Kapitel 71

Bogotá, Kolumbien
15. April 2011

Was zum Teufel hatte sie sich dabei nur gedacht? Die Beherrschung zu verlieren wie ein Teenager! Sich nicht unterbuttern zu lassen, war eine Sache, aber sie musste ihre Ausbrüche in den Griff bekommen.

Lucia legte die Beine übereinander und stieß dabei an den Couchtisch.

»Scheiße.«

Eine Kaffeetasse fiel um, der Kaffee schwappte ihr über die Jeans, direkt in den Schoß, und auf das Sofa.

»Scheiße. Scheiße. Scheiße.«

Sie lief in die Küche, stellte die Tasse in die Spüle und tupfte sich mit einem Geschirrtuch über den Fleck. Es half nichts. Sie würde sich umziehen müssen.

Einige Minuten später kam sie im Morgenmantel aus dem Schlafzimmer, ein Federbett um die Schulter. Sie sank wieder auf die Couch, stellte den Fernseher an und durchsuchte das Menü für Pay-per-View-Filme.

Sie musste an Nathan denken. Er war so besorgt gewesen, so liebenswürdig, ja liebevoll – als hätte er ihren Körper seit Jahren gekannt. Dass die toughe, abgebrühte Lucia Carlisla beim Anblick eines britischen Drogenfahnders zum zitternden Schulmädchen werden sollte – Joanna würde sie auslachen.

Lucia griff nach der halbleeren Flasche Malbec und schenkte sich ein halbes Glas ein. Nathan hatte einen so verwirrten Eindruck gemacht, als er am Gehen war. Also warum hatte sie ihn so angefahren? Er war der ruhige, reservierte Typ, fast kühl. So viel wusste sie mittlerweile. Aber er hätte wenigstens einen Versuch machen können, mit ihr zu reden, anstatt einfach zu gehen.

Sie hörte Schritte auf dem Flur. Wahrscheinlich die Suffköpfe aus dem Apartment nebenan, denen sie im Aufzug begegnet war.

Sie trank einen Schluck Wein und scrollte sich in die Abteilung mit Liebesfilmen. Dann sah sie auf der Uhr auf dem Kaminsims, wie spät es war: 21.55. In ihrem Magen grummelte es. Sie stellte den Ton ab und ging in die Küche. Sie öffnete den Kühlschrank: Eier, Käse, Tomaten, Zwiebeln, Salami, Butter. Sie verrührte die Eier, gab eine Tomate und eine Zwiebel dazu. Huevos pericos waren zwar ein Frühstück, aber sie war am Verhungern, und sie waren ihre Leibspeise. Außerdem war sie allein, also wen kümmerte es. Sie strich eben Butter auf eine Scheibe Toast, als sie eine Tür hörte.

Sie erstarrte.

Wie sollte sie jemand gefunden haben? Das Apartment war unter einem anderen Namen gemietet. Sie waren besonders vorsichtig gewesen. Kein Mensch im Hotel oder in der Gegend kannte sie.

Sie schüttelte sich. Sie war einfach zu nervös, zu schreckhaft.

Ein Klicken.

Sie zog ein Küchenmesser aus dem Block und schlich zur Tür. Sie spürte ihren Herzschlag in den Schläfen. Das Wohnzimmer war leer. Der Fernseher hatte von selbst auf die Nachrichten umgeschaltet. Man zeigte Bilder von einem weiteren öffentlichen Gebäude nach einem Bombenattentat der Front.

Es war niemand im Wohnzimmer.

Sie stellte den Ton wieder an. Diese ekelhafte Nachrichtensprecherin war dran, diese Sylvia Lituni, in einem ihrer Power-Outfits. Sie unterhielt sich mit einem Regierungssprecher. Beide schienen so überrascht über die Macht der Front 154 wie über die Gerüchte um ihre Verbindungen zur ASI. Hätte Sylvia sie neulich nur ausreden lassen, sie hätte ihr alles darüber sagen können – und womöglich einigen Menschen das Leben gerettet. Man kam auf die bevorstehende Präsidentengala für die Opfer von Kolumbiens inneren Konflikten zu sprechen. Lucia stieß ein hohles Lachen aus und stellte den Ton wieder ab. Eine Gala. Was für eine Heuchelei! Nichts als eine PR-Aktion, damit die Großen und Guten sich besser fühlten, was ihre verheerende Politik anging.

Ihr kam ein Gedanke. Sie schob ihn beiseite. Der Präsident würde mit ihr nichts mehr zu tun haben wollen. Nicht mit einer Stigmatisierten wie ihr; sie war ein Risiko. Dennoch, er war ein guter Freund der Familie gewesen. Im Fernsehen zeigte man jetzt Bilder über verwüstete Anbauflächen mitten im Dschungel; dann die Nahaufnahme eines ekelhaften schwarzen Käfers. Wahrscheinlich ein weiteres Umweltdesaster infolge der Begasungsaktion.

Sie wandte sich wieder der Küche zu. Der Holzboden knarrte.

Lucias Puls überschlug sich sofort wieder. Sie schlich den Flur hinab, an der Diele vorbei. Sie warf einen Blick ins Bad. Es war leer. Sie ging in das Schlafzimmer.

Eine Hand legte sich über ihr Gesicht, riss ihr den Kopf nach hinten, erstickte ihren Schrei. Eine zweite Hand packte ihren Arm und zwang sie, das Messer fallen zu lassen. Klappernd landete es auf dem Boden. Ihr Angreifer zerrte sie nach hinten, zurück ins Wohnzimmer. Sie versuchte mit den Ellbogen auf ihn loszugehen. Der Griff war zu stark. Sie wand sich unter ihm, aber die Hand auf ihrem Gesicht drückte nur noch fester zu. Sie bekam keine Luft mehr. Sie biss zu, so fest sie nur konnte. Trotzdem zog man sie nach hinten.

