Kapitel 22
North London,
England
11. April 2011
Nathan wusste in dem Augenblick, dass etwas nicht stimmte, in dem er den Treppenabsatz vor seiner Wohnung erreichte. Der irdene Pflanztopf neben seiner Tür war zerschlagen. Erde und Blütenblätter waren über den ganzen Flur verstreut. Caitlins Fahrrad war umgekippt, das Hinterrad drehte sich noch.
Nathan stürzte auf die Tür zu. Sie war abgesperrt.
Seine Hand fuhr unter die Jacke und griff nach der Browning, die er in dem Crackhaus eingesteckt hatte. Er schloss die Tür auf und öffnete sie sachte. Er trat in die Diele. Caitlins Schuhe und Schal lagen auf dem Laminatboden. Ihr Pelzmantel lag in einer Ecke. Ihre Handtasche lag auf dem Fußabstreifer, ihr Inhalt halb über den Boden verstreut.
Nathan spähte in die Küche. Eine halb geleerte Schale Frühstücksflocken und eine leere Flasche Milch standen auf dem Tisch. Das schmutzige Geschirr quoll aus der Spüle. Aus dem Wohnzimmer kamen Stimmen. Die Tür war geschlossen. Er legte die Hand auf die Klinke, drückte sachte…
… dann sprang er hinein.
»Caitlin!«
Sie lag auf dem Sofa, die Augen geschlossen, ein Arm hing auf den Boden. Nathan sprang hinüber. Er schüttelte sie.
»Caitlin, nein, bitte nicht!« Tränen stiegen ihm in die Augen. Er schüttelte sie noch einmal. Sie rührte sich nicht. »Caitlin, mein Gott, bitte!«
Er griff nach ihrer Halsschlagader. Ihr Puls war kräftig. Er beugte sich über sie. Sie roch stark nach Sprit. Er tastete sie ab. Keine Anzeichen für eine Verletzung.
Sie bewegte sich. »Mmmm?«
»Um Himmels Willen.« Nathan steckte die Waffe weg. »Was zum Teufel ist hier passiert?«
Sie öffnete zwei trübe Augen. »Gut, dass du da bist.«
»Ich habe die Nase jetzt wirklich voll von deiner Sauferei.«
Sie wandte sich ab, sodass sie mit dem Rücken zu ihm lag. Sie schlang die Arme um das Kissen.
»Caitlin, wer hat den Topf zerdeppert?«
»Er war im Weg.«
Nathan legte ihr eine Hand auf die Schulter, um sie umzudrehen. Sie schüttelte ihn ab.
»Ich bin müde«, sagte sie.
»Willst du mich verarschen?« Nathan riss sich den Mantel von den Schultern und warf ihn über den nächsten Stuhl. »Ich habe wegen dir zwei Ampeln überfahren! Für das hier? Was hätte Paps wohl dazu gesagt.«
»Fang jetzt nicht an, ja?«
»Wie viel hast du getrunken?«
»So viel auch wieder nicht.«
Ja, von wegen! Wie oft hatte er das nun schon gehört.
»Wo bist du gewesen?«, fragte er.
»Im Slug.«
»Und warum?« fragte Nathan, während er wieder hinausstapfte, um die Wohnungstür zu schließen.
»Um sicherzugehen, dass mir dieser Typ nicht weiter folgt«, rief sie ihm nach.
Nathan sah sich das Schloss näher an. Keine Kratzer, keinerlei Anzeichen dafür, dass sich daran jemand zu schaffen gemacht hätte. Er warf einen Blick den Flur hinauf. Er sah eine Bewegung in der hinteren Ecke, wo der Flur im rechten Winkel zu einer weiteren Reihe von Wohnungen führte. Er schloss hinter sich ab und lief los. Um die Ecke stieß er auf eine alte Frau mit mehreren Einkaufstaschen, die in ihrer Handtasche kramte. Sie sah Nathan argwöhnisch an. Mit einem höflichen Nicken ging er wieder zurück.
