Kapitel 3

Putumayo, Kolumbien
30. März 2011

Die Kampfhubschrauber schwebten über ihnen wie hungrige Geier auf der Suche nach Aas. An Manuel gedrängt, kauerte Nathan im dichten Unterholz und bat einen Gott, an den er nicht glaubte, dass die Todeskommandos sie trotz ihrer starken Feldstecher nicht sahen.

Einer der Apaches sank auf eine Höhe von wenigen Metern über den Baumwipfeln. Der Wind seiner Rotorblätter sorgte für einen Tornado aus Laub. Die Bäume zitterten, als wollten sie brechen. Nathan hielt den Atem an. Manuel mit seinem einen guten Auge starrte ausdruckslos vor sich hin. Die Braue über der schwarzen Klappe zuckte. Nathan war schier starr vor Angst in Erwartung des Hustens einer Maschinenkanone. Ein schwarzer Käfer krabbelte sein Bein hinauf. Nathan hätte am liebsten geschrien.

Er biss sich so hart auf die Zunge, dass er Blut zu schmecken begann. Mit dem Handrücken wischte er sich den Käfer vom Bein. Der verdrückte sich mit einem entrüsteten Schnappen seiner Zangen in einem Haufen verrottenden Laubs.

Der Kampfhubschrauber entfernte sich, um zu den anderen zu stoßen. Binnen weniger Sekunden war wieder nichts als das übliche Tohuwabohu des Dschungels zu hören. Über ihnen schnatterten einige Affen.

Nathan wandte sich an Manuel. »Du musst mir sagen, was hier vor sich geht.«

»Sie machen Jagd auf Überlebende«, sagte Manuel, als sie wieder aufstanden.

»Derart weit vom Angriffsbereich?«

»Möglich.«

»Scheint mir merkwürdig.«

Ein Schatten bewegte sich. Nathan griff nach Manuels Arm. Sie duckten sich. Kaum zwanzig Meter von ihnen bahnte sich irgendetwas einen Weg durch das Laubwerk. Es hielt inne. Nathan hob das Gewehr. Für einen Augenblick verlor er den Schatten inmitten Tausend anderer im Unterholz aus den Augen. Dann bewegte er sich wieder. Es war die Silhouette eines Menschen.

War ihnen jemand gefolgt?

Nathans Zeigefinger krümmte sich um den Abzug.

Der Schatten entfernte sich. Nur der regelmäßige Schlag einer Machete, mit der sich jemand einen Weg durch Lianen und Zweige bahnte, war noch zu hören.

Schweigend warteten sie.

»Ich schätze mal«, meinte Nathan, »das war der, der die Hubschrauber angezogen hat«.

»Der Wald ist voller Menschen.«

»Das wäre ein Zufall zu viel.«

Manuel zuckte die Achseln.

»Manuel, du musst mir sagen, was du über die Front 154 weißt.«

Manuel wischte an einem Baumstamm den Schlamm von seiner Machete.

»Manuel?«

»Ich weiß nichts.«

»Ach, komm. Du weißt, dass du mir trauen kannst. Vertrauen und Loyalität sind alles. Hast du selber gesagt.«

»Darum geht es doch nicht.«

»Ich brauche das für meinen Artikel. Ansonsten ist das hier die Mühe doch gar nicht wert.«

»Nein.«

»Warum nicht, Herrgott noch mal? Ich bin jetzt sechs Wochen in dieser grünen Hölle und habe noch immer keine Ahnung, was hier passiert.«

Manuel stand auf. Nathan ließ die Schultern hängen. Das brachte ihm alles nichts.

»Okay«, sagte Manuel und spähte hinaus in den Regenwald.

»Okay was?«

»Die Front ist ein paramilitärisches Kartell. Eine Mordbande. Sie jagt der Konkurrenz das Kokain ab und verkauft es. Amerika. Europa. Die machen das ganz große Geld.«

»Woher weißt du das?«

»Von den Campesinos«, sagte Manuel über die Schulter, während er wieder drauflos zu hacken begann.

