Kapitel 77
Bogotá,
Kolumbien
15. April 2011
Amonite lief im Vorzimmer von Sir George auf und ab. Ihre Stiefel drückten sich in den tiefen cremefarbenen Teppich wie in Schlamm. Sir George ließ sie schon wieder warten.
Seine Sekretärin hinter dem Schreibtisch mit der Glasplatte sah stirnrunzelnd auf.
»Tasse Tee?«, fragte sie mit hoher, fast schriller Stimme. »Kaffee?«
Amonite schritt weiter auf und ab. Die Helikopter würden jeden Augenblick auf dem geheimen Landeplatz der ASI in der Nähe von Bogotá eintreffen, die Apaches wie die Lynx. Dex war bei einem Meeting mit ASI-Leuten und einer Söldnerfirma; es ging darum, das Fußvolk der Front um das Fünffache aufzustocken. El Patrón wurde langsam ungeduldig. Er wollte von Amonite weitere Attentate in Bogotá. Diesmal sollten Einkaufszentren zu den Hauptgeschäftsstunden auf der Liste stehen. Sie hatte noch Sprengstoff zu ordern, sicarios aufzutreiben, die bezahlt werden wollten, eingewiesen werden mussten; Polizisten mussten bestochen werden, die Presse müsste gerade rechtzeitig davon erfahren.
Es gab so viel zu tun, und sie hatte so wenig Zeit.
Und George ließ sie warten.
Das Telefon auf dem Schreibtisch der Sekretärin klingelte. Sie hob mit Daumen und Zeigefinger ab, warf den Kopf zurück, um die Dauerwelle nach hinten zu werfen, und nahm den Hörer ans Ohr.
»Sir George?«, sagte sie.
Amonite blieb stehen.
»Selbstverständlich, Sir George«, sagte die Sekretärin. Sie legte auf und wandte sich ihrem Computer zu.
»Gibt’s ein Problem?«
»Der Terminkalender von Sir George ist randvoll.«
Amonite schnaubte unwillig und begann wieder auf und ab zu gehen, diesmal noch schneller als zuvor. Sie wusste noch nicht einmal, warum George sie sehen wollte. So war er immer. Ein Geheimniskrämer. Ein Machtmensch. Ein Intrigant. El Patrón schien am Telefon verärgert gewesen zu sein über sie. Hatte George ihm etwas Abträgliches über sie erzählt? Hatten sie ihr Problem mit Elijah diskutiert? Und warum hatte George sie überhaupt in die Botschaft bestellt? Was Treffen in der Öffentlichkeit anbelangte, war er doch sonst fast paranoid.
Wieder klingelte das Telefon. Die Sekretärin nahm ab und begann in einem begeisterten Plausch zu diskutieren, was sie zur Gala am Samstag tragen würde: das lange Purpurne mit den Schleifen oder das kurze Rote mit hochhackigen Schuhen?
Amonite hätte am liebsten mit der Faust auf die Wand eingeschlagen. Und auf die Sekretärin. Und dann auf Sir George.
Wieso hatten sich weder Elijah noch die Haitianer gemeldet? Was war auf der Insel passiert? Wo zum Teufel war die Lieferung Black Coke abgeblieben? Sie hatte Elijah doch bisher trauen können. Also was war passiert?
»Neunhundert«, sagte die Sekretärin am Telefon. »Das sind ganz schön viele!«
Neunhundert Gäste, dachte Amonite, darunter der kolumbianische Präsident und alle wichtigen Botschafter: Amerika, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Spanien, Kanada, Italien, Russland. Ein großes Treffen der Reichen und Mächtigen. Und alles für einen guten Zweck.
Sie schmunzelte.
»Er kann nicht kommen?«, sagte die Sekretärin. »Die Leute werden furchtbar enttäuscht sein.«
Amonite war mit einem Mal nervös.
»Ach so«, sagte die Sekretärin. »Na, das wäre natürlich schade.«
Die Unterhaltung wandte sich einem anderen Thema zu. In Amonites Kopf ging mit einem mal alles drunter und drüber. Die Gala war die perfekte Gelegenheit! Eine Änderung in letzter Minute wäre eine Katastrophe, schon gar wenn es der Präsident war, der nicht kam. El Patrón hatte das alles seit Wochen geplant.
Die Sekretärin legte auf.
»Ist was mit der Gala?«, fragte Amonite so ruhig sie nur konnte.
»Wieso, gehen Sie auch hin?«
»Nein, na ja, vielleicht.«
»Das wird was ganz Großes. Allein die Ausrichtung hat fünf Millionen Dollar gekostet.«
»Kommt denn der Präsident nicht?«
Die Sekretärin zog eine Braue hoch. »Wer sagt das denn?«
»Sie haben doch gesagt, dass jemand nicht kommen kann.«
»Der französische Koch! Eigens aus Paris eingeladen. Jetzt haben sie statt dessen einen Italiener bestellt.«
»Ach so.«
In Amonite begann sofort ein neuer Plan Gestalt anzunehmen. El Patrón würde begeistert sein.
Wieder klingelte das Telefon.
»Sir George? Ja, Ms. Victor ist hier. Ich schicke sie sofort rein.« Die Sekretärin legte auf und hob dann eine ihrer dünnen Brauen. »Sir George hat jetzt Zeit für Sie.«
Amonite stürzte in Sir Georges Büro. Er saß hinter seinem Eichenschreibtisch und starrte mit finsterer Miene auf seinen Monitor. Hinter ihm hingen mehrere Reihen gerahmter Fotos von ihm mit Politikern, Prominenten, Tycoons.
»Das werden Sie nicht glauben«, sagte George, ohne aufzusehen. »Schließen Sie die Tür.«
Sie trat mit dem Fuß nach der Tür und sackte in einen Sessel vor dem Schreibtisch. Er protestierte ächzend. Es war ihr egal.
»Es stimmt tatsächlich«, sagte George. »Er hat uns verraten.«
»Wer?«
»Der Präsident. Enrique Caviedas. Er ist ein Verräter.«
»Woher wissen Sie das?«
»Von meinem Informanten. Jemand aus seiner engsten Umgebung. Aus dem Kabinett.«
»El Patrón hatte schon die ganze Zeit über so einen Verdacht.«
George stöhnte. »Also, ist für Samstag alles vorbereitet?« Amonite nickte. Das bedeutete mehr denn je, dass die Pläne für die Gala perfekt zu sein hatten. El Patrón würde jetzt definitiv keinen Misserfolg akzeptieren.
George wandte sich wieder seinem Computer zu. Er klickte ein paarmal mit der Maus, spähte dann mit zusammengekniffenen Augen auf den Monitor. Er tippte etwas. Er schien Amonite bereits wieder vergessen zu haben. Amonite hätte gute Lust gehabt, einfach wieder zu gehen. Der Schweinepriester ließ seinen Status und seine Macht heraushängen, indem er sie einmal mehr warten ließ. Er schob den Bildschirm beiseite und sah wieder zu Amonite auf.
»Soweit die schlechte Nachricht. Mehr kann ich Ihnen im Augenblick nicht sagen.« Er beugte sich vor und faltete die Hände auf dem Schreibtisch. »Aber ich habe auch eine gute Nachricht.«
»Ach ja?«
»Cedric Belville ist unterwegs.«
»Na also!«
»Er hatte mit Kershner Kontakt. Und diesem Miststück von KGF.«
»Wann kommt er denn an?«, fragte Amonite.
»Morgen früh.«
»Ich sorge für einen Empfang.«