Kapitel 5

East London, England
4. April 2011

An einem verregneten Montagnachmittag gegen 16 Uhr flog eine unmarkierte private Dassault Falcon den City Airport der britischen Hauptstadt an. Amonite Victor saß alleine in einem der Ledersessel im Fond. Ausdruckslos starrte sie aus dem Fenster, ungerührt von der weißen Kuppel der O2-Arena, der majestätischen Pracht der Glaspaläste der Londoner Innenstadt oder Big Ben.

Der Trip nach Kolumbien hatte sich gelohnt. Die Angriffe in Putumayo waren ein Riesenerfolg gewesen. Eine ganze Reihe der lokalen Kartelle waren zerschlagen, die betreffenden Dörfer – oder was von ihnen übrig war – kirre gemacht. Nach Anlaufschwierigkeiten war die Black Coke-Produktion wieder im Steigen begriffen. Macht und Einfluss der Front erfuhren einen entsprechenden Aufschwung, womit auch Amonites eigener Platz in der Organisation gefestigt war.

Trotzdem konnte sie sich einer gewissen Mutlosigkeit nicht erwehren, einer Beklommenheit, des Gefühls, es würde sich jeden Augenblick ein großes schwarzes Loch unter ihr auftun und sie verschlingen. Warum musste sie sich nur immer gar so lausig fühlen, wann immer alles bestens zu laufen schien? Oder war das nur der Jetlag? Immerhin hatte sie während des Flugs kein Auge zugetan. Und die Mission in Kolumbien hatte sie völlig erschöpft. Sie betastete die Glock in ihrem Schulterhalfter. Es hatte ihr gerade noch gefehlt, nach London kommen zu müssen, um hier nach dem Rechten zu sehen. Es war so riskant wie ihre Tarnung hauchdünn. Sie konnte sich nicht noch mal eine Schießerei leisten wie die vor zwei Wochen mit den Jamaikanern aus Brixton. Wenn ihr die Polizei auf die Schliche kam, wäre sie dran.

Der Geschäftsjet setzte auf der einzigen Landebahn des City Airports auf und rollte auf einen abgelegenen Hangar zu. Nachdem er zum Stehen gekommen war, stand Amonite auf und strich sich das schwarze Outfit – Seidenbluse und Hose – glatt. Sie zog sich ihren langen schwarzen Mantel über, die schwarzen Handschuhe, bückte sich und wischte ein Stäubchen von ihren glänzenden schwarzen Schuhen.

Zufrieden mit ihrer Erscheinung, stieg sie die Metalltreppe hinab auf die Rollbahn. Sie ignorierte die drei Männer in adretten grauen Anzügen, die sie mit auf dem Rücken verschränkten Händen unten erwarteten. Regen prasselte auf den Asphalt, als sie den Hangar verließ. Forsch schritt sie auf den Terminal zu; die drei Männer eilten wie Hündchen hinter ihr drein.

»Ms. Victor, wir sind hier, um–«, sprach sie einer von ihnen an.

Sie stieß ihn beiseite. Er stolperte in einen seiner Kollegen.

»Der Boss hat uns geschickt, um Sie zu begrüßen«, rief ihr einer seiner Kollegen nach.

Sie eilte weiter, hielt auf einen seitwärts gelegenen Ausgang zu. Sie hielt einem jungen Zollbeamten ihren Pass unter die Nase und der winkte sie durch.

Eine Hand ergriff ihren Arm. Es war der Dritte von den dreien.

»Der Boss hat uns strikte Anweisungen gegeben, Ihnen–«.

Amonite fuhr herum. »Was?«

»Ihnen… Ihnen in jeder Hinsicht behilflich zu sein.«

»Traut er mir nicht über den Weg?«

»Ich glaube nicht, dass es hier um…«

Aber sie stürmte bereits davon in Richtung Taxistand. Sie sprang in ein schwarzes Taxi.

»Bethnal Green. Treten Sie drauf.«

Das Taxi fuhr los. Sie drehte sich um. Die drei Männer standen hinter ihr auf dem Gehsteig. Ratlos kratzten sie sich am Kopf. Vermutlich überlegten sie, wie sie das Sir George erklären sollten. Amonite machte es sich bequem. George hätte Verstand genug haben sollen, auf ein Begrüßungskomitee zu verzichten.

