Kapitel 85
Flughafen Bogotá,
Kolumbien
16. April 2011
Nathan steckte das Telefon weg. Er nahm Cedrics kleinen Aktenkoffer auf, als hätte er ihn nur abgestellt. Er enthielt nichts weiter als Cedrics SOCA-Marke und einige Aktendeckel. Nathan steckte den Ausweis ein und ging hinüber zu Manuel, der sich mit der Polizei unterhielt.
»Wir müssen los«, murmelte er Manuel ins Ohr.
»Was haben Sie denn auf dem Parkplatz gemacht?«, fragte einer der Beamten.
»Auf einen Freund gewartet«, sagte Manuel.
»Auf den hier?« Der Cop wies mit dem Daumen auf Cedrics Leiche, die von Sanitätern umringt war.
»Wer ist das denn?«
»Warum standen Sie neben ihm?«
»Er hat nach dem Weg gefragt. Hören Sie, können wir uns nicht arrangieren?«, fragte Manuel und senkte die Stimme. »Eine kleine Spende vielleicht.«
Der Cop schüttelte den Kopf. Schweiß lief Manuel von der Stirn. Es war höchste Zeit, hier zu verschwinden. Nathan holte Cedrics Mäppchen aus der Tasche und klappte es auf.
»Ich bin bei der Serious Organised Crime Agency.« Er zeigte dem Beamten die SOCA-Marke. Er wies auf Manuel. »Der Herr hier ist mein kolumbianischer Kontaktmann. Lassen Sie uns gehen, bevor ich die Botschaft anrufe.«
Ein anderer Cop mit einem gewaltigen Schnauzer nahm Nathan das Abzeichen mit gerunzelter Stirn aus der Hand. Er kratzte daran, drehte es in alle Richtungen. Dann gab er es zurück.
»Sie können gehen«, sagte er, bevor er sich an seinen Kollegen wandte und in hektischem Spanisch auf ihn einzureden begann.
Er ergriff Manuels Arm und zog ihn mit sich fort.
»Lucia hat eben auf Cedrics Telefon angerufen«, sagte er, als sie außer Hörweite waren. »Wir müssen zu ihr.«
Sie sprangen in den alten Pickup und rasten zurück in die Stadt. Nathans Herz raste. Er starrte auf die Straße vor sich und versuchte, gegen das flaue Gefühl in seinem Magen anzugehen.
Manuel sagte etwas.
»Was meinst du?«, fragte Nathan.
»Die kriegen wir.« Manuel legte Nathan eine Hand auf die Schulter. »Ich verspreche es.«
Nathan nickte grimmig. Vor seinem geistigen Auge begannen Bilder vorbeizuflackern. Der breite Kerl mit dem Gitarrenkoffer, das war vermutlich Amonite gewesen. Das Blitzen im Fenster ein Zielfernrohr. Cedrics offener Kopf in einer Blutlache auf dem Asphalt. Er war ihre einzige Hoffnung auf offizielle Unterstützung gegen die Front gewesen. Jetzt waren sie wieder auf der Flucht. Amonite hatte einmal mehr die Oberhand.
Sie hielten einige Straßen von Lucias Hotel entfernt. Nathan ging links um den Block, Manuel rechts. Vor dem Eingang trafen sie sich wieder.
»Warte hier«, sagte Nathan. »Ich bin in einer Minute wieder da.« Er ging an der Rezeption vorbei und sprang, drei Stufen auf einmal, die Treppe hinauf, bis er in der fünften Etage war. Er ging zum Zimmer 512, die Nummer, die Lucia ihm am Telefon genannt hatte, und klopfte.
Es dauerte einen Augenblick, dann sah er Licht im Spion. Die Tür flog auf und Lucia warf sich ihm in die Arme. Er schob sie über die Schwelle und stieß mit dem Fuß die Tür hinter sich zu. Sie küssten sich. Wellen der Erleichterung brachen über ihn herein. Er wollte sie nur noch halten, so fest es nur ging, und sie nie wieder loslassen.
Er riss sich los. »Wir müssen hier raus.«
Sie griff nach ihrer Tasche und warf sie sich über die Schulter. Sie eilten die Treppe hinab. Sie trafen Manuel vor der Tür und folgten ihm zurück zum Pickup. Nathan warf Cedrics Telefon in einen Abfallkorb, dann kletterte er neben Lucia in den Truck.
Sie nahmen eine Straße, die sie aus der Stadt führte.
»Alkaptonurie/Ochronose«, las Nathan aus einer der Aktenmappen aus Cedrics Koffer vor. Er hatte den Koffer vor sich auf den Knien.
»Eine neue Terroristengruppe?«, fragte Manuel, den Blick vor sich auf die Straße gerichtet, während der Wagen sich durch den leichten Verkehr schlängelte.
»Alkaptonurie, eine seltene, durch ein fehlendes Enzym verursachte Krankheit, führt zu einem um das 2000fache vermehrten Anfall von Homogentisat. Diese Säure lagert sich in Gelenken und Knorpeln ab und führt zu Brüchigkeit und schwarzen, als Ochronose bezeichneten Einfärbungen; letztere gleich einer extremen Form von Osteoarthritis.«
»Klingt fies«, sagte Lucia.
»Durch Oxidation der Säure kommt es zu einer Schwarzfärbung des Urins. Weitere Symptome sind schwarze Flecken auf den Augen, Verkalkung der Herzklappen, Nierensteine, Prostataprobleme, blauschwarze Verfärbung der Ohrknorpel, Schwarzfärbung der Kleidung durch Schweiß. Es gibt keine Heilung.« Nathan hob den Kopf. »Das erklärt die Symptome bei den Junkies.«
»Lass mal sehen.« Lucia griff nach dem Bericht.
