Kapitel 63

Bogotá, Kolumbien
14. April 2011

»Er ist allein«, sagte Nathan. Sie blickten beide hinab auf Josepe’s auf der anderen Straßenseite. Manuel hatte das Restaurant fünf Minuten zuvor betreten. Er saß an einem Tisch an der Wand an einem der Fenster zur Straße hin. Das Restaurant hinter ihm war halb voll, größtenteils Familien und junge Paare, die zum Abendessen gekommen waren. Die Arme bis zu den Ellbogen voll Tellern, liefen die Kellner Slalom zwischen den Tischen. Ein Kronleuchter an der Decke hüllte die Szene in strahlendes Licht.

»Ich gehe rüber«, sagte Lucia.

»Wir gehen beide.«

Minuten später saßen sie neben Manuel, der eine Zeitung vor sich hatte. Nathan sah sich nach den Ausgängen um. Kein Mensch achtete auf sie.

»Und?«, sagte er.

Manuel wies auf die Zeitung vor ihm. »Sag du mir, was passiert ist.«

Nathan fasste sein Erlebnis in der Kanalisation zusammen.

Manuel nickte. »Die gesamte ASI ist hinter dir her. Sie haben sogar die Polizei auf dich angesetzt. Es heißt, du bist ein Terrorist.«

»Woher weißt du denn das?«

»Informanten.«

»Was sagen sie denn sonst noch so?«

»Die Produktion von schwarzem Koks steigt. Und die Front probt den Aufstand.« Manuel schlug die Zeitung auf und reichte sie Nathan. »Hier, lies.«

In einem Artikel auf der Titelseite war von einer Reihe von Bombenattentaten mitten in Bogotá, Medellín und Cali die Rede. Alle während der letzten beiden Tage. Vor Gebäuden der öffentlichen Verwaltung waren Autos voll Ammoniumnitrat und Propangas explodiert. Fünfzehn Menschen waren bereits umgekommen, sechsundzwanzig verletzt. Ein großes Farbfoto zeigte eine Frau mit einem blutenden Kind im Arm, dahinter Rettungswagen mit blinkendem Blaulicht. Ein kleineres Foto zeigte ein Gebäude, von dem kaum mehr als Trümmer übrig waren. Nathan erkannte es auf der Stelle.

»El Tiempo?«, fragte er.

»Gestern Abend. Fast völlig zerstört.«

»Du denkst, dass Amonite dahintersteckt?«

»Wir sind sicher.« Manuel rieb sich sein gutes Auge. »Sie und die ASI. Sie versuchen das Land zu destabilisieren.«

»Aber warum?«

»Weiß ich nicht.«

Nathan schob die Zeitung zurück auf den Tisch. Die Lage verschlimmerte sich von Tag zu Tag.

»Hast du nicht was von einer guten Nachricht gesagt?«

Manuel holte einen Stadtplan von Bogotá aus der Gesäßtasche und breitete ihn auf dem Tisch aus. Es war die typische Touristenkarte. Mit beiden Händen strich er sie glatt.

»Den hatte der Typ dabei, den Lucia aufgegabelt hat.« Er wies auf eine Stelle, die mit einem kleinen Kreuz markiert war. An den Rand stand etwas geschrieben. »Rate mal, was das hier ist.«

»Woher soll ich das wissen?«

»Das Hauptquartier der Front in Bogotá.«

»Woher willst du das wissen?«

»Es passt haargenau in meine Ermittlungen«, sagte Manuel mit gesenkter Stimme. »Nathan, ich habe nicht grade faul rumgesessen, während du weg warst. Ich habe mit anderen Campesinos gesprochen, den Widerstand organisiert. Alle Welt behauptet, dass die Front eine Basis in Bogotá hat. Nur weiß niemand wo.«

Nathan studierte den Plan. Das schien ihm alles zu einfach.

