Kapitel 68
Bogotá,
Kolumbien
15. April 2011
»Wer ist denn nun dieser Rudolph?«, fragte Nathan, als sie beide hinten in einem Taxi saßen, das sich hupend einen Weg durch Bogotá bahnte.
»Ich habe ihn neulich auf einer Party kennen gelernt.«
Sie erreichten Bogotás Finanzviertel mit seiner Handvoll Glasbauten und den gehetzten Geschäftsleuten vor dem Hintergrund felsengesäumter Hügel. An den Straßenecken standen Polizisten mit verspiegelten Visieren an den Helmen und M-16-Sturmgewehren neben turmbewehrten Fahrzeugen, die mit den Gittern vor ihren Fenstern wie riesige graue Käfer aussahen.
»Was weißt du denn über ihn?«, fragte Nathan.
»War früher bei der deutschen Bundeswehr. Jetzt macht er in privater Sicherheit.«
Lucia starrte aus dem Fenster. Ihr Haar war ungebürstet und sie trug dieselbe Jeansbluse wie am Abend zuvor. Er hatte sie am Morgen schlafend auf der Couch gefunden, angezogen, hübsch und perfekt trotz der Spuren von schwarzem Eyeliner auf den Wangen. Über letzten Abend hatten sie nicht gesprochen, überhaupt hatte weder der eine noch der andere groß was gesagt. Was Nathan nur recht sein konnte. Es gab Dinge, die sprach man besser nicht an.
»Ist auf ihn Verlass?«
»Soweit ich das sagen kann.« Lucia warf Nathan einen verlegenen Blick zu. »Ein Kontakt aus der britischen Botschaft hat ihn mir vorgestellt.«
»Aus der Botschaft?«
»Mit was Besserem kann ich nicht dienen. Kannst ja die narcos um all den extravaganten Kram bitten, den du da willst.«
Nathan verstummte. Er hatte fast zwölf Stunden geschlafen und fühlte sich trotz all der Prellungen und der Verletzung am Arm so gut wie seit Tagen nicht mehr. Er zwang seine Gedanken auf die Mission. Er brauchte was zu schießen und diverses Gerät, so viel er nur kriegen konnte; und dann musste er einen Piloten auftreiben, der diskret, vertrauenswürdig und in nächtlichen Tiefflügen über dem Dschungel versiert war.
Eine halbe Stunde später durchkreuzten sie die Randbezirke im Süden der Stadt. Barackenstädte breiteten sich dort aus wie ein Meer aus Wellblech gewordenem Elend. Frauen standen gegen Hütten aus Sperrholzabfällen, Metall und Plastik gelehnt. Sie stritten miteinander, zankten wild gestikulierend ihre Männer aus, die rauchend an den Kreuzungen herumlungerten, riefen nach schmutzigen Kindern, die in umgekippten Mülltonnen neben Haufen verfaulender Lebensmittelabfälle spielten.
Immer wieder blickte ihr Taxifahrer in die Außenspiegel. Nathan beugte sich vor. »Alles in Ordnung?«
»Letzte Woche hat man hier am helllichten Tag zwei Männer entführt.«
»Keine Bange.« Nathan klopfte dem Fahrer auf die Schulter. »Fahren Sie uns einfach zu der Adresse, die sie Ihnen genannt hat.«
Nathan sondierte die Umgebung; er versuchte seine nagenden Bedenken zu ignorieren. In einer unbekannten Umgebung einen Schatten zu erkennen, war im günstigsten Fall schwierig genug; hier, im Chaos eines Slums, war es praktisch unmöglich. Dass sie eine Gang des Lösegelds wegen aufs Korn nahm, hätte ihm noch gefehlt.
Der Fahrer bog in eine Nebenstraße ab. Er hielt an und sah sich um.
»Alles in Ordnung?«, fragte Nathan.
