Kapitel 69
Bogotá,
Kolumbien
15. April 2011
Als sie wieder in der Pension waren, setzte Nathan den schweren Rucksack auf der Couch im Wohnzimmer ab. Das Arsenal schepperte. Er öffnete den Sack und begann den Inhalt auszupacken, breitete ihn auf der Couch aus, checkte ein Teil nach dem anderen sorgfältig durch. Alles schien in bester Ordnung. Nathan fand Rudolph herzlich unsympathisch, aber als Waffenhändler, das musste er ihm lassen, war der deutsche Ex-Soldat erste Wahl.
Lucia starrte verdrossen aus dem Fenster auf den Verkehr unter ihr. Nathan achtete nicht auf sie. Für emotionale Komplikationen hatte er keine Zeit. Er musste sich jetzt darauf konzentrieren, Amonite und die Front aufzuspüren. Es galt Caitlins Tod zu rächen. Alles andere zählte jetzt nicht.
Nicht zum ersten Mal während der letzten paar Tage griff er auf seine militärische Ausbildung zurück. Genau diese Haltung brauchte er jetzt. Die Konzentration auf den Auftrag. Den klaren Kopf, der es ihm erlauben würde, in Sekundenbruchteilen die richtige Entscheidung zu treffen. Vor allem aber musste er sich wieder darauf einstellen zu töten. Ohne Zögern. Gnadenlos. Es war die einzige Möglichkeit, sich gegen Amonite zu behaupten.
Nachdem er die Waffen durchgesehen hatte, holte er die Karte heraus, die er sich in dem Schutzhaus der Botschaft ausgedruckt hatte. Manuel hatte im Internetcafé ein Stück die Straße hinauf eine Kopie gemacht und war damit zu seinen Campesinos gegangen in der Hoffnung, jemand könnte bei der Lokalisierung des Übergabeorts für die Helikopter behilflich sein.
Er war auf der Karte mit einem Kreuz gekennzeichnet. Nathan fuhr mit dem Zeigefinger die Umrisse der Region entlang: die Grenze im Nordosten bildete der Rio Caquetá, im Süden lag Ecuador, Peru im Südosten, die Anden im Westen. Der Rio Putumayo bildete eine natürliche Grenze zwischen Kolumbien und Ecuador sowie Kolumbien und Peru. Manuel hatte ihm mal erklärt, was Putumayo in der Sprache der Quechua bedeutet: Das Verb putuy bedeutet »heraussprudeln« oder »herausschießen«, mayo oder mayu ist nichts anderes als der »Fluss«. Putumayo war damit der »sprudelnde Fluss«.
»Der sprudelnde Blutfluss«, hatte Manuel mit finsterer Miene hinzugefügt.
Lucia wandte sich vom Fenster ab und riss Nathan zurück in die Gegenwart.
»Manuel ist da«, sagte sie auf dem Weg zur Tür. »Ich habe ihn eben draußen gesehen.«
Sie öffnete die Tür einen Spalt und wartete auf Manuel. Er kam denn auch und machte große Augen, als er das Arsenal auf der Couch sah, sagte aber nichts. Er holte eine Karte aus der Tasche und breitete sie auf dem Couchtisch aus. Nathan trat hinter ihn. Es war eine detaillierte militärische Karte von Putumayo, viel besser als die, die er hatte.
Manuel wies auf eine Stelle östlich des mitten im Dschungel gelegenen Puerto Asis. Es war tatsächlich der Ort, der auf Nathans Karte mit dem Kreuz markiert war.
»Meine Leute bei den Campesinos haben den Ort bestätigt«, sagte Manuel. »Es herrschte dort während der letzten Tage rege Aktivität. Hubschrauber. Mannschaften. Trucks. Ob die Front dort wirklich ihre Basis hat, weiß keiner, aber wir halten es für wahrscheinlich.«
»Könnte auch sein, dass die nur auf dem Durchmarsch sind«, sagte Nathan.
