Kapitel 23

Central London, England
11. April 2011

Die British Library. Ein Bestand von 150 Millionen »Medieneinheiten« aus fast allen bekannten Sprachen. Untergebracht ist sie in einem Komplex roter Backsteingebäude auf der Nordseite der Euston Road, gleich an der U-Bahn-Station St. Pancras. Nathan hatte hier während der vergangenen drei Jahre zu viele Samstage zugebracht, um für seine Dissertation die internationalen Drogennetze zu kartographieren. Jetzt war er wieder dort, im Lesesaal für Sozialwissenschaften; selbst sein alter Holztisch schien noch da zu sein.

Und er hatte einen ähnlichen Stapel Bücher und Zeitschriften vor sich auf dem Tisch.

Er nahm Drug Smugglers on Drug Smuggling: Lessons from the Inside zur Hand. Die Autoren waren ein Kriminologe und eine Sozialwissenschaftlerin. Sie waren in die Hochsicherheitsgefängnisse der USA gegangen, um hochrangige Drogenschmuggler zu befragen: Wie minderte man das Risiko, erwischt oder gelinkt zu werden oder eine Lieferung zu verlieren. Das Titelfoto zeigte allem Anschein nach eine beschlagnahmte Ladung Koks.

Nathan blätterte, bis er das Kapitel über Transportmethoden gefunden hatte. Viele Schmuggler benutzten Hummer- oder Krabbenboote, um ihre Drogen in die USA zu bringen, vor allem wenn es um Marihuana ging. Im Gegensatz zu den Schnellbooten mit ihren PS-starken Motoren war diese Art von Wasserfahrzeugen anonym. Nicht selten verfügten sie über eingebaute Verstecke, in denen sich bis zu 400 Kilo unterbringen ließen. Kokainschmuggler dagegen schienen Jachten und Segelboote zu bevorzugen, in denen sich größere Entfernungen zurücklegen ließen. Und es ließen sich größere Verstecke einbauen. Einige Drogenschmuggler waren der Ansicht, dass Vollzugsbeamte nur ungern eine teure Jacht auseinandernahmen – im Gegensatz zu einem billigen Krabbenboot.

Der größte Teil des Drogenschmuggels vor der amerikanischen Küste ging nachts über die Bühne, meist über Häuser in Südflorida oder die Florida Keys. Einer der Schmuggler hatte mit drei Booten gearbeitet: eines für die Drogen, eines als Backup für den Fall, dass das erste ausfiel, und eines für Ablenkungsmanöver. Andere fuhren paarweise für den Fall, dass eines der Boote Probleme bekam. Wieder ein anderer schaffte seine Drogen vorzugsweise mittags an Land – da war die Küstenwache zu Tisch.

Nathan lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Erst wenige Monate zuvor hatte man eine Bande von Drogenschmugglern dafür weggesperrt, eine halbe Tonne Kokain nach England zu bringen, an Bord einer seetüchtigen Jacht. Sie hatten keine Verbindungen zur Front gehabt, aber es bestätigte, was die Autoren des Buches über den Drogenschmuggel festgestellt hatten: dass Jachten dieser Tage eine der bevorzugten Transportmethoden waren.

Aber wie zum Teufel sollte er die Jachten identifizieren, die den schwarzen Koks in die Staaten oder nach England brachten, vor allem ohne Unterstützung der SOCA?

Er nahm ein leeres Blatt Papier zur Hand und machte sich einige Notizen.

Ursprung: Putumayo. Produkt: Black Coke. Mutmaßlicher Verteilpunkt: Jamaika.

Mutmaßliche Transportmethode: seetüchtige Jacht.

Bestimmungsorte: Florida (USA) und ? (England).

In Nathans Hinterkopf begann sich eine Strategie herauszubilden. Cedric hatte Recht. Er musste nach Kolumbien. An der Quelle anfangen. Das war immer die beste Methode. Er musste zurück nach Putumayo und den Drogenschmugglern folgen – über die ganze Lieferkette.

