Kapitel 34

Turks- und Caicosinseln
12. April 2011

Elijah warf die Reste seines Brathähnchens über Bord. Das Meer begann zu brodeln, als ganze Schwärme von Fischen sich auf die Abfälle stürzten. Ein langes Monster mit einer Reihe gezackter Flossen auf dem Rücken kam geschossen und bediente sich, als wären die anderen gar nicht da.

So war das nun mal in der Natur. Kämpfen. Töten. Überleben. Bei den Menschen war das nicht anders. Das Alte Testament war randvoll mit Beispielen dafür, dass nur die Besten, die Beweglichsten, die Gerissensten überlebten.

Elijah wusste das nur zu gut. Er hatte selbst hart gekämpft, um zu werden, was er heute war: der Chef von Jamaikas kommendem Drogennetz. Und dennoch hielt er sich für einen ehrenwerten Mann. Ein Mann von Wort. Sicher, er war streng, aber er hatte noch nie eine leere Drohung ausgestoßen und blieb immer gesetzt – es sei denn, wenn es darum ging, die ekstatische Schar von Pfingstlern in seiner Kirche durch eine sorgfältig choreographierte Messe zu führen.

Man konnte sich als Geistlicher der Pfingstkirche eine goldene Nase verdienen, hatte sein Vater ihm einmal in einem seltenen Augenblick von Offenheit mit einem Anflug von Bedauern gesagt. Sein Vater hatte zusehen müssen, wie seine eigenen Schäfchen ihm aus der Kirche liefen, als vor zwanzig Jahren die Pfingstwelle über Jamaika hinweggeschwappt war. Elijah hatte sich mehr erhofft. Aber Jamaika war zu arm, um seiner Kirche der Letzten Stunde groß was zu geben, und so war ihm nichts anderes übrig geblieben, als zu diversifizieren.

Im Drogenhandel winkten ungeheure Profite, schon gar einem rührigen jungen Geistlichen mit Verbindungen zu Kingstons Unterwelt. Diese stammten noch aus seiner Kindheit in Trenchtown und garantierten ihm ein gutes Geschäft.

»Boss, wir nähern uns der Insel.« Patrice trat ehrerbietig vor Elijah hin. »Keine Stunde mehr und wir sind da.«

»Und?«

»Noch immer keine Spur von den Leuten.«

»Du regst dich auf wie ein altes Weib.« Elijah winkte wegwerfend ab. »Der Herr hat zu mir heute Nacht im Traum gesprochen. Die kommen schon.«

»Sie hätten sich aber längst melden sollen.«

»Willst du Gottes heilige Botschaft in Frage stellen?«

»Nein, Boss. Ich wollte nur–«

»Dann geh wieder an die Arbeit.« Elijah sah wieder aufs Meer hinaus. Amonite dürfte den Haitianern klare Anweisungen gegeben haben. Die würden schon kommen.

Oder etwa nicht?

Er rief nach Patrice, der in die Kabine hinabgestiegen war, um mit dem Rest der Gang zu sprechen.

Die Stirn in Falten, kam Patrice die Treppe heraufgeeilt. »Ja?«

»Was genau war denn mit den Haitianern vereinbart?«

»Sich per Funk zu melden. Stündlich zur vollen Stunde.«

»Und das haben sie nicht?«

»Nein.«

»Seit wann denn nicht mehr?«

»Seit drei Stunden«, sagte Patrice.

»Warum sagst du denn das nicht?«

»Du warst beschäftigt.«

»In Zukunft unterbrichst du mich, egal, was ich mache. Verstanden?«

Patrice senkte den Kopf, wenn auch nicht schnell genug, um den jähen Zorn auf seinem jungen Gesicht zu verbergen.