Heruntergekommene Lagerhäuser und weitläufige Sozialbausiedlungen strömten vorbei. Banden von Jugendlichen hingen an den Ecken herum. Betrunkene wankten die öffentlichen Parkanlagen entlang, jeder mit einer Dose besonders starken Biers in der Hand.

Sie checkte sich im Rückspiegel. Sie wusste, dass sie hässlich war. Punkt. Ihre Augen standen zu eng, ihre Nase war zu stumpf, ihre Lippen zu dünn. Gesicht und Hals waren aufgedunsen und mit Akne überzogen wie ein Schlachtfeld nach einem Bombenteppich. Das kurze Haar auf dem Kopf dünnte für ihre 38 Jahre viel zu schnell aus. Dafür machte sich an ihrem Kinn mit aufreizender Entschlossenheit ein Meer von Borsten breit.

Sie rieb sich Bräunungscreme ins Gesicht und fuhr sich mit der Hand über das kurz geschorene Haar. Aus einem Fläschchen klopfte sie sich drei Dianabol in die offene Hand. Sie starrte sie kurz an und warf sie sich dann in den Mund.

Wen zum Teufel interessierte schon das Aussehen. Was zählte, waren Kraft und Macht.

»Sind Sie Amerikaner, Sir?« Der Fahrer sah sie neugierig an. »Sie haben wohl was Besonderes vor?«

Amonite steckte das Fläschchen weg. Was zum Teufel wollte der Kerl?

»Maskenball?«, fragte er.

»Wie meinen?«

»War nur ein Scherz, Sir.«

Amonite spürte, wie sie rot anlief.

»Halten Sie an«, sagte sie.

»Hören Sie, Chef, das war doch nur Spaß.«

Amonite schlug mit der Faust gegen die durchsichtige Plastikscheibe, die sie von ihrem Fahrer trennte. Sie hatte sofort einen Sprung.

»He!«, rief der Fahrer mit einem Blick über die Schulter.

»Sie sollen verdammt noch mal anhalten, hab ich gesagt!«

»Hören Sie, Chef, es war nur ein Scherz.«

Amonite riss ihre Pistole heraus und schob sie dem Fahrer durch den Riss in den Nacken. »Noch eine blöde Bemerkung und du hast ein nietnagelneues Arschloch im Hinterkopf. Alles klar?«

Der Mann nickte hastig; er hatte bereits Schweißperlen im Nacken.

»Und dein Chef bin ich auch nicht – zu deinem Glück.« Sie steckte die Waffe wieder weg. »Und jetzt pass verdammt noch mal auf die Straße auf und halt’s Maul.«

Der Fahrer fuhr schweigend weiter. Über die Gegensprechanlage war sein schwerer Atem zu hören.

Amonites Laune ging in den Keller; sie zog sich vollends in sich zurück. Für gewöhnlich war es ihr scheißegal, was man von ihr dachte. Aber an diesem Tag war das aus irgendeinem Grund anders. Ihre Hand rutschte unter den Mantel und spielte mit dem Sicherungsflügel der Glock. Sie könnte den Taxifahrer zwingen, in eine verlassene Nebenstraße abzubiegen und Hackfleisch aus dem Drecksack machen. Ihn sogar exekutieren. Kopfschüttelnd zog sie die Hand wieder heraus. Nicht doch, sie war wegen eines Auftrags in London. Soweit kam es noch, dass sie sich von einem popligen Taxler ablenken ließ.

Sie ließ ihn einige Straßen vor ihrem Ziel halten: ein Pub namens White Lion, gleich östlich von der U-Bahn-Station Bethnal Green. Sie ging an langen Reihen von Backsteinhäusern vorbei und trat ein. Alte Männer mit Hängebacken und verquollenen Augen saßen auf Hockern um wacklige Tische herum. Sie nippten an ihren Bieren und starrten auf den Fernseher in der oberen hinteren Ecke, in dem eine Seifenoper lief. Die Wände zierten große Risse, von denen die vergilbte Tapete weghing. Der Gestank schalen Schweißes hing in der Luft.

