Kapitel 73
Ciudad Bolivar,
Kolumbien
15. April 2011
Nathan blickte ausdruckslos durch die Windschutzscheibe des Taxis. Warum hatte Lucia ihn derart angefaucht? Sie war völlig durchgedreht, Blitze in den Augen, ihr Hals puterrot. Wen wollte es wundern, dass sie bei den Kolumbianern gegen die Front rausgeflogen war.
Und dennoch. Es war da noch etwas anderes. Tiefe Besorgnis. Kummer.
Angst.
Nathans neues Handy hatte nur zwei Kontakte: Lucia und Manuel. Er drückte Lucias Nummer, dann auf »Call«. Das Display blitzte auf.
Calling Lucia…
Er brach den Anruf ab. Das war doch reines Wunschdenken. Sie hatte ihn aus dem Bett geworfen. Sie hatte ihn jetzt zweimal angefaucht. Die Frau war so offensichtlich gestört, wütend auf Gott und die Welt. Er sah hinaus auf die flackernden Lichter vor den endlosen Reihen roter Ziegelhütten von Ciudad Bolivar, das unter einem Drahtverhau von Stromleitungen zu liegen schien.
Aber es war da noch etwas anderes, das tiefer ging: Ehrlichkeit, Leidenschaft, ein Verlangen nach Gerechtigkeit. Unter dem wilden Äußeren steckte eine Frau, die er verstehen, vielleicht sogar wirklich lieben konnte. Er wusste, was Caitlin gesagt hätte.
Er drückte auf »Call again.«
Calling Lucia…
Wieder legte er auf. Er steckte das Telefon weg. Er war für so was nicht zu gebrauchen. Was immer er zu sagen versuchte, es kam falsch heraus, machte alles nur noch schlimmer. Und doch wäre er am liebsten noch mal umgekehrt, um sie zu sehen, zu küssen, ihr zu sagen, dass alles in Ordnung kommen würde. Er wusste, das alles war nicht einfach für sie. Es hatte sich da etwas entwickelt zwischen ihnen, etwas Starkes, das die feinen Ranken von Anziehungskraft und Zuneigung um sie zu schlingen begann, während die Welt, die rund um sie in Stücke fiel, sie auseinanderzureißen drohte.
Er blickte wieder nach draußen. Sie fuhren jetzt eine unbefestigte Straße hinab. Der Fahrer wich im Slalom den zahllosen Schlaglöchern aus. Dann sah er am Straßenrand, halb im Dunkel, in einem Kuss verwachsen, ein junges Paar.
Und immer noch kein Anruf von Manuel, der ihm doch sagen wollte, wo es hinging. Nathan tippte dem Taxifahrer auf die Schulter.
»Sí?«
»Ich habe es mir anders überlegt. Können Sie umkehren und–« Das Telefon in seiner Tasche summte.
»Un momento«, sagte Nathan dem Fahrer.
Unbekannter Anrufer.
»Bist du unterwegs?« Es war Manuel.
»Ja, aber–«
»Ich habe mit ihnen geredet. Wir erwarten dich.«
»Alles klar.«
»Wo bist du?«
»Eben in Ciudad Bolivar angekommen. Aber–«
»Prima. Hier ist die Adresse.«
»Okay, Augenblick.« Nathan schaltete die Freisprecheinrichtung ein. »Kannst du’s dem Fahrer erklären?«
Manuel rasselte eine Reihe von Anweisungen auf Spanisch herab. Nickend antwortete der Fahrer ihm.
»Nathan, bist du noch dran? Du bist etwa eine halbe Stunde entfernt«, sagte Manuel wieder auf Englisch. »Und Lucia?«
»Was ist mit ihr?«
»Sie geht nicht ran.«
»Vielleicht schläft sie.«
»Okay. Bis gleich.«
Nathan legte auf und steckte das Handy weg. Sein Körper war plötzlich müde, er spürte die Prellungen wieder, die Schusswunde schmerzte. Er musste sich auf seine Mission konzentrieren. Er würde das mit Lucia später klären.
Das Taxi bohrte sich tiefer in den ärmsten Stadtteil von Bogotá.