»Das bezweifle ich. Die Paras hatten dort vor Jahren eine große unterirdische Basis tief im Dschungel. Von unseren Leuten war seit einer Ewigkeit keiner mehr dort. Zu abgelegen. Von den schlimmen Erinnerungen ganz zu schweigen. Aber es besteht die Möglichkeit, dass die Front sie übernommen hat.«
»Wie wird das Gerät denn angeliefert.«
»Die Lynx gehen per Frachter von England nach Baranquilla. Von dort aus fliegt man sie nach Putumayo. Sieht ganz so aus, als ginge das alles nur mit Zutun von Sir George.«
»Aber wie konnte er so lange damit durchkommen?«, fragte Nathan. »Ich kann einfach nicht glauben, dass bei der britischen Regierung davon niemand weiß.«
Lucia stöhnte auf. Nathan sah sich um. Sie stand direkt hinter ihm.
»Also mich überrascht das nicht«, sagte sie. »Wir sind hier in Kolumbien. Das ganze Land ist korrupt.«
»Aber wie kommt er in England damit durch? Wie in aller Welt kann jemand wie Cedric davon nichts erfahren?«
»Vielleicht weiß er’s ja «, sagte sie. »Oder Sir George war all die Jahre vorsichtiger als jetzt. Du wärst überrascht, wie verschlagen Menschen sein können.«
Nathan wandte sich wieder der Karte zu. Er starrte darauf in dem Versuch, alle Einzelheiten unter einen Hut zu bekommen. »Kennst du jemanden, der uns da reinfliegen könnte?«
Manuel nickte. »Einen eins a Piloten.«
»Und deine Campesinos wären bereit, uns den Rücken zu stärken?«
»Daran arbeite ich noch. Die Bauern zu organisieren, ist gar nicht so einfach. So entschlossen sie auch sein mögen.« Manuel faltete seine Karte wieder zusammen und steckte sie ein. »Du solltest sie kennen lernen, Nathan. Ich möchte, dass du mitkommst, in die Ciudad Bolivar.«
»Ist dort eure Basis?«
»Eine von vielen.«
»Und was ist mit mir?«, fragte Lucia.
»Bleib für den Augenblick mal besser hier«, sagte Manuel. »Campesinos sind von Natur aus misstrauisch. Und du hast ja nun mal einen gewissen Ruf.«
Eine Wolke legte sich über Lucias Gesicht, aber sie zuckte nur die Achseln.
»Hier, dein neues Telefon.« Manuel warf Nathan ein Handy zu. Er ging auf die Tür zu, wandte sich dann noch einmal an Nathan: »Ich gehe mal Bescheid sagen. Ich sage, dass alles vorbereitet ist und dass du kommst. Gib mir eine Stunde, nur um auf der sicheren Seite zu sein, dann nimmst du dir ein Taxi nach Ciudad Bolivar.«
»Irgendeine bestimmte Adresse.«
»Ich ruf dich an.«
Manuel ging. Nathan sah Lucia an. Sie hatte sich abgewandt und starrte wieder aus dem Fenster. Sie spielte mit der Vorhangschnur. Er begann sein Arsenal wieder in die Tasche zu packen, checkte alles noch ein letztes Mal. Er hörte ein Rascheln hinter sich. Er wandte sich um. Lucia hatte die Vorhänge zugezogen. Sie stand da, die Hände in die Hüften gestemmt, und starrte ihn an. Ihre Lippen bebten, ihr Hals war puterrot. Er wollte sie küssen, sie trösten, ihr sagen, dass alles in Ordnung käme. Aber er sah, dass sie wütend war, wahrscheinlich darüber, dass man sie zurückließ. Er hatte keine Lust, sich mit ihr zu streiten. Nicht jetzt.
Er hob die Tasche auf.
»Nathan?«
Er warf sich die Tasche über die Schulter.
»Nathan!«
Das zweite Mal war viel lauter. Er ging zur Tür.