Der Wirt saß auf einem Hocker hinter der Bar. Er war ein kleiner magerer Mann mit einem Rüssel von einer Nase, grauem Bart und dünnen Büscheln schmierigen Haars. Er erinnerte sie an einen der alten Pygmäen, die ihr vor Jahren während einer verdeckten Mission in einem vergessenen Dschungel Zentralafrikas untergekommen waren.

»Er ist hinten.« Der Wirt wies mit dem Daumen auf eine grünliche Tür. »Hier durch.«

Amonite stieß sie auf. Drei Gesichter fuhren auf. Alle hatten sie weiße Linien vor sich auf dem ramponierten Tisch. Einer der drei war Tony, die beiden anderen kannte sie nicht. Einer hatte eine gewundene Narbe auf dem rechten Unterarm, eine zerschlagene Nase und eine dicke silberne Kette um das Stielchen von einem Hals. Der andere hatte eine Spinne auf eine seiner Backen tätowiert; er trug einen Kampfanzug und eine rote Kappe, letztere verkehrt herum, wohl in dem vergeblichen Versuch, wie ein Hiphopstar auszusehen.

»Amonite, was für eine Freude«, rief Tony und wischte sich mit dem Hemdsärmel den Koks von der plumpen Nase. Sein rasierter Schädel schimmerte in dem matten Licht der einzigen Birne im Raum. Bei jeder Bewegung wabbelten die Speckfalten um seinen Hals.

Amonite spürte, wie sich ein Lächeln auf ihre Lippen stahl. Es tat gut, jemanden zu sehen, der noch hässlicher war als sie. Sie trat die Tür hinter sich zu. Die Wand bebte. Sie riss ihre Pistole heraus.

»Ich dachte, du wärst untergetaucht«, sagte Tony und sah Amonite dabei von oben bis unten an. Als betrachte er einen Wolkenkratzer.

»Mach den Kopf zu, Tony. Wo ist mein Geld?«

»Das… das ist…«

»Was soll ich mit dem Stoff machen, wenn du das Geld nicht hast?«

Tonys Adamsapfel tat einen Satz.

»Vielleicht schieb ich ihn dir in deinen schleimigen Arsch?«

»Amonite, bitte, ich kann das erklären.«

Angesichts der Verzweiflung in Tonys Stimme überlief Amonite ein wohliger Schauer. Sie wies mit der Pistole auf die beiden anderen Männer. »Wer zum Teufel sind die zwei Schwuchteln da?«

»Jungs, das hier ist Amonite Victor.« Tony wies mit einem zitternden Finger auf sie. »Ich schätze, ihr habt schon von ihr gehört.« Die beiden waren blass geworden. Tony nickte in Richtung des Kerls mit der Narbe. »Der hier ist Nazzer. Dealt für mich.« Er nickte in Richtung des Typen mit dem Tattoo. »Der da ist Frankie. Macht mir die Steuer.«

»Also, Jungs, wo ist mein sauer verdientes Moos?«

Die beiden hoben die Achseln, der Blick ihrer erweiterten Pupillen auf Amonites Glock.

»Amonite, du musst mir zuhören.« Die feisten Hände auf den Tisch gestützt, stand Tony auf. »Wir hatten da, äh… ein kleines Problem.

»Was für ein Problem?«

»Der Stoff ist verschwunden und–«

»He, Nazzer.« Amonites Pistole fuhr herum. »Hände so, dass ich sie sehen kann.«

Nazzer nahm die Hände unter dem Tisch hervor. Amonite bleckte die Zähne. Vermutlich hatte Nazzer da unten eine Waffe versteckt. Wenn er noch einmal danach zu greifen versuchte, würde er es bedauern. Ihre Stimme seelenruhig, wandte sie sich wieder an Tony.

»Also, wo waren wir?«, fragte sie.

»Ich beschaffe dir das Geld morgen.«

Eine blitzartige Bewegung aus Nazzers Richtung; wieder verschwand seine Hand unterm Tisch. Amonite schoss ihm in den Hals. Das Geschoss sorgte für eine Blutfontäne. Nazzer sackte seitwärts weg. Er hielt sich röchelnd mit beiden Händen die Gurgel. Amonite trat auf ihn zu und gab ihm mit einer Kugel in die Stirn den Rest.