Man knebelte sie. Zog ihr eine Kapuze über. Man riss ihr die Hände auf den Rücken, fesselte sie. Dann stieß man sie auf die Couch. Sie versuchte aufzustehen, trat mit den Füßen. Man schlug sie so hart in den Magen, dass sie nach Luft schnappend zusammenklappte. Sie stöhnte. Alles in ihrem Kopf drehte sich.

»Wo ist Kershner?«

Es war eine tiefe, raue Stimme, nicht ganz Mann, nicht ganz Frau. Wieder versetzte man ihr einen Schlag, diesmal gegen die Brust. Ein stechender Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen.

Wieder die Stimme: »Lass sie reden.«

Jemand griff unter die Kapuze und nahm ihr den Knebel aus dem Mund. Dann schlug man ihr gegen die Wange, ein Schlag, der durch die Kapuze gemildert wurde. Blut mischte sich auf ihrer Zunge mit Speichel. Sie spuckte es aus.

»Sag mir, wo Kershner ist«, sagte die Stimme.

Lucia schüttelte den Kopf. Rasender Zorn hatte ihre Angst ersetzt.

»Ich habe dir doch gesagt, dass sie ein toughes Luder ist«, sagte die Stimme.

»Lass mich mal.« Diese Stimme gehörte einem Mann. Sie hatte sie schon mal irgendwo gehört.

»Tu dir keinen Zwang an.«

Man stopfte ihr den Knebel wieder in den Mund. Sie versuchte zu schreien, als die Schläge auf sie einhagelten. Sie warf sich zu Boden, versuchte wegzurollen; sie schrie, drohte aber an dem Knebel zu ersticken. Verzweiflung mischte sich in die Qualen. Sie waren hier in Kolumbien. Hier wurde jeden Tag einer ermordet oder entführt. Selbst wenn ihre Nachbarn sie hörten, würde keiner Hilfe rufen.

»Stopp!«

Noch ein Schlag. Diesmal gegen Lucias Schienbein.

»Verfluchte Scheiße, Dex«, sagte die erste Stimme. »Ich sagte, stopp!«

»Okay, okay«, sagte der Mann, den die erste Stimme Dex genannt hatte. »Ist wirklich ein zähes Luder, die kleine Schlampe.«

»Nimm ihr die Kapuze ab und den Knebel.«

Lucia blinzelte, als das Licht im Zimmer sie blendete. Durch den Nebel ihrer Schmerzen sah sie schemenhaft zwei Gestalten vor ihr aufragen. Sie versuchte die Hände zu heben, um sich zu schützen, aber sie waren hinter ihrem Rücken zusammengebunden. Sie wälzte sich herum und begann davonzukriechen.

»He, wo willst du denn hin?« Ein Paar kräftiger Hände warfen sie zurück auf die Couch. Lucia trat um sich und erwischte ihren Angreifer im Schritt.

»Dummes Luder!«, rief Dex und hob einen Baseballschläger. Die andere Person fiel ihm in den Arm. »Lass fallen.«

Dex rang mit sich, bevor er den Schläger fallen ließ. Die Hände zwischen den Beinen, warf er sich in den Sessel. Lucia erkannte die gezackte Narbe auf seiner Backe und wäre fast in Ohnmacht gefallen. Dex war der Mann aus der Bar, dem sie das Bier übers Hemd geschüttet hatte.

Sie versuchte sich auf die Person vor ihr zu konzentrieren. Sie war groß und gebaut wie ein Rugbyspieler. Ihr Gesicht war grob, die Nase plump, die Lippen dünn, die dunklen Augen standen eng beisammen.

Dann kam es ihr; die Person war gar kein Mann.

»Amonite Victor«, stammelte Lucia durch ihre zerschlagenen Lippen.

»Hi, Lucia.« Amonite grinste, was Lucia ihre kaputten Zähne sehen ließ. Lucia stockte der Atem.

Amonite kniete neben ihr, die Hände auf ihren Knien. »Willst du mir jetzt sagen, wo Kershner sich verkrochen hat, oder müssen wir die Daumenschrauben anwenden?«

Lucia schüttelte den Kopf.

»Bloß weil dich einer gefickt hat, meine Gute, heißt das doch nicht, dass er dich auch liebt.«

Lucia spuckte Amonite ins Gesicht. Der Speichelfaden lief ihr über die Wange auf die Lippen. Amonite wischte ihn mit dem Ärmel weg.

»Das wirst du noch bereuen«, sagte sie.

Ein Telefon klingelte. Dex zog eines aus der Tasche und sah nach dem Display.

»Dieser Deutsche ist dran«, sagte er und reichte Amonite das Telefon.

»Wir haben sie gefunden«, sagte Amonite in den Apparat. »Sie ist nicht sehr kooperativ.« Sie hörte zu, kratzte dann die Haare an ihrem Kinn. »Gute Idee. Bring sie her.«

Amonite warf Dex das Telefon zu.

»Wir erwarten einen Freund von dir«, sagte sie mit einem höhnischen Grinsen für Lucia. »Mit einer kleinen Überraschung.«

Lucia sank auf die Couch zurück. Der Deutsche konnte nur Rudolph sein. Er hatte ihr in der Hütte gedroht für den Fall, dass sie nicht mit ihm ins Bett ging. Aber sie hätte nie gedacht, dass er sie an die Front verraten würde. Er musste Nathan und ihr zu der Pension gefolgt sein und Amonite die Adresse gegeben haben.

Amonite lachte, aber es hörte sich an wie das Quieken eines Schweins.

»Diesmal, meine Gute«, sagte sie, »denke ich, wirst du reden.«

Schwarzer Koks
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