»Und?«, fragte er, als er wieder bei Caitlin war. »War der Typ immer noch hinter dir her?«
»Nicht nachdem ich wie der Teufel nach Hause gestrampelt bin«, sagte Caitlin. Sie stand halb aus dem Fenster gebeugt und steckte sich eine Zigarette an.
»Geh vom Fenster weg«, sagte Nathan.
Sie wandte sich wankend vom Fenster ab; gerade dass sie nicht umkippte. Nathan warf einen Blick auf die Straße und schloss das Fenster. Außer den Kindern im Park gegenüber war niemand zu sehen. Mit einem Ruck zog er die Vorhänge zu und setzte sich Caitlin gegenüber ans andere Ende der Couch. Sie stieß dicke Rauchwolken aus.
»Caitlin, mein Job ist gefährlich. Es könnte durchaus sein, dass es jemand auf dich abgesehen hat, um sich an mir zu rächen.«
»Warum, zum Teufel, denkst du, hab ich dich angerufen?«
»Es wäre mir lieber, wenn du ein paar Wochen bei John bleiben würdest.«
Caitlin drückte die Zigarette in einen überquellenden Aschenbecher auf dem Tisch vor der Couch. Sie hatte wieder ihren sturen Blick in den Augen.
»Den hab ich grade wieder mal abfahren lassen«, sagte sie.
»Ich muss nochmal nach Kolumbien. Ich möchte dich in sicheren Händen wissen.«
»Ha! Und du meinst, dass John dazu der Richtige ist?«
»Nur dieses eine Mal, bitte.«
Caitlin steckte sich eine weitere Zigarette an. »Warum schicken die nicht jemand anderen?«
»Kannst du mal mit den ewigen Fragen aufhören?«
»Manchmal nervst du wirklich.« Sie kam schwankend auf die Beine und wankte in Richtung Bad.
Nathan ging in sein Zimmer und setzte sich an seinen Schreibtisch. Womöglich war hinter Caitlin noch nicht mal jemand her gewesen. Vielleicht hatte sie sich das alles nur ausgedacht, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Na, funktioniert hatte es ja. Er klappte seinen Laptop auf und fand die Nummer der Anonymen Alkoholiker. Er schrieb sie auf ein Post-It und pappte es an seinen Schreibtisch. Er würde es Caitlin geben, wenn sie wieder nüchtern war.
Er stützte das Kinn auf die Hände. Da saß er nun mit seinem Job bei einer Organisation, die illegale Drogen auszumerzen versuchte, und seine Schwester hing an der gefährlichsten legalen Droge, die der Mensch je ersonnen hatte: Alkohol. Ihr Vater, zeitlebens praktisch Abstinenzler, wäre entsetzt gewesen.
Nathan holte seinen Reiserucksack unter dem Haufen schmutziger Kleidung in der Ecke seines Zimmers hervor. Es waren noch immer Reste des getrockneten Schlamms und weiterer Dreck von seiner letzten Kolumbienreise daran. Die Seitentaschen enthielten die übliche Reiseausrüstung: Zahnbürste, Zahnpasta, Taschenlampe, Survivalkit und einen Lonely Planet Guide für Kolumbien. Er suchte im Schrank nach sauberer Kleidung: Jeans und T-Shirts für tagsüber, schwarzer Kampfanzug und langärmelige Unterhemden für nächtliche Aktivitäten, Hemden, einen halbwegs anständigen, wenn auch zerkrumpelten Anzug für den Fall, dass mal Gesellschaftskleidung angesagt war. Er warf alles aufs Bett. Einpacken konnte er den Kram später.
Er hörte Wasser aus dem Bad. Dann hörte er es plantschen und ein Seufzen, als Caitlin in die Wanne stieg.