»Es muss hier irgendwo sein.«
»Haben Sie sich verfahren?«
»Tja…« Der Fahrer spähte nach vorn. »Ah, da ist es.« Er wies mit dem Finger und fuhr dann auf eine kleine, leuchtend blau getünchte Hütte mit einer Coca Cola-Reklame obenauf zu. Es war ein Ziegelbau mit Holzdach und kleinen Löchern als Fenster. Nathan stieg aus und zog seinen leeren Rucksack vom Sitz. Die Straße war weniger belebt als die Hauptstraße, auf der sie gekommen waren. Lucia tauchte neben ihm auf.
»Das ist die Adresse?«, fragte er den sichtlich nervösen Fahrer, der im Wagen geblieben war und halb aus dem Fenster gelehnt eine Zigarette rauchte.
Der Mann nickte, stieß eine Rauchwolke aus, die in Schlieren in der feuchten Luft vor ihm hängen blieb.
»Warten Sie hier«, sagte Nathan.
Nathan spähte in die Hütte. Auf einem windigen Holztisch in einer Ecke brannte eine Kerosinlampe, die den Raum mit dem beißenden Dunst brennenden Petroleums erfüllte. Eine kleine Kolumbianerin in einem weiten Kleid erschien in einer finsteren Tür. Ihre Hüften waren nicht weniger ausladend als der Vorbau an ihrer Brust.
»Sí?«, sagte sie.
Lucia sprach sie auf Spanisch an, zu schnell als dass Nathan etwas verstanden hätte. Die Frau antwortete einsilbig, bis Lucia etwas Geld aus der Tasche zog. Die Frau riss es ihr aus der Hand und führte sie nach hinten hinaus in einen kleinen Hof. Neben einem Haufen zerschlagener Stühle lag ein schlafender Hund. Die Frau führte sie in eine weitere Hütte. Nathan konnte sich des überraschten Gedankens nicht erwehren, wie weitläufig diese von außen so täuschend kleinen Behausungen tatsächlich waren.
In einer Hängematte in der Ecke lag ein Mann, dessen Züge im Zwielicht untergingen. Nathan sah nur die Glut einer Zigarette in seiner Hand.
»Lucia!«, sagte er im Aufspringen und trat die Zigarette auf dem Lehmboden aus. »Schön, dass du’s einrichten konntest.«
Er sah auffallend gut aus mit seinen scharf geschnittenen Zügen, dem kräftigen Kinn und dem perfekten Körper, an dem er ganz offensichtlich hart arbeitete. Er trug eine schwarze Hose und ein sorgfältig gebügeltes Hemd. Sein kräftiges Aftershave biss sich auf merkwürdige Weise mit dem Gestank rundum.
»Rudolph, das hier ist Nathan, der Mann, von dem ich dir erzählt habe.« Lucia machte eine verbindende Geste zwischen ihnen. Die beiden Männer gaben sich die Hand. Rudolph musste den Kopf einziehen, um nicht an der Decke anzustoßen.
»Wie ich höre, können Sie mir helfen«, sagte Nathan.
»Tatsächlich?« Rudolph setzte ein breites Lächeln auf. Es war zu breit. »Hier lang.« Er führte sie in einen anderen Raum. Er bewegte sich mit der Geschmeidigkeit des geübten Fighters. Er zog an einem eisernen Ring am Boden und hob damit eine ramponierte hölzerne Falltür an. Er nahm eine Kerosinlampe von einem Haken an der Decke und stieg eine knarzende Holztreppe hinab in einen Keller.
Rudolph machte Licht. Nathan stieß einen leisen Pfiff aus. In diesem Loch gab es jede Waffe, an die man für einen Einsatz nur denken könnte, alle wohlgeordnet und instandgehalten. Maschinenpistolen wie die deutsche MP5 und eine ganze Auswahl von Sturmgewehren hingen in feindsäuberlichen Reihen an der Wand. Auf einem Tisch lag ein Sortiment von Pistolen und Revolvern aus, daneben stapelten sich Kartons mit Handgranaten, Packen mit ziegelrotem Semtex-Plastiksprengstoff, Munitionskisten und anderes Gerät. Zu Nathans Linken lagen, auf einem weiteren Holztisch, zwei RPGs und ein auf ein Dreibein montiertes schweres MG vom Typ M2HB Browning.
