Kapitel 28
Acton Town,
England
12. April 2011
Nathan ließ die Tür seines Hotelzimmers hinter sich zuknallen. Er drückte einen Schalter. An der Decke erwachte eine Birne zum Leben, dessen Licht ihre liebe Mühe damit hatte, auch nur die Mitte des Raums zu erhellen. Er warf den Rucksack auf das Bett, wo er mit einem Bums landete, als wäre er auf einen Betonsockel geknallt. Das Zimmer roch nach schalem Schweiß wie die Umkleide einer Boxhalle nach einer zweistündigen Sparringsession. Das Bettzeug war zerkrumpelt, schmierig und voller Flecken. Die Wände strotzten vor Graffiti, Andenken an die Horden junger Rucksacktouristen, denen diese Kellerzelle in Londons Südwesten Sprungbrett für größere Abenteuer gewesen war.
Nathan checkte das Fenster. Es war vergittert und führte hinaus auf graues Mauerwerk, die Scheibe hatte einen Sprung. Von der Straße darüber drang ein Lichtstrahl in das eisige Zimmer; Staubflocken tanzten in seinem schier unheimlichen rötlichen Licht. Eine Düsenmaschine röhrte über die Stadt. Heathrow war nicht sehr weit.
Er legte sich aufs Bett und zog die Füße an. Er schob den Rucksack als Kopfkissen gegen die Wand. Wenn er nur schlafen und alles vergessen könnte…
Er schüttelte den Kopf. Wieder wählte er die Nummer, die Cedric ihm für den Notfall gegeben hatte.
Es klingelte. Und klingelte.
Er ging ins Bad. Er schrubbte sich in dem braunen Wasser des Waschbeckens die Hände. Sie rochen noch immer nach Blut.
Caitlins Blut.
Siedend heiß stellte sich ihr Bild wieder ein. Wie sie dagelegen hatte: die durchschnittene Kehle, die verstümmelte Brust, nach wie vor blutend, Tropfen ihres Bluts auf dem Boden.
Er setzte sich auf die Bettkante. Er wollte, dass der Sturm in seinem Kopf sich legte. Amonite war ihm in die Bibliothek gefolgt, hatte ihn aber nicht umzubringen versucht. Warum? Hatten Sie ihn nur abschrecken wollen?
Er legte sich zurück. Mit tiefen Atemzügen versuchte er seine Gedanken loszulassen, versuchte sich zu entspannen, seine Gefühle in den Griff zu bekommen. Aber sie waren einfach zu stark. Er hätte noch nicht einmal sagen können, ob er nun wütend war, verzweifelt, traurig oder alles zugleich. Das erste Mal, dass er sich so gefühlt hatte, das war nach dem Tod zweier Kameraden in Sierra Leone gewesen. Nur dass das hier noch schlimmer war. Sie waren Soldaten gewesen. Sie wussten, was sie erwartete.
Er setzte sich auf und ging unter die Dusche. Spotzend kam etwas Wasser heraus. Er griff sich ein dünnes Stück Seife vom Waschbecken und schrubbte sich, bis er am ganzen Körper rot war. Während er sich abtrocknete, begann ein Plan Gestalt anzunehmen. Er zog Hemd und Hose über, griff dann nach dem Telefon. Noch immer zitterte ihm die Hand.
»Manuel?«
»Nathan! Warum hast du dich nicht mehr gemeldet?«
»Ich komme zurück. Wo bist du denn?«
»In Bogotá. Ich treffe mich mit Leuten aus der Campesino-Bewegung.«
»Wie lange wird das denn dauern?«
»Zwei Tage. Dann geht’s wieder nach Putumayo.«
»Okay«, sagte Nathan. »Wir treffen uns dann in Bogotá.«
»Stimmt was nicht?«
Nathan hatte sofort einen Kloß im Hals.
»Nathan?«
»Alles in Ordnung. Ich möchte nur das eine oder andere checken. Dazu muss ich noch mal rüber.«
»Es gibt da jemanden, den du kennen lernen solltest. Sie kann helfen.«
»Wer denn?«
»Kann ich am Telefon nicht sagen. Ruf mich an, wenn du da bist.« Nathan legte auf. Er sah auf die Uhr: 1.30. Er stellte den Alarm auf halb sieben. Er bezweifelte, dass er einschlafen würde, aber jedes bisschen Ruhe würde ihm guttun.
Sein Telefon summte.
»Nathan? Cedric. Wo zum Teufel steckst du?«
»Sie ist tot.«
»Was ist passiert?«
»Garrottiert. Aufgeschlitzt. Wie ein Tier.«
»Nathan, hör mir zu.«
»Ich hab sie im Stich gelassen, Cedric. Ich habe total versagt.«
»Hör auf!« Cedrics Stimme hatte plötzlich etwas Eisiges. »Du drehst wieder durch.«
»Das werden die mir bezahlen.«
»Auf gar keinen Fall!«
»Sag du mir nicht, was ich tun soll. Nicht jetzt. Nie wieder.«
»Komm ins Büro. Wir reden drüber.«
»Nein.«
»Ich halte meine Hand über dich.«
»Ha! Du erwartest doch nicht, dass ich dir das abkaufe, so wie George sich aufspielt.«
»Um George kümmere ich mich. Aber du musst reinkommen.«
Eine Migräne schoss Nathan in den Kopf wie eine Machete in einen Baum. Sein Blick wurde unscharf.
»Nathan, du musst mir vertrauen. Scotland Yard ist hinter dir her.«
»Warum?«
»Ich sollte dir das nicht sagen.«
»Sag schon.«
»Der Angriff auf Steve. Für die bist du tatverdächtig.«
»Das war George, dieser Schweinepriester!«
»Und noch was, Nathan. Sie haben Caitlin gefunden. Deren Ansicht nach bist du das gewesen.«
Nathan schleuderte das Telefon durch das Zimmer. Es krachte gegen die Wand, die Splitter flogen durch den kleinen Raum. Er brach auf dem Bett zusammen. Er schloss die Augen. Alles drehte sich. Sein Magen spielte verrückt. Ihm war, als drehte ihm jemand das Gehirn durch den Wolf. Ein tiefes, zorniges Schluchzen schüttelte ihn. Er würde sich das nie verzeihen.
Er nahm sich zusammen und setzte sich auf. Er brauchte jetzt einen klaren Kopf. Er musste auf seine Ausbildung bei den Spezialkräften zurückgreifen und diese mit seinen Kenntnissen in Kriminalpsychologie bündeln. Wenn sich einer pathologischen Kriminellen vom Schlage einer Amonite Victor überhaupt beikommen ließ, dann nur so.
Er ging ins Bad und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Er sammelte die Trümmer seines Telefons ein und warf die SIM-Karte in die Toilette. Schließlich nahm er seinen Rucksack vom Bett, bezahlte an der Rezeption und ging hinaus in die kalte Stadt.