Er suchte sich aus einem Heft von Nature den Artikel des ermordeten Genetik-Professors aus Cambridge heraus. Er war mit wissenschaftlichem Jargon gespickt: DNA-Sequenzen, Spleißen, Exons und Introns, Transkription, Proteinbiosynthese, hnRNA, mRNA usw., usf. Er blätterte ein Fachbuch über die genetische Manipulation von Pflanzen durch. Es beschrieb die Herausforderungen bei Design, Anbau und Reproduktion genetisch manipulierter Pflanzen und ging dann über zu einer ethischen Debatte darüber, ob der Mensch bei der genetischen Manipulation der Natur nicht womöglich Gott spiele.

Das war ja alles recht interessant, technisch wie philosophisch. Aber konkrete Spuren bot ihm das nicht.

Er holte seinen Laptop heraus und ging online. Er fand einen Artikel in Wired vom November 2004, der der Frage nach der Möglichkeit von genetisch manipuliertem Kokain nachging. Das war doch schon eher was. Wissenschaftler hatten etwas identifiziert, was sie als CP4 bezeichneten: ein Gen, das gegen Glyphosat-Herbizide resistent war. Der Journalist von Wired überlegte, ob der Anbau von Boliviana negra, einer gegen diese Herbizide resistenten Koka-Sorte, nicht vielleicht durch Einbringen dieses CP4-Proteins zustandegekommen war. Tests jedoch ergaben keinerlei Hinweis auf die Anwesenheit dieses Gens. Der Journalist kam zu dem Schluss, dass Boliviana negra wohl eher Ergebnis selektiver Züchtung war als genetischer Manipulation. Andererseits hatten Wissenschaftler im Gespräch mit ihm die Ansicht geäußert, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis den Drogenkartellen die genetische Manipulation von Koka gelang.

Vielleicht war es ja nun so weit.

Nathan spürte das Prickeln im Nacken, das ihm einen Schatten verriet. Er sah sich um: nichts als Studenten, den Kopf in ihren Büchern. Abgesehen vom Klappern der Computer-Tastaturen, war es im Lesesaal still.

Er ging zur Toilette und blieb auf dem Weg plötzlich stehen, um zu sehen, ob ihm jemand aus dem Lesesaal gefolgt war. Nichts. Wahrscheinlich bildete er sich wieder mal etwas ein. Auf dem Weg zurück, kam er an einem Wegweiser mit einer Liste der Lesesäle und deren Fachgebiete vorbei. Ganz unten las er: Zoologie.

Zoologie?

Ob sich dort wohl etwas über die schwarzen Käfer fand, die die kolumbianischen Wälder verwüsteten?

Er schob die gewaltigen Flügel der hölzernen Tür zum naturwissenschaftlichen Lesesaal auf und sah die Regale für Biologie durch. Er fand ein Standardwerk und blätterte darin; er bewunderte die herrlichen Bilder. Er fand einen durchsichtigen Schmetterling, den es ausschließlich im kolumbianischen Regenwald gab. Eine Mottenraupe zeigte stolz ihre neongrünen, aber giftigen Stacheln. Eine Libelle mit abwechselnd grünen und schwarzen Segmenten am Bauch.

War die Natur nicht erstaunlich? Er war in der Schule Klassenbester gewesen, er hatte eine Laufbahn in der Wissenschaft ins Auge gefasst, aber sein Vater hatte ihn in Richtung Militär gedrängt, Eliteeinheiten, die wahre Schule des Lebens. Paps hatte den Wert wissenschaftlicher Forschung nie zu schätzen gewusst. Und was Caitlin anging…

Nathan blätterte einige der anderen Fachbücher durch. Er fand allerhand Käfer, aber keiner ähnelte wirklich denen, die er in Kolumbien gesehen hatte. Er ging zu seinem Platz im Lesesaal für Sozialwissenschaften zurück. Er klappte seinen Laptop auf und ging die Fotos durch, die er von seiner Kamera überspielt hatte. Er hatte in Kolumbien viele Insekten gesehen, aber keines davon so groß wie der schwarze Käfer, keines mit einer derartigen Vielzahl von Antennen und Zangen.

War es möglich, dass das Begasungsprogramm im Rahmen von Plan Colombia dieses Monster geschaffen hatte? Hatte das Herbizid bei diesen Käfern für eine Änderung des Erbguts gesorgt?

