen. Der Strich ihrer Lippen wirkte wie mit einem Three-Star-Messer ins Gesicht geschlitzt. Sie fuhr sich mit einer schwarz behandschuhten Hand über das kurze Haar. Dann bildete sie mit Daumen und Zeigefinger eine Pistole und zielte damit auf Elijah.

Elijah hatte einen Kloß im Hals.

Seine Gemeinde blickte ihn fragend an.

Elijah senkte den Kopf wie tief im Gebet. Um ein Haar wäre ihm die Bibel aus den schweißnassen Händen gefallen.

»Gott hat Shaun zu sich gerufen«, murmelte er. Er rasselte den Rest der Predigt herunter und gab sich dabei alle Mühe, nicht in Richtung des Eingangs zu sehen. Zum Abschluss führte er die Gemeinde durch einige Lieder. Während »Jesus, der Erlöser« wagte Elijah einen Blick hinter die letzte Reihe, aber die Frau war fort. Mit wiederbelebtem Eifer stimmte er die letzte Strophe an.

Als der Gottesdienst zu Ende war, stand Elijah vor dem Portal am Kopf der Treppe und drückte jedem, der aus der Kirche kam, einzeln die Hand. Er umarmte die trauernden Eltern und versprach, für sie zu beten. Er ging um die Kirche herum in den Friedhof. Dort scharte man sich um eine ausgehobene Grube. Elijah sprach ein Gebet, als man den Sarg dem Grab übergab. Während die Gemeinde sang, schaufelten Totengräber die Grube zu.

Schließlich war das Grab gefüllt. Man schmückte es mit Kränzen und Bouquets.

Elijah sprach ein Dankgebet. Dann eilte er in einem solchen Tempo zurück in die Kirche, dass er Seitenblicke der Kirchenältesten auf sich zog. Er warf die schweren Flügel des Portals hinter sich zu und lief ins Büro. Dort holte er einen Beutel mit schwarzem Pulver aus der obersten Schreibtischschublade und einen Spiegel dazu. Den legte er neben die Teekanne, die seit dem frühen Morgen auf dem Stövchen stand. Er zog eine lange dünne Spur des Pulvers darauf und schnupfte sie mit einem zusammengerollten Geldschein weg. Nase, Mund und Rachen waren sofort völlig taub.

Er sank auf seinen Stuhl. Ein wohliges Kribbeln durchströmte seinen Körper und wurde zu einem lustvollen Crescendo. Es war, als stünde er kurz vor einem Orgasmus. Er verlor jedes Zeitgefühl, bis die Wirkung der Droge wieder abzuklingen begann. Dann setzten pochende Kopfschmerzen ein.

War das tatsächlich Amonite Victor gewesen, die er da hinten in der Kirche gesehen hatte? Oder war es ein Dämon, der ihn Shauns Tod wegen heimsuchen kam?

Elijah musste seine ganze Willenskraft aufbieten, um einer weiteren Spur zu widerstehen. Er hätte so unmöglich den Abendgottesdienst halten können. Er zog den Talar aus und wandte sich dem Spiegel an der Wand zu. Mit einem bewundernden Blick auf sein ausgeprägtes Kinn zog er seinen Nadelstreifenanzug zurecht. Nicht mehr lange, und er hätte eine Kirche, die an Größe denen der Pfingstler-Gruppen mit ihrem Geld aus den USA in nichts nachstehen würde. Er wäre dann so wohlhabend, dass seine Verwandtschaft sich überschlagen würde, nach seiner Pfeife zu tanzen. Seine Familie würde in ihm nicht mehr den Versager sehen. Selbst sein Vater würde stolz auf ihn sein.

Aber jetzt musste er sich erst einmal entspannen. Vielleicht sollte er für den Nachmittag nach Hause gehen und sich mit seinem jungen Geliebten treffen. Patrice. Elijahs Weichteile regten sich beim Gedanken an ihn. Er sprang auf und eilte die Treppe hinab. Er trat hinaus in die Kirche. Dort stockte ihm der Atem. Er griff nach der Lehne einer Sitzbank, um nicht zu fallen.

Auf dem Mittelgang kam, eine fleischige Pranke ausgestreckt, Amonite Victor auf ihn zu, ein breites Grinsen auf ihrem unglaublich hässlichen, aber sonnengebräunten Gesicht.

»Reverend, lang ist’s her«, sagte Amonite in ihrer absurd tiefen Stimme. »Wunderbar, dich wiederzusehen.«

Elijah drückte Amonite kräftig die Hand.

»Schön, dich mal auf unserer gebeutelten Insel zu sehen.« Elijahs Stimme bebte. »Immer noch die alten Touren?«

Amonite brüllte so laut vor Lachen, dass Elijah zusammenfuhr. »Ach, du weißt ja, wie ich bin.«

Elijah nickte hastig. Er führte Amonite in sein Büro. Warum hatte sie sich entschlossen, ihn persönlich aufzusuchen? Sie hatte doch nicht etwa von Elijahs Verbindungen zu den Jamaikanern in Brixton erfahren?

