Kapitel 15

North London, England
8. April 2011

»Warum habt ihr ihn laufen lassen?«, fuhr Cedric ihn am Telefon an.

Nathan knallte die Tür zu dem kleinen Büro zu, das man ihnen in der Polizeiwache in Islington zugewiesen hatte. Es war kaum größer als eine Besenkammer. Es gab zwei Stühle mit Metallgestell und einen ramponierten Holztisch, der eines fehlenden Beins wegen gegen die Wand gerückt war.

»Wir haben ihn nicht laufen lassen.« Nathan hob eine Kaffeetasse voll Schimmel vom Boden auf und stellte sie auf den Tisch. »Er ist uns entwischt.«

»Und wieso habt ihr ihn entwischen lassen?«

»Ist ja nicht so, dass wir das absichtlich gemacht hätten.«

»Ich möchte, dass er morgen bis Dienstschluss in Gewahrsam ist.«

Cedric legte auf. Nathan seufzte. Es sah Cedric gar nicht ähnlich, die Beherrschung zu verlieren. Vermutlich hatte er wieder Ärger mit George. Nathan drehte einen Plastikkugelschreiber zwischen den Fingern und starrte dabei aus dem Fenster auf die Bäume davor hinaus. Ein paar Dealer und eine Handvoll Süchtiger in einem Crackhaus zu schnappen, würde sie nicht weiterbringen. Er musste an die Spitze der Kette gelangen, zu Amonite und dem großen Boss über ihr. Aber wie?

Er ging in Gedanken alles durch, was er über den internationalen Drogenschmuggel wusste. Seit dem Ende der großen Kartelle in den 1990ern waren die Drogenschmuggler von den großen zentral geführten Organisationen abgerückt und zu kleinen dezentralen Netzen übergegangen, die viel schwieriger zu infiltrieren waren. Die einzelnen Aspekte des Geschäfts – Transport, Distribution, Finanzen – teilten sie auf. Wettbewerb innerhalb der einzelnen Sparten – Bauern, Kuriere, Großhändler, Dealer – hielt die Kosten unten und die Profite oben. Die Front 154 jedoch schien sich wieder in Richtung eines großen Kartells zu bewegen: große Waffen, Hubschrauber, großer Ehrgeiz. Aber sie konnte das doch unmöglich alles ganz allein kontrollieren wollen? Was hätte das für einen Sinn?

Steve platzte herein und Nathan fuhr auf.

»Alles klar?«, fragte Nathan.

Mit selbstgefälliger Miene warf Steve sich auf einen Stuhl und legte die Füße auf den Tisch. Der Tisch wackelte.

Nathan wies auf Steves Füße. »Ich würd da vorsichtig sein.«

»Ich kann’s nicht glauben. Dass man uns diese Müllhalde hier zugewiesen hat.« Steve zog die Füße wieder ein und machte eine Geste über den abgetretenen Teppich und die hellgrüne Wand. »Zeigt wohl, für wie wichtig sie das alles halten. Na jedenfalls, das Gesindel ist im Bau. Die Jungs habe ich nach Hause geschickt. Die sind geschafft.«

Nathan drehte den Kugelschreiber zwischen den Fingern.

»Was gibt’s denn?« fragte Steve. Er fuhr sich mit einem Finger ins Ohr und studierte den Nagel. »Siehst gar nicht glücklich aus.«

»Ich kriege Druck von meinem Boss. Er will Tony bis morgen verhaftet sehen.«

»Das ist wieder typisch.« Steve stand auf. »Es ist fast Mitternacht. Warum legst du dich nicht aufs Ohr? Wir versuchen’s morgen nochmal.«

»Was sagt denn die Gerichtsmedizin?«

»Unmengen von Chemikalien in ihrem Blut, die zu diesem schwarzen Koks passen.« Er setzte sich wieder. »Der arme Bursche hat eine Überdosis erwischt.«

»Und der Schotter?«

»Eine halbe Million. Genug für dreißig Kilo.«

»Hört sich nach einem Versuchsballon an. Ich schätze mal, die Front plant das Zeug tonnenweise ins Land zu schaffen. Aber wie?«

»Keine Ahnung. Das ist Sache des Zolls.«

Nathan schüttelte den Kopf. Steves Reaktion war typisch für die Vollzugsbehörden. Jede schob der anderen die Verantwortung zu. Er entschloss sich, in seiner eigenen Richtung weiterzudenken. Er nahm den Kugelschreiber wieder zur Hand und ein leeres Blatt Papier. Er kritzelte »Kolumbien« darauf und kreiste es ein.