Nathan setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und öffnete sein E-Mail-Programm. Er fand eine Nachricht von der SOCA, in der man ihn aufforderte, am nächsten Tag um neun Uhr vormittags zu einer Anhörung »den Vorfall Steve Willinston betreffend« zu erscheinen. Er löschte sie und kaufte sich ein Ticket nach Bogotá über Newark für den kommenden Tag, Abflug Heathrow um 9.05 Uhr. Er bezahlte mit seiner zweiten Kreditkarte, die unter seinem Decknamen Nathan Chrorley lief. Diese passte zu seinem falschen Pass.
Er machte sich an die Internetsuche. Es gab da ein paar Dinge, die ihn einfach nicht losließen. Wenn Jamaika der Verteilpunkt war, wie schmuggelte die Front ihre Drogen dann durch die Karibik? Kleinflugzeuge waren problematisch, da die amerikanische DEA den Luftraum patrouillierte. Was war mit Kurieren? Die hatten in jüngster Zeit Konjunktur. Verzweifelte junge Jamaikanerinnen schluckten Kokainkugeln in Zellophan oder Kondomen und marschierten damit durch den amerikanischen oder britischen Zoll. Wenn sie nicht vor Angst starben, dass das Kokain in ihren Magen geriet. Aber diese Art von Schmuggel wollte aufgebaut werden, das brauchte seine Zeit; und sie war höchst riskant. Nathan schätzte, dass Amonite eher nach einer Methode war, bei der die Menge sich problemlos hochfahren ließ. Er dachte da an ein Boot.
Ihm kam ein Gedanke. Womöglich half ihm eines der Sachbücher weiter, die er vor einigen Jahren für seine Dissertation gelesen hatte. Mittels seiner Bibliographie-Software lud er deren Endnoten und scrollte die Literaturangaben durch. Das Buch trug den Titel Drug Smugglers on Drug Smuggling. Es handelte sich um ein exzellentes Beispiel für qualitative Forschung: Interviews mit Drogenschmugglern unter anonymen Bedingungen, um etwas über die neuesten Methoden des internationalen Drogenschmuggels in Erfahrung zu bringen. Genau das, was ihm bei den Vorbereitungen für seine Reise helfen konnte. Das Buch stand in der British Library gleich die Straße hinauf.
Nathan sah auf die Uhr: 13.12. Er hatte also noch einige Stunden. Ins Büro brauchte er nicht mehr; er war schließlich suspendiert. Allein der Gedanke machte ihn rasend. Besser, sich für ein paar Stunden in die Bibliothek zu setzen und so viele Informationen wie nur möglich zu sammeln. Für seinen Trip.
»Ich geh mal in die Bibliothek«, rief er und griff nach seinem Rucksack. »Ich bin in ein paar Stunden wieder da. Lass mir niemanden rein.«
»Ja, ja«, rief Caitlin über dem Plätschern der einlaufenden Wanne. »Mach nur.«
Nathan eilte aus der Wohnung, schloss hinter sich ab. Er sprang die Treppe hinab. Caitlin konnte ihn rasend machen. Aber er musste wirklich geduldiger sein. Es war schließlich nicht ihre Schuld, dass sie noch immer so depressiv war.
Das Wetter war trostlos. Es nieselte. Die Spiegelbilder in den Pfützen auf dem Gehsteig hatten etwas Unheimliches. Nathan gähnte. Eine Dusche und ein paar Stunden Schlaf, das war es, was ihm fehlte. Je mehr er darüber nachdachte, desto weniger wollte er nach Kolumbien. Vielleicht hatte Caitlin Recht. Eigentlich war es das Problem der SOCA, nicht das seine.
Dann musste er an Amonite und Sir George denken, an Putumayo und Mexiko, an Manuel und Steve. Bei alledem packte ihn eine grimmige Entschlossenheit. Er zog den Kopf ein, schlug den Kragen hoch und ging weiter in Richtung Bibliothek.