Elijah ignorierte ihn. »Sag den Jungs, sie sollen sich bereitmachen. Wir können kein Risiko eingehen. Ich werde den Herrn bitten, uns den rechten Weg zu weisen.«

Patrice steckte den Kopf durch die Luke und bellte einige Befehle hinab. Metall schlug gegen Metall. Elijah schob sich an ihm vorbei. Der ätzende Dunst ließ ihn blinzeln. Sein Team bestand aus vier Gangstern, darunter sein Cousin Dan ›Puff Puff Boy‹ Wesley. Sie holten eben die Waffen aus dem Versteck im Schiffsboden: Glock, Kalaschnikow, die als »Straßenfeger« berüchtigte Ingram Mac-10 nebst Magazinen voll Munition. Schmuddelige Dreadlocks flogen ihnen um die vernarbten Gesichter. Sie hörten sich an wie eine Herde Wildschweine; sie unterhielten sich in gröbstem Patois. Die Äderchen in ihren Augen schienen schier platzen zu wollen von all dem schwarzen Koks, den sie geraucht hatten; sie behaupteten, der »Shit« sei gar noch stärker als Crack.

»Bleibt unter Deck«, sagte Elijah. »Auf mein Zeichen kommt ihr hoch.«

Er gähnte. Er hatte seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen. Seine Gelenke und der Rücken taten ihm viel zu weh; und dann machte er sich Sorgen wegen des Deals. Er ging nach vorne an den Bug, wo Patrice saß und die Beine über die Bordkante baumeln ließ. Seine schwarzen Locken und die straffen Muskeln an seinem nackten Oberkörper schimmerten in der Sonne des Spätnachmittags.

Elijah konnte noch immer nur staunen über seine eigene Großzügigkeit: Erst wenige Monate zuvor hatte er Patrice vor den Schrecken von Kingstons Slums gerettet. Seine Eltern schienen sich nichts dabei zu denken, ihren fünfzehnjährigen Sohn zu verkaufen; sie sahen nur das viele Geld. Patrice hatte ihm mehrmals auszubüxen versucht. Elijah schüttelte den Kopf, als er sich neben Patrice setzte. Kinder wussten einfach nicht, was gut für sie war.

Patrice wollte wieder nach hinten, aber Elijah ergriff ihn am Arm und zog ihn an sich heran. Er küsste ihn. Seine Lippen waren so was von weich; sie schmeckten so gut, dass Elijah eine Regung in der Hose verspürte. Patrice versuchte sich loszumachen, aber Elijah hielt ihn so brutal fest, dass er vor Schmerz das Gesicht verzog; seine Augen wurden feucht.

Befriedigt ließ Elijah ihn los.

»Bleib unter Deck, wenn wir die Insel erreichen«, sagte er zu Patrice im Aufstehen und tätschelte seinen Kopf. »Ich möchte nicht, dass dir was passiert.«

Patrice zog die Knie an die Brust und umschlang sie.

Elijah ging zurück aufs Hauptdeck. Er griff sich einen Feldstecher und hob ihn an die Augen. Er sah rundum nichts als das Meer, Reihe auf Reihe gekräuselter kleiner Wellen; nur gelegentlich durchbrach die Pracht ein blitzender Fisch.

Dann sah er die Insel. Sie säumte gerade den Horizont.

»Land!«, rief er und nahm die Arme hoch. »Gepriesen sei der Herr!«

Patrice kam gelaufen und griff nach dem Steuer. Er brachte den Motor auf Touren. Die Felsen kamen näher, bis die kleinen Einlässe und Buchten zu erkennen waren. Die weißen Sandstrände erstreckten sich über hunderte von Metern. Ein Postkartenidyll.

»Mach mal langsamer«, sagte Elijah, der wieder durch den Feldstecher spähte. Der Strand zeigte nicht die Spur von Leben. Was zu erwarten war. Die Haitianer würden ihre Anwesenheit kaum an die große Glocke hängen; es gab in der Gegend Kontrollflüge der DEA. Nervös bei dem Gedanken, blickte er nach oben. Nach allem, was er gehört hatte, war das Equipment der DEA so gut, dass sich damit noch aus mehreren tausend Fuß Höhe die Marke einer Waffe erkennen ließ.

Trotzdem, die Insel wirkte zu still.

»Wo könnten die stecken?«, überlegte er laut.

