Kapitel 14
North London,
England
8. April 2011
»Keine Sorge«, sagte Steve auf dem Weg zurück zu dem Crackhaus. Er wischte sich den Schmutz von der Kleidung. »Der taucht schon wieder auf. Dann schnappen wir ihn, die fette Sau.«
»Das ist ja das reinste Kriegsgebiet hier«, sagte Nathan.
Die Haustür war aus den Angeln. Das Treppengeländer war gebrochen. Überall lagen zertrümmerte Möbel. Die Polizei hatte die Süchtigen an der Wand im Flur aufgereiht wie zu einer Gegenüberstellung. Einige bedachten die Polizisten mit Obszönitäten. Andere zerrten an ihren Handschellen, bis die Handgelenke ganz offen waren. Eine junge Frau schnatterte heulend vor sich hin. Die Übrigen schienen zu verblitzt, um groß was zu sagen; sie verdrehten die Augen; Sabber tropfte ihnen vom Kinn.
»Was haben die denn in den Augen?«, fragte Nathan.
»Breit sind sie, das ist alles«, sagte Steve.
»Schau doch.« Nathan wies auf eine junge Frau, die gegen die Wand gelehnt stand, den Kopf nach hinten gelegt. »Die schwarzen Flecken auf den Augäpfeln.«
»Könnte alles Mögliche sein.«
»Aber sie haben sie alle.« Nathan sah von einem zum anderen.
»Und ihre Ohren. Schau sie dir an. Allesamt grün und blau.«
»Prellungen. Junkies kriegen ständig aufs Maul.«
»Alle?«
»He, Chef, schau dir das an.« Ein Polizist reichte Steve einen Beutel etwa von der Größe zweier Zigarettenschachteln. Er enthielt ein schwarzes Pulver. »Hab ich oben gefunden.«
»Das ist doch nicht etwa…« Nathan drehte das Päckchen in Steves Hand um. Auf der anderen Seite trug es das Emblem eines schwarzen Käfers. »Direkt aus Südkolumbien.«
»Woher weißt du denn das?«
»Ich war letzte Woche dort. Ich habe die Labors gesehen, wo das Zeug hergestellt wird. Es ist genmanipuliert.«
»Das erklärt, warum der Haufen hier gar so fertig ist«, sagte Steve. »Wir haben gestern was davon in einer Bude in Camden gefunden. Sieht so aus, als käme das Zeug in Mode.«
Nathan schlitzte das Päckchen auf. Er feuchtete die Spitze seines Zeigefingers an und steckte ihn in das Pulver. Er gab sich eine winzige Menge davon auf die Zunge. Sie war auf der Stelle völlig taub. Er wischte sich den Finger an der Hose ab und gab Steve den Beutel zurück. Der kostete den Stoff ebenfalls und verzog das Gesicht.
Nathan ging im Geiste seinen Bericht an Cedric durch. Das Auftauchen des schwarzen Kokses in London bestätigte seine Prognose: Die Front drängte mit Nachdruck auf den internationalen Markt. Amonite baute die Lieferkette auf und sorgte für Nachfrage. Womöglich war bereits eine riesige Lieferung schwarzer Koks im Land. Und ihnen stand eine Epidemie von Sucht und Bandengewalt ins Haus. Selbst für Sir George konnte das nichts anderes sein als ein konkreter Beweis.
»Was grinst du denn?«, fragte Steve. »Was ist denn so komisch?«
»Ach, nichts. Ich dachte nur eben an die Reaktion des SOCA-Direktoriums, wenn die das erfahren.«
»Warum?«
Eine Stimme in seinem Rücken rief: »Chef! Hierher.« Sie liefen in die Küche.
»Wo?«, fragte Steve.