Elijah machte eine Geste hin zu dem zerschlissenen Ledersessel, der im Winkel vor seinem Schreibtisch stand. Er ließ sich auf seinen eigenen Sessel sinken und faltete die Hände.

»Womit kann ich dienen?«, krächzte er.

»Eine schöne Beerdigung, wenn du mir die Bemerkung erlaubst. Shaun war einer der Besten, habe ich gehört.«

»Besten was?«

»Versuch mich nicht für dumm zu verkaufen, Reverend. Ich bin nicht eine von den Kalkleisten aus deiner Kirche.«

»Du hast also davon gehört?«

»Dass Shaun dich linken wollte? Natürlich. Wie viel hat er denn abgestaubt?«

»Zwei Kilo.«

»Ein Jammer.« Amonites Lächeln klaffte ihm entgegen wie Shauns im Tode geöffneter Mund. »Das Geschäft brummt, wie man hört.«

»Tasse Tee?« Elijah griff nach der Kanne. »Ganz frisch.«

»Immer.« Amonite beugte sich vor. »Ich müsste dich da um einen kleinen Gefallen bitten.«

»Und der wäre?«

»Derselbe wie immer.«

»Überhaupt kein Problem.« Ein entspanntes Grinsen schob sich auf sein Gesicht, als er Tee in zwei kleine Tassen goss. Es tat gut, das alte Vertrauen wiederhergestellt zu sehen. »Hast du die letzte Lieferung absetzen können?«

»Nachdem ich mich um deine linken Landsleute in Brixton gekümmert hatte, ging der Stoff weg wie warme Semmeln. Hast du das Muster probiert?«

»Dass sie Jamaikaner sind, macht sie noch lange–«

»Schon gut, schon gut. Wenn du meinst. Was ist mit dem Muster?«

»Ganz unglaublich«, sagte Elijah begeistert.

»Diesmal habe ich fast eine Tonne.«

»Wow. Kannst dich drauf verlassen.«

»Ach, und… Bau mir keinen Mist. Keine Shauns mehr.«

»Keine Bange.« Elijah nippte an seinem Tee. »Geht alles klar.«

»Das sollte es auch«, sagte Amonite. »El Patrón hat die Jamaikaner grade so richtig gefressen.«

Die Erwähnung von El Patrón jagte Elijah einen Schauer über den Rücken.

»Übergabe und Lieferorte?«, fragte er.

»Übergabe ist in Baranquilla. Endziel ist für diese Lieferung Florida. Für die nächste London.«

»Florida?« Elijah grinste. »Ich habe dort eins a Verbindungen.«

»Du bringst es nicht selber nach Florida. Das erledigen ein paar Haitianer. El Patrón ist es lieber so. Du triffst dich mit denen auf halbem Wege auf einer Insel zur Übergabe. Einzelheiten geb ich dir in Kürze durch.«

»Haitianer? Traust du denen?«

»Wenn El Patrón ihnen traut, dann reicht mir das.« Amonite nahm einen Schluck Tee. Sie spuckte ihn aus. »Was zum Teufel ist das denn?«

»Cerasse. Eine Tradition in Jamaika. Gut fürs Blut und gegen Kopfweh.«

Ein leises Summen war zu hören. Amonite holte ein Telefon aus der Manteltasche und nahm es mit einer überraschend anmutigen Handbewegung ans Ohr. Sie hörte eine ganze Weile zu, während der sich ihr von Akne verunziertes Gesicht verfinsterte.

»Er ist also aufgeflogen?«, sagte sie. »Ich bin sofort wieder da.« Sie steckte das Telefon wieder weg.

»Alles in Ordnung?«, fragte Elijah.

»Was glaubst du denn?«, fuhr sie ihn an.

»Alles klar.«

»Du siehst nervös aus, Reverend. Du verschweigst mir doch nicht etwa was?«

»Nein, nicht doch.« Elijah holte ein Taschentuch aus dem Ärmel und schnäuzte sich. Es kam Blut aus der Nase. Er blickte auf. Amonites Blick durchbohrte ihn. Elijah kam unsicher auf die Beine.

»Wenn du mich jetzt entschuldigst, ich muss noch eine Predigt vorbereiten.«

»Ja, ja, natürlich. Bitte vielmals um Entschuldigung, dir deine heilige Zeit zu stehlen.«

Elijah ging voran aus dem Büro zum Kirchenportal. »Gut, dich wiederzusehen.« Er drehte sich auf dem Absatz um und drückte Amonite die Hand. »Schau jederzeit rein.«

Amonite stolzierte die Straße hinab. Elijah blickte ihr hinterher. Trotz ihrer Dimensionen wich sie den Schlaglöchern mit der Anmut eines Models aus. Keine weiße Frau im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte würde alleine durch Kingston gehen, auch nicht am helllichten Tag. Aber für Amonite galt das nicht. Kein Mensch würde ein Monster wie sie angreifen. Und falls doch, dann würde er es bereuen.

Mit einem erleichterten Seufzen ging Elijah zurück in die relative Kühle der Kirche.

Es gab viel zu tun.

Schwarzer Koks
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