Er faltet den Plan zusammen und steckte ihn ein. »Ich werd mir das ansehen.«

Eine halbe Stunde später stand Nathan in seinem Hotel vor dem Spiegel und rasierte sich. Der Bart machte ihn zur Zielscheibe. Die Front suchte nach einem Briten, der wie ein Hippie rumlief. Er schippte büschelweise Haare aus dem Waschbecken und warf sie in den Abfalleimer. Dann steckte er den Haarschneider ein, den er ein Stück die Straße hinauf gekauft hatte, und rasierte sich den Kopf. Zwei Millimeter ließ er stehen. Er betrachtete sich im Spiegel. Er sah zehn Jahre jünger aus.

Er ging in die Lounge, in der es ein üppiges Ledersofa und einen Großbildfernseher gab. Sie hatten das Hotel gewechselt. Sie wohnten jetzt in einer Pension in Quinta Camacho, einem Bezirk, der laut Lucia einer der sichersten von Bogotá war. Wie auch immer, sie hatten hier zu dritt viel mehr Platz. Darüber hinaus war ein häufiger Ortswechsel grundsätzlich eine gute Idee.

Nathan legte eben die dunkelbraune Lederjacke an, die Lucia ihm gekauft hatte, als es zweimal kurz klopfte, dann einmal, dann wieder zweimal. Er öffnete die Tür einen Spaltbreit. Lucia trug ein Jeanshemd über einer cremefarbenen Hose; ihr Oliventeint leuchtete im Licht auf dem Flur.

Sie machte große Augen, als sie ihn sah. Dann lächelte sie. »Wow. Bist du soweit?« Sie schlüpfte an ihm vorbei und schloss die Tür hinter sich. Sie setzte eine Plastiktüte mit Lebensmitteln auf dem Esstisch ab.

Nathan nickte. Nur mit Mühe löste er den Blick von ihr.

»Hast du Hunger?« Sie holte einen Brotring aus der Tüte. »Diese pandebonos sind wirklich gut. Eine kolumbianische Spezialität. Maismehl, Maniok, Käse und Eier. Solltest du mal probieren.«

»Nein, danke.«

»Und die empanada?« Sie kramte in der Tasche und brachte eine gefüllte Teigtasche zum Vorschein. »Ich habe hier eine mit Huhn und Reis. Meine Lieblingsspeise als Kind. Ich habe nichts anderes gegessen. Morgens, mittags, abends. Hat Mama und Paps in den Wahnsinn getrieben. Hier, nimm.«

»Ich brauche nichts, danke.«

»Du isst nichts.«

»Ich arbeite nicht gut mit vollem Magen.«

»Ah, ich verstehe.«

Sie starrte die empanada an. Dann warf sie sie zurück in die Tüte und setzte sich auf das Sofa. Nur auf den Rand. Sie senkte den Blick auf ihre Hände.

»Bist du sicher, dass das eine so gute Idee ist?«, fragte sie.

»Wenn Manuel Recht hat, dann muss ich da hin.«

Er hätte Lucia am liebsten an sich gerissen und geküsst. Er schob das Verlangen beiseite. Sie sah zu ihm auf. Etwas blitzte in ihren Augen.

»Warum kann er nicht selbst gehen?«, fragte sie.

Nathan nahm sich die Glock vor.

»Nathan?«

»Das ist meine Aufgabe. Manuel hat sich um seine Campesinos zu kümmern.«

»Ihr Polizisten, ihr… ihr…« Sie wandte sich ab. »Du bist wie die von der ASI.«

»Ich?«

»SOCA, ASI, DEA… Ihr seid alle gleich.«

»Was redest du denn?«

»Du willst einfach nicht kapieren, was?«, rief sie.

Nathan zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch. Für so etwas hatte er nun wirklich keine Zeit.

»Wenn ich bis morgen früh nicht zurück bin, halt dich an Manuel. Verlass das Land.«

»Nathan! Hörst du mir überhaupt zu?«

»Hier ist die Nummer von Cedric Belville.« Nathan kritzelte eine Telefonnummer auf einen Block, der auf dem Schreibtisch lag. »Im Notfall rufst du den an.«

Lucia stand auf. »Nathan.«

»Was?«

»Geh nicht…«

Kopfschüttelnd ging Nathan hinaus.

Schwarzer Koks
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