»Hier unten?«
Zu ihrer Rechten sahen sie eine offene Tür. Davor lag ein zerschlagenes Vorhängeschloss. Sie stiegen eine hölzerne Treppe hinab in einen nach Moder stinkenden Keller. Auf einer Seite lag ein Haufen leerer Flaschen und zerknüllter Dosen. Die Wände waren aus großen Ziegeln und blassgelb getüncht. Die Decke war zu tief, um aufrecht zu stehen. In einer Ecke kauerte ein Polizist über einem Gegenstand.
Er wandte sich um. Mit seinem Grinsen zeigte er ihnen ein lückenhaftes Gebiss.
»Schau dir das an, Chef.«
Zu seinen Füßen lag ein vor Banknoten überquellender Lederkoffer.
»Wo haben Sie denn den gefunden?«, fragte Nathan.
Der Polizist wies auf ein großes Loch in der Wand.
»Gib doch mal die Taschenlampe«, sagte Nathan zu Steve.
Er spähte hinein. Jemand hatte Ziegel herausgenommen und eine tiefe Höhle in die Erde gegraben. Es war praktisch ein kleiner Raum; Boden und Wände waren klebrig und feucht. Und kalt.
Nathan leuchtete den Boden ab, die Decke, dann nach rechts, dann nach links. Auf der einen Seite stapelten sich Ziegel. Mäuse huschten davon. In einer Ecke lag ein Haufen brauner Decken auf einer Matratze, auf dem Boden Spritzen, Crackpfeifen und leere Weinflaschen. Sollte das eine Art Versteck sein? Ein Loch, in das Junkies sich verkrochen, um sich bis zur Bewusstlosigkeit mit schwarzem Koks vollzuknallen?
Nathan stieg hinein. Der Fäulnisgestank war geradezu überwältigend. Auf einem Erdpodest stand eine Kommode. Er hatte sie von außen nicht gesehen, weil sie rechts der Öffnung im Dunkeln stand. Er zog die oberste Schublade auf. Sie klemmte. Erst mit einem Ruck bekam er sie auf. Sie war leer. In der zweiten lag eine kaputte Taschenlampe, in der dritten einige zerrissene T-Shirts, Hosen, Unterwäsche.
»Was gefunden?«, rief Steve durch das Loch herein.
»Was schreist du denn? Ich bin doch hier.«
»Sorry.«
»Nur das antiquarische Stück hier. Sieht so aus, als hätten hier ein paar Typen gehaust.« Er ging die Klamotten durch. »Ach, guck mal, eine Glock und etwas schwarzer Koks. Hier, fang.«
Steve fing die Waffe geschickt auf, dann den Beutel mit dem Pulver.
»Ist halb leer«, sagte er, nachdem er den Beutel in Augenschein genommen hatte. »Muss etwa ein Viertel Kilo gewesen sein. Wer immer da drin gehaust hat, der war voll drauf.«
»Und hat den Koffer mit dem Schotter bewacht.«
»Was ist denn das da drüben?«
»Decken«, sagte Nathan. »Ich denke mal, der hat hier gepennt.«
»Aber da ist doch was drunter.«
»Ach was.«
»Schau doch nach.«
»Okay.« Nathan hob die oberste Decke an. Sie war klebrig und schwer. Darunter gingen weitere Decken her. Sie waren zerschlissen und stanken verfault. Er zog sie ab wie Schichten sonnenverbrannter Haut. Es war noch was darunter. Nathan zog die letzte Decke weg.
Er taumelte zurück. Glasige Augen in einem ausgemergelten Gesicht reflektierten den Schein seiner Taschenlampe. Die Leiche war praktisch ein Skelett; wie zerrissene Vorhänge hing die Haut von den Schultern.
»Was ist es denn?«, fragte Steve.
Nathan beugte sich vor. Ellenbogen, Knie und Schultergelenke waren knotig und knorrig wie Borke und voll schwarzer Streifen. Auf den Augen entdeckte er große schwarze Flecken und die Ohrläppchen waren dunkelblau.
»Nathan?«
»Wir brauchen die Spurensicherung. Ich habe hier eine Leiche.«