»Aber mir sagen die nichts.«

»Ach?«

Nathan holte ihn ein. »Warum nicht?«

»Weil sie Angst haben, dass du dazugehörst. Warum sonst?«

»Was soll das denn?«, sagte Nathan. »Das ist doch verrückt.«

»Hör zu.« Manuel drehte sich zu ihm um. »Kolumbien ist nicht England. Wir haben hier seit 50 Jahren Krieg. Politiker, Drogenhändler, Pablo Escobar, Todesschwadronen, FARC, CIA, DEA, ASI. Jeder stößt sich an uns gesund. Die Front 154 ist nur ein Haufen Drecksäcke mehr.«

»Und warum will dann keiner über sie reden?«

»Mala suerte

»Über sie zu reden bringt Unglück?«

Manuel nickte.

»Wer ist denn der Kopf der Front 154?«, fragte Nathan.

Manuel setzte seinen Marsch fort.

»Manuel?«

»Das weiß keiner.«

»Irgendeine Ahnung?«

»Nein.«

Nathan schluckte seine Frustration über Manuels Mangel an Kommunikationsfreudigkeit hinunter. Schweigend stapften sie vor sich hin.

»Wo gehen wir eigentlich hin?«, fragte Nathan nach einer Weile.

»In ein Dorf. Ich habe da Verwandte.«

»Nördlich von hier?«

»Ja.«

»Aber von da kamen doch eben die…«

»Ich weiß.«

Sie kämpften sich zwei weitere Meilen durch Wald und Schlamm. Ein Chor aus Hunderten von Fröschen schlug an auf ihrem Weg durch den Sumpf. Zu ihrer Rechten blitzte es rot und blau. Nathan hob das Gewehr. Er entspannte sich wieder, als er einen Ara auffliegen sah.

Sie fanden einen Platz zum Übernachten. Nathan schlug einige Äste ab und baute sich ein behelfsmäßiges Zelt mit dicken Ästen als Zeltstangen und großen Blättern als Dach. Er steckte sich eine Zigarette an und brannte die Blutegel von seinen Beinen. In dem Augenblick, in dem die Sonne unterging, legte sich eine absolute Dunkelheit über sie. Sie schliefen abwechselnd, aber Nathan tat sich schwer mit dem Einschlafen. Immer wieder ging er im Geiste die Ereignisse des Tages durch.

Die Angreifer waren bestens ausgebildete und ausgerüstete Profis gewesen. Was immer Manuel sagte, die Front 154 war mehr als nur eine weitere Bande. Sie war ein bestens organisiertes kriminelles Netz. Aber wer steckte dahinter? Wer finanzierte diese Leute? Wer versorgte sie mit einer derartigen Feuerkraft?

Er schüttelte den Kopf. Seit Jahren führte er jetzt Krieg gegen Drogen, aber nichts wurde besser. Ganz im Gegenteil. So mancher war der Ansicht, die große Zeit der Drogenbarone sei in den Achtziger- und Neunziger-Jahren gewesen, als Pablo Escobar sein weltweites Drogenimperium zu einem der reichsten Männer der Welt gemacht hatte. Sie irrten sich. Und zwar gewaltig. Dieser Tage entwickelten sich einige Kartelle zu ausgewachsenen militärischen Organisationen. Sie stellten ehemalige Soldaten von Spezialkräften als Stoßtruppen ein und leisteten sich das neueste Hightech-Gerät. Ihr Einfluss reichte bis an die höchsten Stellen der Macht. Je härter die Antidrogenbehörden durchgriffen, desto brutaler schlugen diese Kartelle zurück.

Bisher allerdings noch keines mit der Gewalt und dem waffentechnischen Raffinement dieser geheimnisvollen Front 154.

Nathan schlug die Augen auf. Manuel kauerte links von ihm, wie ein Ninja. Die Umrisse seiner Silhouette waren vor denen der dunklen Bäume kaum zu erkennen.

»Kannst du nicht schlafen?«, fragte Manuel.

