Kapitel 64

Bogotá, Kolumbien
14. April 2011

Nathan schlenderte an den hohen Mauern der Anlage lang. Ein gepanzertes schwarzes SUV mit getönten Scheiben hielt vor dem Tor. Mithilfe von Teleskopspiegeln suchten bewaffnete Posten mit Panorama-Sonnenbrillen die Unterseite nach Bomben ab. Nachdem sie sich die Papiere des Fahrers angesehen hatten, winkten sie den Wagen durch. Dann lehnten sie sich an die Wand, plauderten, steckten sich eine Zigarette an. Als zwei junge Frauen im Minirock vorbeikamen, sahen sie ihnen nach.

Nathan erhaschte einen Blick vom Inneren der Anlage. Der Eingang des Gebäudes lag gerade aus, davor befand sich ein leerer Parkplatz. Der ganze Hof war gekiest. Das Tor schloss sich wieder, bevor er noch mehr sehen konnte. Er ging weiter, tat, als wäre er ein Tourist auf einem Spaziergang.

Er ging ins nächste Café und bestellte einen doppelten Espresso. Er holte den Stadtplan heraus und sah ihn sich noch einmal an. Er hatte definitiv gefunden, wonach er suchte. Aber die Anlage sah mehr nach einem offiziellen Regierungsgebäude aus als nach einer geheimen Basis der Front 154.

Hatte Manuel da etwas missverstanden? Oder war die Front noch mächtiger, als er gedacht hatte?

Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden: Er musste da rein. Er starrte hinüber. Unmöglich, über eine drei Meter hohe Mauer zu klettern, den Stacheldraht obenauf, zu schweigen von den Kameras. Und dann die Wachen. Er hatte das Gefühl, zu Manuel und Lucia zurückgehen zu sollen, um einen neuen Plan durchzugehen.

Lucia…

Seine Gedanken kamen zurück auf ihren Ausbruch im Hotelzimmer. Sie war eine leidenschaftliche Frau, aber hatte er da eine Spur von Besorgnis entdeckt? War sie deshalb so wütend geworden. Oder war das nur Wunschdenken? Wie sollte eine Frau, schon gar eine so gescheite und schöne Frau wie Lucia, sich für einen abgewrackten, einsamen, seelisch aus dem Leim gegangenen Kerl wie ihn interessieren?

Das Koffein kitzelte ihn zurück in die Realität. Die Anlage gegenüber war im Augenblick seine einzige Spur. Er musste da irgendwie unbemerkt rein. Er bezahlte seinen Kaffee und ging in einen Touristenshop, um eine Einwegkamera zu erstehen. Dann lehnte er sich an eine Wand und beobachtete die Straße. Er brauchte nicht lange zu warten. Ein Stück die Straße hinauf schlich ein weiteres gepanzertes schwarzes SUV durch den zähen Verkehr.

Das war seine Chance.

Als das Fahrzeug kurz vor der Anlage war, trat Nathan an den Straßenrand und hob die Kamera ans Auge. Das SUV bremste scharf. Die Tür auf der Beifahrerseite sprang auf. Ein bulliger Kerl im schwarzen Anzug mit kurz geschorenem Haar und Panorama-Sonnenbrille stieg aus.

»He, was bildest du dir ein, amigo?«, rief er in einem Spanisch mit starkem britischem Akzent. »Her mit der Kamera.«

»Tut mir leid«, sagte Nathan auf Englisch und breitete die Hände aus. »Ich wollte meiner besseren Hälfte nur ein paar Fotos mitbringen.«

»Ist mir scheißegal.« Der Mann griff nach der Kamera. »Gib her oder ich tret dir die Zähne in den–«

Nathan packte die Hand des Mannes und drehte sie so heftig nach innen, dass er das Handgelenk brechen hörte. Mit derselben Bewegung trat er beiseite und schlug dem Mann die Handkante gegen den Hals. Als der Mann zusammensackte, fing Nathan ihn auf. Er fuhr mit einer Hand unter das Jackett des Mannes und riss eine Waffe heraus. Dann ließ er den Mann aufs Pflaster fallen und richtete die Pistole durch die offene Tür.

»Keine Bewegung«, sagte Nathan, als der staunende Fahrer unter die Jacke griff.

Der Mann nickte. Nathan warf einen Blick in den Fond des Fahrzeugs. Er war leer.

»Her mit der Waffe«, sagte Nathan.