Er suchte im Internet »Käfer Umweltkrise Kolumbien Begasung«. Er fand einen Artikel auf Alternet darüber, dass die Herbizide das Grundwasser vergifteten, Bäche, Flüsse und Seen, dass sie Fische und Insekten töteten und dass die Landbevölkerung daran erkrankte. Er fand die üblichen Dementi seitens der Regierungen Kolumbiens, Großbritanniens und der USA.

Er fand jedoch nichts darüber, dass Herbizide zu Mutationen bei Insekten geführt hätten.

Nathan klickte sich durch eine Website nach der anderen. Auf der Site der BBC erregte ein Artikel seine Aufmerksamkeit.

Killerkäfer verschlingt Kolumbiens Ernte

Er war vom Vortag.

Laut Informationen von Kolumbiens Umweltbehörde, dem Institut für die Entwicklung Erneuerbarer Ressourcen und der Umwelt, richtet ein großer schwarzer Käfer verheerende Schäden in Kolumbiens Landwirtschaft an. In vielen Regionen im Süden des Landes klagen Bauern darüber, dass die Insekten die gesamte Jahresernte vernichtet hätten.

Keine Namenszeile, keine Möglichkeit, den Autor festzustellen. Nathan suchte weiter, konnte aber nichts finden. Er spielte mit dem Gedanken, aufzugeben und nach Hause zu gehen. Aber er wusste, dass eine sorgfältige Recherche über Erfolg und Misserfolg einer Mission entscheiden konnte. Er ging die Kontaktliste in seinem Handy durch. Vielleicht konnte sein Doktorvater, Professor Henry Catarfy, Chef des Instituts für kriminologische Forschung am University College London, ihn mit einigen Leuten bekanntmachen. Das UCL hatte starke Abteilungen für Genetik und Zoologie.

»Tut mir furchtbar Leid, Sir«, flüsterte ihm jemand ins Ohr. Nathan fuhr herum, einen Arm zum Block gehoben, die Rechte zum Haken.

»Ich muss doch bitten!« Der Bibliothekar fuhr zurück. Nathan konnte gerade noch an sich halten.

»Tut mir leid«, murmelte er.

Der Bibliothekar war ein magerer Mann im grauen Dreiteiler. Er hatte einen dünnen Schnurrbart, dessen Enden gezwirbelt waren wie die eines modernen Künstlers. Und er bekam den Mund nicht mehr zu.

»Keine Mobiltelefone!«

»Alles klar. Sorry.«

Nathan packte den Laptop weg. Er schwang den Rucksack über die Schulter und machte sich auf den Weg in die Lobby. Wieder ging er sein Handy durch. Dann blieb er stehen. Jemand beobachtete ihn. Er konnte es spüren. Er ging weiter, um eine Ecke, einige Stufen hinauf, warf einen Blick in den Eingangsbereich. Studenten schoben sich an ihm vorbei, völlig sorglos.

Er ging zurück an seinen Platz im Lesesaal. Die Bücher waren verschwunden.

Nathan sah unter den Tisch. Warf dann einen Blick über die anderen Tische. Sie waren leer.

Er ging nach vorne zu dem Bibliothekar, der mit einer jungen Studentin in engen Jeans plauderte. Die Studentin ging, gefolgt vom Blick des Bibliothekars.

»Meine Sachen«, sagte Nathan. »Sie sind nicht mehr da?«

»Wie bitte?«

»Meine Bücher. Wo sind die denn?«

Der Bibliothekar schob die Unterlippe vor. »Ich weiß es nicht.«

»Sie waren auf meinem Tisch.«

»Sie sollten sie nicht einfach liegen lassen.«

»Haben Sie sie jemanden nehmen sehen?«

»Studenten, denen kann man heute einfach nicht trauen.« Der Bibliothekar widmete sich wieder den Büchern, die er in ein Regal packte.

Nathan ballte die Faust. Er ging wieder an seinen Tisch. Er wollte sich eben setzen, als er ein Blatt Papier auf seinem Stuhl sah. Er sah sich um. Keiner der über den Saal verstreuten Studenten beachtete ihn. Niemand huschte davon. Der Bibliothekar sortierte weiter Bücher ein.

Nathan nahm das Blatt Papier auf, drehte es um. Es war ein Foto von Caitlin.

Schwarzer Koks
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