Patrice stand etwas zu nahe. »Wo soll man da schon groß hin außer hinter die Felsen? Deshalb wird Amonite die Insel ausgesucht haben, schätz ich mal.«

»Irgendwas stimmt da nicht. Fahr ganz langsam ran.«

Patrice beugte sich Elijah zu. »Boss.«

»Ja?«

»Wegen Wes«, sagte Patrice leise. »Er ist hackezu.«

»Siehst du nicht, dass ich beschäftigt bin?«

»Aber–«

»Sei still. Sag den anderen, sie sollen raufkommen. Gib mir was zu schießen.« Patrice gab den Befehl an die anderen weiter, die aus der Kabine kamen und sich flach aufs Deck warfen. Patrice reichte Elijah eine Pistole. Der nahm sie in die rechte Hand, während er sich mit der linken den Feldstecher vor die Augen hielt. Die Insel rückte näher. Sie maß kaum einen Kilometer, aber die Felsen ragten in allen Richtungen weit genug ins Meer, um Schutz gegen die neugierigen Augen vorbeifahrender Schiffe und die Elemente zu bieten, falls ein Sturm aufkam.

Die Jacht glitt auf den Strand zu. Elijah kniete nieder. Er bat Gott um Schutz. Er leckte sich über die Fingerspitzen und stippte sie in den kleinen Beutel schwarzen Koks in seiner Tasche. Er rieb sich die Droge ins Zahnfleisch und spürte im nächsten Augenblick schon den Rush. Die bleierne Schwere in seinen Gelenken verschwand. Die Welt um ihn wurde klarer, schärfer. Er stand auf. Eine Welle von Energie schwappte über ihn hinweg, als hätte jemand einen Schalter gekippt. Er betastete die Waffe.

»Sollen die Haitianer kommen«, flüsterte er. »Der Herr ist mit mir.«

»Boss«, sagte Patrice hinter ihm.

»Was ist denn jetzt wieder?«

»Es könnte ein Hinterhalt sein.«

»Epheser 6, 11: Ziehet an den Harnisch Gottes, dass ihr bestehen könntet gegen die listigen Anläufe des Teufels.«

Patrice antwortete nicht. Er brachte die Jacht gut ein Dutzend Meter vom Strand zum Stehen. Elijah fuhr sich mit der Zunge über den Flaum auf den Zähnen.

Die Haitianer sind deine Rivalen. Töte sie.

Elijahs Augen wurden schmal. Die Stimme hatte Recht. Aber zuerst musste er sich mit den Haitianern treffen, ihr Vertrauen gewinnen. Dann galt es, hart zuzuschlagen. Durch einen weiteren Rush aufgeputscht, trat er sich die Schuhe von den Füßen und sprang angezogen ins Meer. Ohne auf Patrices Rufe zu achten, schwamm er aufs Ufer zu. Er hielt die Waffe mit einer Hand aus dem Wasser. Kaum hatte er Boden unter den Füßen, stand er auf und watete an den Strand.

Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass jemand hier war. Keine Fußspuren im Sand. Nichts.

Schwarzer Koks
titlepage.xhtml
part0000.html
part0001.html
part0002.html
part0003.html
part0004.html
part0005.html
part0006.html
part0007.html
part0008.html
part0009.html
part0010.html
part0011.html
part0012.html
part0013.html
part0014.html
part0015.html
part0016.html
part0017.html
part0018.html
part0019.html
part0020.html
part0021.html
part0022.html
part0023.html
part0024.html
part0025.html
part0026.html
part0027.html
part0028.html
part0029.html
part0030.html
part0031.html
part0032.html
part0033.html
part0034.html
part0035.html
part0036.html
part0037.html
part0038.html
part0039.html
part0040.html
part0041.html
part0042.html
part0043.html
part0044.html
part0045.html
part0046.html
part0047.html
part0048.html
part0049.html
part0050.html
part0051.html
part0052.html
part0053.html
part0054.html
part0055.html
part0056.html
part0057.html
part0058.html
part0059.html
part0060.html
part0061.html
part0062.html
part0063.html
part0064.html
part0065.html
part0066.html
part0067.html
part0068.html
part0069.html
part0070.html
part0071.html
part0072.html
part0073.html
part0074.html
part0075.html
part0076.html
part0077.html
part0078.html
part0079.html
part0080.html
part0081.html
part0082.html
part0083.html
part0084.html
part0085.html
part0086.html
part0087.html
part0088.html
part0089.html
part0090.html
part0091.html
part0092.html
part0093.html
part0094.html
part0095.html
part0096.html
part0097.html
part0098.html
part0099.html
part0100.html
part0101.html
part0102.html
part0103.html
part0104.html
part0105.html
part0106.html
part0107.html
part0108.html
part0109.html