»Hier beginnt die Produktion.«

Er schrieb das Wort »Verteilpunkt«, kreiste es ein und zog eine Linie zu dem Wort »Kolumbien«. Dann schrieb er »USA« und »England« und verband sie ebenfalls mit dem »Verteilpunkt«.

»Amonite wird für den Transport zu diesem Verteilpunkt sorgen, entweder per Schiff oder Flugzeug. Höchstwahrscheinlich sind das die Bahamas, Kuba, Haiti oder Jamaika. Wenn wir diesen Punkt finden, können wir ihre ganze Operation zerschlagen.«

Steve gähnte.

»Die Bahamas wären ideal«, fuhr Nathan fort. »Siebenhundert Inseln, die Hälfte davon unbewohnt. Vierzig Meilen vor Miami, was den Zugang zu den Staaten erleichtert aber auch die Verschiffung nach England.«

»Was ist mit den Piraten?«

»Welche Piraten?«

»Hast du letzte Woche den Bericht der DEA nicht gesehen? Einige südamerikanische Kartelle gehen weg von den Bahamas, weil dort haitianische Piraten die Gegend unsicher machen. Die kommen in fetten Schnellbooten angeflitzt, schießen alles in Fetzen und krallen sich den Stoff.«

»Okay, dann vielleicht Kuba. Die Amerikaner können das Luftgebiet nicht verletzen, also kann die DEA auch nicht nach dem Rechten sehen. Außerdem sind kubanische Beamte leicht zu bestechen.«

»Du hörst wohl nie auf, was?« Steve rieb sich die Augen. »Also ich hau mich hin.«

Nathan kam ein Gedanke. Womöglich wusste dieser Tony, wo der Verteilpunkt war. Er stieg über einen Stapel Papier auf dem Boden und trat vor den Stadtplan von North London, der an die Wand gepinnt war. Rote Furniernadeln markierten die bekannten Crackhäuser in Islington, Hackney, Haringey und Camden. Es gab Dutzende.

»Tony könnte mittlerweile in jedem davon sein.«

»Ja, da hast du wohl Recht.« Steve kam auf die Beine. »Hat doch keinen Sinn, sich darüber jetzt den Kopf zu zerbrechen.«

»Könnte er wirklich?« Nathan legte den Zeigefinger auf das Crackhaus, dass sie hochgenommen hatten, gleich am Fuße der Dalston Road. Mit dem Daumen zog er einen knappen Halbkreis. »Er hätte gradewegs zu dem hier in North Hackney gehen können oder dem hier nahe der Old Street.« Er wandte sich an Steve. »Was meinst du?«

»Um diese nachtschlafende Zeit? Da sind die doch alle völlig hinüber.«

»Ja, da hast du wohl Recht. Jedenfalls bräuchten wir Verstärkung.«

Nathan sah sich nach seinem Rucksack um. Mit einem Mal war er wieder völlig erschöpft. Steve hatte Recht. Besser, sich hinzulegen und es morgen erneut anzugehen.

Er fand seinen Rucksack unter dem Tisch. »Ah, hier ist er ja.«

»Kommst du?«

Steve starrte auf den Stadtplan. Er hatte die Fäuste geballt.

»Steve?«

»Verstärkung ist für Weicheier.« Steve schlug sich mit der Faust in die offene Hand. »Okay, gehen wir’s an. Fangen wir mit dem in der Old Street an. Ist am nächsten.«

»Nein, ich geh besser nach Hause.« Nathan zog die Jacke an. »Caitlin wird sich Sorgen machen.«

»Eben warst du noch Feuer und Flamme.«

»Und du hast mir eben noch gesagt, ich soll schlafen gehen.«

»Ich hab’s mir anders überlegt. Man soll das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Ich setz dich danach zu Hause ab.«

Nathan rieb sich die Augen. Jetzt, wo sich die Aufregung des Tages gelegt hatte, sagte sein Bauchgefühl ihm, dass das ein Fehler war.

»Ob’s dir schmeckt oder nicht, ich geh trotzdem«, sagte Steve und ging zur Tür. »Dem fetten Sack eine Lektion erteilen.«

Nathan eilte hinter Steve aus dem Zimmer und durch den Eingangsbereich, wo der wachhabende Sergeant gelangweilt Strichmännchen auf einen Block malte.

»Warte.« Nathan griff nach Steves Arm. »Morgen.« Steve schüttelte ihn ab. »Ich mach das jetzt.«

Der Sergeant vom Dienst warf ihnen einen neugierigen Blick zu, als Steve die Wache verließ. Nathan lief ihm nach. Er konnte Steve das unmöglich alleine durchziehen lassen. Auf dem Parkplatz stiegen sie in Steves unmarkierten Dienstwagen. Augenblicke später rasten sie die City Road hinab Richtung Old Street.

Schwarzer Koks
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