Nathan schüttelte den Kopf.

»Du bist schon in Ordnung«, sagte Manuel. »Tut mir leid wegen vorhin.«

»Schon gut.« Nathan setzte sich auf. »Ich versteh dich doch. Was ist mit dir?«

»Das Auge. Es tut weh.«

Nathans Beine begannen wieder zu jucken. Er steckte sich eine weitere Zigarette an und krempelte die Hosen hoch.

»Was ist passiert?«

»Vor neun Jahren«, sagte Manuel leise, »hat eine Todesschwadron mein Dorf angegriffen. Sie haben meine Mutter und meine Schwester vergewaltigt. Und dann totgeschlagen. Ein sicario hat meinem Vater eine Kugel in den Kopf gejagt.«

»Tut mir Leid«, sagte Nathan. »Wirklich.«

Die Blutegel fielen von ihm ab, als er sie mit der Zigarette versengte. Er hatte so viele Geschichten wie die von Manuel gehört, seit er hier war. Sicarios sind Mörder, die für wenige Dollar Auftragsmorde ausführen. Viele von ihnen sind nichts weiter als verzweifelte Teenager, die das Geld für ihre Drogensucht brauchen.

»Ich habe mich unter einem Haufen Leichen versteckt«, sagte Manuel. »Es hat sonst niemand überlebt. Ich bekam einen Granatsplitter ins Auge. Ich lief durch den Dschungel, bis ich einen Dorfdoktor fand. Seither machen die Paras Jagd auf mich. Sie wollen keine überlebenden Zeugen.«

»Deshalb also dein Hass auf sie.«

»Ich hasse jeden, der sich in meinem Land breit macht. Die Paramilitärs, die Front, die DEA. Einen wie den anderen.« Er schwieg einen Augenblick, als ließe er sich durch den Kopf gehen, was er eben gesagt hatte. »Und du? Wie sieht’s bei dir aus? Wieso bist du in dieser NRO?«

»Um Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen. Wir schreiben Berichte und veröffentlichen sie.«

»Und du meinst, dass das was bringt?«

»Ich hoffe es.«

»Glaub mir, Nathan, es bringt nichts. Nicht in Kolumbien. Hier hilft nichts außer Waffen und Geld. Wie alt bist du?«

»Vierunddreißig.«

»Hast du Familie?«

»Eine Schwester.«

»Frau? Kinder?«

»Bislang nicht.«

»Warum nicht. Eine Frau, das ist was Gutes. Kinder sind was Gutes. Sie kümmern sich um einen im Alter.«

»Ich habe wohl noch nicht die Richtige gefunden.«

»Ich suche dir eine schöne Kolumbianerin zum Heiraten. Sie wird dich glücklich machen.«

Nathan lachte. Manuels untypische Gesprächigkeit überraschte ihn.

Manuel beugte sich zu ihm herüber. »Sag mir, warum du wirklich hier bist.«

»Hab ich dir doch schon gesagt. Ich arbeite für die NRO Third World Justice. Ich bin hier, um zu helfen.«

»Niemand kommt nach Kolumbien, um zu helfen.«

Froh über den Schutz der Dunkelheit, setzte Nathan sich verlegen zurecht. Er konzentrierte sich auf die Egel. Manuel würde ihm nie verzeihen, wenn er von seiner wahren Mission hier erfuhr.

Manuel brummte etwas, drang aber nicht weiter in ihn. Er setzte sich mit einigem Abstand an einen Baum.

Nathan warf die Zigarette weg. Den Kopf voll surrender Gedanken, legte er sich schließlich hin. Die nächtliche Kakophonie des Dschungels pulsierte im Hintergrund, ein Orchester aus Zirpen, Kreischen, Klopfen, Flügelschlagen, Rascheln, Trillern und Klicks. Die Luft war dick wie Suppe; der Himmel war nicht zu sehen.

Nathan fiel in eine Art Halbschlaf, seine auf Gefahren getrimmten Sinne nach wie vor auf der Hut.

Schwarzer Koks
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