»Augenblick. Ich bin noch nicht fertig. Patienten mit Alkaptonurie/Ochronose entwickeln für gewöhnlich Gesundheitsprobleme während des dritten oder vierten Lebensjahrzehnts. Auch gentechnisch mit der Krankheit infizierte Tiere brauchen geraume Zeit, um Symptome zu entwickeln. Unsere Ratten dagegen entwickelten sie innerhalb weniger Tage nach Verabreichung von Black Coke. Unserer Vermutung nach agierte die Droge als Mutagen. Irgendwie scheint sie die Gene der Ratten verändert zu haben, deren rasende Mutation ihrerseits eine jäh einsetzende, virulente Form von Ochronose ausgelöst hat.«
»Das kann die Front doch kaum beabsichtigt haben«, sagte Manuel.
»Womöglich ist das denen noch gar nicht klar«, sagte Lucia. »Vielleicht produzieren die dieses Teufelszeug einfach munter drauflos, denken, es ist alles in Ordnung, nichts weiter als eine neue Designerdroge oder was auch immer.«
»Autopsiebefund eines Drogenabhängigen«, las Nathan auf einem der anderen Aktendeckel aus dem Koffer. »Das muss der Kadaver gewesen sein, den ich im Keller des Crackhauses in Hackney gefunden habe.«
Lucia beugte sich herüber. »Was steht denn drin?«
»Menge an Black Coke im Blut: vier Gramm. Person starb an Herzversagen infolge einer Überdosis. Die Autopsie ergab eine schwere Osteoarthritis sowie eine heftige schwarze Pigmentierung der Gelenk-, Rippenknorpel und Bandscheiben.«
»Und was bedeutet das?«, fragte Lucia.
»Ein Blick in die einschlägige Literatur ergab, dass diese Symptome in ihrer Heftigkeit denen von Ochronose-Patienten im siebten oder achten Lebensjahrzehnt in nichts nachstehen. Schau dir das an. Das ist eine Aufnahme eines Ellbogengelenks.« Nathan hielt den Bericht so, dass Lucia hineinsehen konnte. »Und das ist ein Hüftgelenk.«
»Die sind ja pechschwarz.«
»Das hier ist die Wirbelsäule«, sagte Nathan und wies auf ein anderes Foto. »Siehst du, hier? Wo die Bandscheiben eingefallen sind, sind sie verschmolzen.«
Nathan reichte die Mappe Lucia und nahm die dritte Mappe aus dem Koffer. In ihr ging es um einen jamaikanischen Drogenboss, einen gewissen Reverend Elijah Evans, und seine Verbindungen zu den jamaikanischen Gangs in Brixton und Miami. SOCA-Agenten hatten ihn in Zusammenarbeit mit der Polizei in Miami aufgespürt und festgestellt, dass er den schwarzen Koks importiert hatte. Man hatte ihn dabei erwischt, wie er den letzten Teil eines Kontingents in einem ziemlich feudalen Anwesen auf den Florida Keys abliefern wollte. Man hatte ihn genötigt, Amonite eine Falle zu stellen.
Nathan schätzte, Cedric war hergekommen, um sich mit diesem Reverend zu treffen. Was wiederum bedeutete, dass Evans in Bogotá war. Jetzt, wo Cedric tot war, suchte Elijah vermutlich nach einer Möglichkeit, wieder ins Geschäft zu kommen. Es sei denn, Amonite hatte von seinem Verrat erfahren und hatte ihn umgebracht.
Schließlich befand sich noch ein vierter Aktendeckel in dem Koffer. Er trug Nathans Namen. Außerdem ein auffälliges Symbol: ein Schwert, das senkrecht in einem Globus stak – das Logo von Interpol. Innen fand er nur ein einziges Blatt mit Nathans Foto, einer kurzen Personenbeschreibung, dem Interpol-Logo in Rot und – in fetten Lettern – »GESUCHT«. Es war eine so genannte Red Notice: Interpols offizieller Haftbefehl für international Gesuchte nebst Auslieferungsgesuch. Nathan hatte Hunderte solcher Red Notices gesehen, alle für Drogenhändler und andere Kriminelle; nie und nimmer hätte er erwartet, irgendwann einmal eine mit seinem Namen zu sehen. War Cedric gekommen, um ihn zu verhaften?
»Da vorne ist es.« Manuel wies mit dem Finger. Sie rasten durch den hügeligen Norden von Bogotá. Vor ihnen tauchte eine kleine, von Stacheldraht umgebene Landebahn auf. Die untergehende Sonne tauchte sie in ein zartviolettes Licht.
»Bist du absolut sicher, dass der Typ zuverlässig ist?«, sagte Nathan.
»Das hatten wir doch schon«, sagte Manuel, als er vor dem Wachhäuschen an der Zufahrt hielt. »Er ist der beste Pilot, den du kriegen kannst.«
Nathan wandte sich an Lucia, die ihn mit großen Augen ansah.
»Und du, bist du auch sicher, dass du weitermachen willst?«, fragte er. »Du könntest im Hotel auf uns warten.«
»Ich werd nicht noch mal untätig rumsitzen.«
»Du hast die Einzelheiten? Den Ort, alles?«
»Keine Bange«, sagte Lucia. »Ich weiß, was ich tue.«
»Und du bist überzeugt, dass er dir zuhören wird?«
»Nathan, bitte!«
»Na schön. Dann mal los.«