Sie wandte sich wieder Tony zu, dessen Mund sich lautlos mehrmals öffnete und wieder schloss.

»Wo hast du denn diese Dumpfbacken aufgetrieben?«

Eine Hand an der Brust, schnappte Tony nach Luft.

Amonite grinste höhnisch. »Hör auf zu koksen, du fettes Stück Mist. Du endest noch im Koma.«

Mit dem Gluckern einer Henne ging sie um den Tisch herum. Zum Teufel mit der Diskretion. Mit Amonite Victor legte sich niemand an.

Direkt hinter Frankie blieb sie stehen. Der stierte hyperventilierend vor sich hin.

»Was den Burschen hier anbelangt.« Sie steckte die Waffe weg und holte eine Drahtschlinge aus der Tasche. Mit einer flüssigen Bewegung öffnete sie sie und schlang sie dem Mann um den Hals. Dann zog sie zu. Frankie wand sich und schlug mit den Fingernägeln nach ihrem Gesicht. Sie beugte sich rückwärts aus seiner Reichweite und zog fester zu.

Frankie fuhr herum. Mit erstaunlicher Kraft bekam er Amonites Taille zu fassen und warf sie um. Amonite schnappte nach Luft. Damit hatte sie nicht gerechnet. Der Draht entglitt ihren Händen. Im nächsten Augenblick war Frankie über ihr und begann mit beiden Fäusten auf ihre Brust einzutrommeln. Mit einem Tritt verschaffte sie sich etwas Distanz und rollte sich seitwärts weg. Noch während sie taumelnd auf die Beine kam, riss sie die Waffe aus dem Halfter.

Frankie stürzte sich auf sie.

Amonite drückte ab. Die erste Kugel warf Frankie ruckartig nach hinten, die nächsten rissen ihn wie einen Kreisel herum. Arme und Beine in unnatürlichen Winkeln von sich gestreckt, fiel er um.

»Wo, meinst du, dass du hingehst?«, rief Amonite Tony nach, während sie sich vollends aufrichtete.

Auf halbem Weg zur Tür blieb Tony wie vom Blitz getroffen stehen.

»Hier hast du noch was für deine Junkies.« Amonite warf drei in Plastikfolie verschweißte kleine Ziegel auf den Tisch.

»Wie ist denn die erste Probe angekommen?«

»Sie waren ganz wild drauf.«

»Gut. Nachschub ist unterwegs. Sieh einfach zu, dass du mein Geld auftreibst.«

Tony wankte zurück an den Tisch. Er zog die drei Ziegel durch die weißen Linien auf dem Tisch auf sich zu. Schnaufend sank er zurück auf den Stuhl.

Amonite verließ das Hinterzimmer. Der Schankraum war wie leergefegt. Halb ausgetrunkene Gläser standen auf den Tischen wie die Überbleibsel einer Party. Sie ging hinaus auf die Straße. Der kühle Regen tat gut im Gesicht. Sie atmete tief ein und spürte den Rest ihres Zorns versickern. Sie schlug die Richtung zum Markt ein, auf dem es vor Kundschaft nur so wimmelte. Sie nahm sich einen leuchtend roten Apfel von einem der Stände. Der Verkäufer sah gerade in die andere Richtung, in die Unterhaltung mit einem Kunden vertieft. Während sie davonschlenderte, warf sie den Apfel in die Luft und fing ihn wieder auf.

Sie konnte Schnitzer nicht haben und Tony hatte einen Mordsmist gebaut. Leute mussten für ihre Fehler bezahlen. Wenn er das Geld morgen nicht hätte, würde sie auch ihn töten müssen. Das war nichts Persönliches. Geschäft war Geschäft.

Sie biss in den Apfel. Er war knackig und saftig. Hinter ihr war eine Sirene zu hören. Es wurde geschrien. Offensichtlich hatte man die Leichen entdeckt. Es würde sich bald wie ein Virus bei den Gangs herumsprechen: Amonite Victor, die Totgeglaubte, war wieder da.

Schwarzer Koks
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