Der Fahrer griff langsam unters Jackett und händigte ihm seine Pistole aus.

Nathan machte eine Seitwärtsbewegung mit der Pistole. »Und jetzt steig aus.«

Der Fahrer stieg aus dem Wagen. Die Passanten machten einen weiten Bogen um sie. Kolumbianer hatten gelernt, sich nicht einzumischen, wenn man irgendjemandem den Wagen stahl, auch nicht am helllichten Tag.

Nathan öffnete den Kofferraum. Er winkte dem Fahrer mit der Pistole.

»Schmeiß deinen Kumpel da rein.«

Der Fahrer kam um den Wagen herum, hob seinen Kollegen auf und warf ihn in den Kofferraum. Nathan kramte im Jackett des Bewusstlosen und brachte Geldbörse und Schlüssel zum Vorschein. Er setzte sich seine Sonnenbrille auf. Dann knallte er den Kofferraum zu.

»Steig wieder ein«, sagte er.

Als sie im Wagen saßen, richtete Nathan die Waffe auf die Leistengegend des Mannes.

»Fahr los. Und versuch nicht, mich zu verarschen. Ist das klar?«

Der Fahrer nickte. Er war ein junger Kerl mit scharf geschnittener Nase und blauen Augen. Der Schweiß lief ihm übers Gesicht auf den grauen Anzug.

»Du bist der Typ, den sie suchen, stimmt’s?«

»Drück drauf«, sagte Nathan.

»Das bist du doch, oder? Man hat uns Fotos von dir gezeigt.«

»Mach hin, bevor mir der Kragen platzt.«

»Mein Gott! Tu mir nichts, bitte. Ich habe zwei Jungs und eine Frau.«

»Hör zu, Sportsfreund.« Nathan stieß dem Mann die Pistole in die Rippen. »Halt einfach’s Maul und fahr zu.«

Der Wagen fuhr langsam an und reihte sich in den Verkehr ein. Dann beschleunigte er. Nathan ging die Geldbörse des Mannes durch, bis er gefunden hatte, was er suchte: einen Ausweis. Er war von der Britischen Botschaft ausgestellt. Das bedeutete, dass es sich bei der Anlage um eine Art sicheren Unterschlupf handelte. Der Typ hieß Harry Singleton und war wahrscheinlich irgendein kleiner Agent, der um etwas Einsatzerfahrung willen nach Kolumbien abkommandiert worden war. Bevor er bei MI6 in London an irgendeinem Schreibtisch landete.

Der Fahrer sah Nathan verstohlen von der Seite her an. Seine Linke lag nicht mehr auf dem Steuer. Nathan setzte ihm den Lauf der Pistole an die Stirn. Er beugte sich vorneüber und holte das zwischen den Sitzen versteckte Messer hervor.

»Spiel hier nicht den Helden«, warnte Nathan und warf das Messer auf den Rücksitz.

Der Fahrer richtete den Blick wieder auf die Straße. Sie fuhren plötzlich durch eines der Glasscherbenviertel von Bogotá: baufällige Behausungen, Gangs an jeder Ecke; in Lumpen gehüllte Kinder spielten mit Mülltonnen, stießen sie um, rollten sie auf die Straße. Ein knochiger Köter stöberte in einem Haufen Unrat, bis er etwas Essbares fand.

»Dreh um«, sagte Nathan.

»Wohin denn?«

»Na da, wo ihr hinwolltet.«

Einige Minuten später passierten sie eine leere Nebenstraße.

»Halt an«, sagte Nathan. Der Fahrer trat auf die Bremse. »Fahr rückwärts hier rein.«

»Hören Sie, Mister, ich bin nur ein Fahrer. Ich weiß nichts über die Front.«

»Wer hat denn was von der Front gesagt? Ich sagte, fahr rückwärts hier rein. Okay, schon besser.« Nathan winkte mit der Waffe. »Und jetzt raus.«

Der Fahrer fiel schier aus dem Wagen. Nathan sprang auf der anderen Seite hinaus. Er fuhr herum und richtete die Waffe über den Wagen hinweg auf den Mann.

»Und jetzt in den Kofferraum.«

»Bitte, Mister–«

Nathan ging um den Wagen herum. Er zog dem Fahrer die Pistole über den Hinterkopf, fing ihn auf und verstaute den Bewusstlosen neben seinem Kollegen.

Dann setzte er sich hinters Steuer und fuhr auf das Tor der Anlage zu.

Schwarzer Koks
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