Kapitel 35

Bogotá, Kolumbien
12. April 2011

»Nicht umdrehen«, sagte Nathan unvermittelt, als er neben Manuel die Plaza de Lourdes hinaufschlenderte, vorbei an Straßenkünstlern und Hippies mit Wolldecken vor sich auf dem Pflaster, auf denen man Handarbeiten feilbot.

»Was ist?«, fragte Manuel aus dem Mundwinkel. Sie kamen an der gotischen Kirche aus weißem Stein vorbei, die die eine Seite der Plaza beherrschte.

»Der sicario«, sagte Nathan. »Neben dem Baum, fünfzig Meter, auf zwei Uhr. Kauft sich gerade was zu essen.«

Manuel wurde sichtlich nervös, ging aber weiter.

»Psst!« Ein Dealer in zerrissenen Jeans und grauem Hemd stand neben dem Portal der Kirche gegen die Mauer gelehnt. Er winkte die beiden zu sich hinüber; sie ignorierten ihn. Der Dealer kam auf sie zugeschlendert. Ein Schwarm Tauben stob auf; ein räudiger Straßenköter kläffte. Nathan gab den Touristen und blickte den Kirchturm hinauf bis zu den Spitzen ganz obenauf.

»Wimmle ihn ab«, zischte er Manuel zu.

Manuel sprach den Dealer an. Der wurde kreidebleich. Dann verzog er sich rasch.

Sie hielten weiter auf die Carrera 13 zu, eine Hauptstraße, die vom Platz wegführte. Sie war von Läden und Straßenhändlern gesäumt, die alles nur Denkbare feilboten: von Gürteln und Sonnenbrillen über Schnürsenkel und Brieftaschen bis hin zu Kinderspielzeug, Mobiltelefonen und DVDs. Nathan blieb stehen, um in ein Schaufenster zu sehen, das voller Spiegel in allen Größen war; in ihnen war der Platz hinter ihm zu sehen.

»Er ist fort«, sagte er einen Augenblick später.

»Bist du sicher, dass er es war.«

»Die Narbe würde ich überall erkennen.«

»Wie hat er uns gefunden?«

»Vielleicht ist er gar nicht hinter uns her.« Nathan wandte sich an Manuel. »Was hast du denn dem Dealer gesagt?«

»Dass ich ihm die Augen herausreißen und an den Hund verfüttern würde.«

»Komm.« Nathan lächelte. »Gehen wir zu Lucia.«

Sie befanden sich jetzt in Chapinero, einem der zwanzig Bezirke von Bogotá. Eilig passierten sie trendige Bars, Clubs, Einkaufszentren und Universitätsgebäude. Ein schwarzes SUV hielt vor einem Stripschuppen direkt vor ihnen. Ein Bodyguard von fast zwei Metern kletterte aus dem vorderen Sitz und blockierte den Gehsteig. Nathan versuchte an ihm vorbeizugehen, aber Manuel hielt ihn zurück. Ein junger Schnösel in einem teuren weißen Anzug stieg aus dem Fond, Hals und Handgelenke mit goldenen Kettchen behängt.

»Ein traqueto«, flüsterte Manuel verächtlich. »Ein Drogenmillionär.«

Der Bodyguard bedachte sie mit einem fiesen Blick. Nathan spürte, wie sich seine Muskeln spannten.

»Von der Front kontrolliert?«

»Das sind die meisten Stripschuppen hier.«

Zwei Frauen in weißen Miniröcken und waffenscheinpflichtigen Absätzen ergriffen die Hände, die der traqueto ihnen entgegenhielt. Sie wankten hinter ihm aus dem Wagen und traten dann in die schummrige Bar.

Nathan und Manuel eilten weiter, die ansteigenden Straßen von Chapinero Alto hinauf, einer Wohngegend am Fuße der Hügel, die weiter im Osten zu Bergen wurden.

»Was gibt es über Lucia zu wissen?«, fragte Nathan, als sie eine Straße mit Wohnblöcken langgingen.

»Das dritte Kind eines reichen Unternehmers. Ihm gehörte eine der größten Holzfirmen Südamerikas. Hat seinen vier Kindern die beste Ausbildung angedeihen lassen, die für Geld zu haben ist. Harvard. Stanford. Berkeley. Sie haben alle was aus sich gemacht. Außer Lucia.«

»Wieso?«

»Ihr alter Herr ließ in der Politik die Puppen tanzen. Ständig lud er alle möglichen Hochkaräter zu großen Banketten auf seine Hazienda ein, auch den jetzigen Präsidenten. Er war ein vehementer Gegner der Drogenkartelle. Nur hatte er Verbindungen zum Geheimdienst, selbst als man diesem Menschenrechtsverletzungen nachsagte. Lucia rebellierte und brach ihr Medizinstudium ab. Sie wurde zum schwarzen Schaf der Familie und zerstritt sich mit ihrem Herrn Papa. In aller Öffentlichkeit, auf der Hochzeit ihres Bruders. Alles furchtbar peinlich.«

»Kann ich mir vorstellen«, sagte Nathan.