»Nicht schlecht.« Nathan nahm eine Glock vom Tisch und checkte das System. »Genau das, was ich brauche.«
Er wandte sich wieder Rudolph zu, der aus dem Augenwinkel anerkennend nach Lucia schielte.
»Wie machen wir das hier?«, fragte Nathan.
»Ganz einfach.« Rudolph wandte sich Nathan zu. »Sie suchen sich aus, was Sie wollen. Bezahlen Cash. US-Dollar. Keine Fragen.«
Nathan trat auf die Reihe der Sturmgewehre zu. Er nahm ein deutsches G3 vom Ständer, stellte es dann wieder ein. Er hatte eine eingefettete, noch unbenutzte AK-47 erspäht. Die Kalaschnikow war eine bewährte Waffe, die auf widrigste Bedingungen ausgerichtet war. Selbst ein Kind konnte sie instandhalten, geschweige denn damit schießen; nicht umsonst war sie in jedem vom Krieg gebeutelten Winkel der Welt so beliebt.
Prüfend sah er sich eine Box mit 30-Schuss-Magazinen an. Nicht eines wies die blau-grüne Verfärbung der Patronenhülsen auf, die auf Feuchtigkeit hätte schließen lassen. Er warf sie in den Rucksack. Dann wandte er sich wieder der Glock zu. Die Glock 17 war zuverlässig, solide, sein Favorit. Er warf zwei in den Rucksack und zehn Schachteln mit 12-Schuss-Magazinen dazu. Dazu kam noch ein Militärfeldstecher 10x50, ein Nachtsichtgerät, eine Handvoll Kabelbinder, eine Machete, ein Jagdmesser, eine Taschenlampe, ein GPS, ein Kompass, ein ordentlicher Stapel Semtex und ein Fernzünder.
Als er sich wieder Rudolph zuwandte, sah er dass dieser in der Ecke mit gesenkter Stimme auf Lucia einredete. Rudolph hatte ihren Arm ergriffen, aber sie entzog sich ihm.
»Alles in Ordnung?«, fragte Nathan.
Offene Feindseligkeit blitzte über Rudolphs Gesicht. Er ließ Lucia los.
»Haben Sie, was sie brauchen?«, fragte er Nathan. Er setzte das Lächeln wieder auf.
»Alles klar, Lucia?«, fragte Nathan.
Lucia nickte. Sie stieg die Treppe hinauf. Nathan folgte ihr. Dann standen sie wieder in der Hütte. Rudolph knallte die Falltür zu.
Sie feilschten kurz um den Preis, dann zählte Nathan die nötige Summe ab und reichte die Scheine Rudolph. Unter dem funkelnden Blick der kleinen Frau, die sie mit verschränkten Armen beobachtete, ging er zur Tür. Er hörte Rudolph wieder etwas zu Lucia sagen und wandte sich um. Lucia schüttelte den Kopf und versuchte sich aus Rudolphs Griff zu befreien.
»Lassen Sie sie in Ruhe, Sportsfreund.«
Rudolph funkelte ihn an. »Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Kram.« Nathan tat einen Schritt auf ihn zu, aber Lucia hatte sich bereits aus dem Griff befreit.
»Komm, Nathan«, sagte sie. »Verschwinden wir.«
Nathan warf den schweren Rucksack in den Kofferraum des Taxis. Als der Wagen losfuhr, warf Nathan einen Blick nach hinten. Rudolph stand vor der Hütte in der Abgaswolke, die sie zurückgelassen hatten. Seine dunklen Augen auf dem davonfahrenden Taxi, sprach er in sein Mobiltelefon.
»Was wollte der denn?«, fragte Nathan.
Lucia starrte zum Fenster hinaus.
»Lucia, der wollte doch was von dir.«
»Was denkst du? Er wollte, was alle Kerle wollen.«
»Hör zu, tut mir Leid wegen–«
»Vergiss es.« Lucia zog die Achseln hoch. »Ich möchte nicht drüber reden.«