»Dann erwischte der Bruder eine Überdosis Koks.«

»Autsch.«

»Im Schlafzimmer seines Vaters. Während er eine Luxushure mit Connections zu einem Drogenboss vögelte.«

»Daran erinnere ich mich. Die Gazetten bei uns waren voll davon.« Sie warteten auf eine Lücke im Verkehrsstrom, um eine Straße zu überqueren, und gingen dann weiter den Hügel hinauf.

»Ihr Vater startete den totalen Krieg gegen die Kartelle«, sagte Manuel. »Aber eines Morgens, auf dem Weg zum Flughafen, jagten sie ihn mitsamt seinem Humvee in die Luft. Er kam um, seine Frau, zwei Töchter, Bodyguards, niemand blieb übrig.«

»Dann ist Lucia also die Letzte?«

»Ja. Bei den Ermittlungen fand man heraus, dass ihr Vater auch in den Drogenhandel verwickelt war. Man hat seinen Besitz konfisziert.«

»Ein abgekartetes Spiel?«

»In Kolumbien hat jeder irgendwie mit Drogen zu tun«, sagte Manuel. »Lucias Ansicht nach hatte ihr Vater sich mit dem Geheimdienst zerstritten, also hat der sich mit den Kartellen zusammengetan, um ihn zu ermorden. Sie hat den Leuten das live im TV an den Kopf geworfen. Ein Riesenskandal.«

»Und?«

»Die Geschichte wurde unter den Teppich gekehrt.«

Nathan schüttelte angewidert den Kopf. Er hatte das immer wieder gesehen. Der Staatsapparat verschwendete seine Zeit damit, peinliche Nachrichten über sein Versagen im Drogenkrieg unter den Teppich zu kehren.

»Und warum hat sie Kolumbianer Gegen die Front aufgezogen?«

»Die hat eine Gruppe besorgter Bürger auf die Beine gestellt, ziemlich einflussreiche Leute. Lucia ist erst letztes Jahr als CEO dazugekommen. Bis jüngst hatte von den Leuten niemand gehört. Sieht fast so aus, als hätte sie eine schärfere Gangart vorgelegt.«

»Ein Wunder, dass sie noch am Leben ist.«

»Hängt davon ab, inwieweit die Front sie als Bedrohung sieht.« Manuel blieb stehen. »Sie wohnt in der nächsten Straße. Das erste rote Haus rechts. Dritter Stock. Nummer 32.«

»Wir treffen uns wieder hier.«

»Bist du sicher, dass ich nicht mitgehen soll? Die Frau ist beinhart.«

»Kennt sie dich?«, fragte Nathan.

»Ich habe ihr vor ein paar Tagen wegen dem schwarzen Koks gemailt. Keine Antwort.«

»Dann machen wir mal besser die Pferde nicht scheu, indem wir da zu zweit aufkreuzen. Grab du weiter. Wir treffen uns dann im Hotel.«

Nathan ging um die Ecke. Als er einen guten Blick auf das Haus mit Lucias Wohnung hatte, postierte er sich hinter einen Baum. Dem Eingang schräg gegenüber stand ein grauer Ford, in dem zwei Männer saßen. Er konnte ihre Gesichter nicht sehen, war sich aber sicher, sie gehörten zur Front.

Er blickte hinauf. Es brannte kein Licht im dritten Stock.

Eine Frau kam die Straße herauf. Sie hatte langes dunkles Haar, eine sportliche Figur und trug schwarze Jeans, Sneakers und eine Lederjacke. Sie blieb vor dem Wohnblock stehen und kramte in ihrem kleinen Rucksack nach den Schlüsseln. Das Licht über dem Eingang beleuchtete ihr Gesicht und ließ ihn ihre elfenhaften Züge, eine kecke, leicht nach oben gerichtete Nase und einen Kirschmund sehen.

Es war Lucia.

Sie holte einen Schlüsselbund heraus und sah sich um. Kaum war sie im Haus, eilte Nathan in die andere Richtung davon. Er sprang über eine Mauer in einen Garten, drückte sich an einer Reihe Mülltonnen vorbei in eine kleine Straße, die hinter den Wohnblocks langführte. Er fand eine Hintertür in Lucias Haus. Sie war verschlossen. Sein Einbrecherbesteck befand sich in dem Rucksack, den er nach dem Überfall im Taxi hatte liegen lassen. Also durchsuchte er die Mülltonnen nach etwas Draht, der sich zurechtbiegen ließ. Das musste genügen. Das Schloss war schwergängig, aber in weniger als einer Minute war er im Haus.

Er versteckte sich in der Dunkelheit unter der Treppe, spähte um die Ecke, um nach dem grauen Wagen draußen zu sehen. Die Männer saßen immer noch drin.

Er ging hinauf zu Lucias Wohnung.

Schwarzer Koks
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