Kapitel 78
Ciudad Bolivar,
Kolumbien
15. April 2011
Sie hörten es in den Abendnachrichten. Manuel war eben dabei, einige Kleidungsstücke aus einer Kommode in der Ecke der Hütte in eine Tasche zu stopfen. Nathan starrte ausdruckslos in den stummen Schwarz-Weiß-Fernseher, als ihm die Schlagzeile im Newsticker auffiel.
Neue Killerdroge in Miami aufgetaucht.
»He, was war das denn?« Nathan setzte sich auf.
Manuel beugte sich vor und stellte den Ton lauter.
»Eine neue Killerdroge ist in Miami aufgetaucht. Aussagen der amerikanischen Drogenbehörde DEA zufolge hat sie die zehnfache Wirkung von Heroin und Kokain«, sagte der Nachrichtensprecher. »Bereits fünfundzwanzig Menschen sind an einer Überdosis gestorben, vierzig befinden sich in kritischem Zustand. Die chemische Analyse hat ergeben, dass es sich bei der Droge um eine neue Art von genmanipuliertem Kokain mit bislang unbekannter Wirkung auf den Konsumenten handelt.«
Bilder von Rettungswagen und Polizeifahrzeugen flackerten über den Bildschirm. Eine Reihe jamaikanischer Gangster stand, die Hände auf den Rücken gefesselt, vor einer Wand. Große Deutsche Schäferhunde beschnüffelten sie. Im Hintergrund war das Blinken von Blaulicht zu sehen.
»Die DEA hat um eine Aufstockung ihrer Mittel gebeten, um dem Problem zu begegnen«, sagte der Sprecher. »Laut der Drogenbehörde steht unserem Land eine Schwemme dieser Droge bevor.«
»Wie ist das Zeug denn nach Miami gekommen?«, fragte Manuel.
»Schhh!«
Aber die Nachrichten waren bereits beim nächsten Thema. Nathan stellte den Fernseher ab.
»Gehen wir«, sagte er.
Sie verließen die Hütte und verstauten ihren Kram in dem ramponierten alten Pickup. Manuel setzte sich hinters Steuer. Eine grimmige Entschlossenheit hatte die beiden erfasst. Nathan kannte das Gefühl von früheren Einsätzen her. Sie fuhren durch die Shanty-Towns im Süden von Bogotá in den Ostteil der Stadt. Die Straßen waren voll Polizei: gepanzerte Fahrzeuge, schwerbewaffnete Bereitschaftspolizei mit Schilden, Straßensperren mit Reifenkillern auf dem Asphalt.
Eine Stadt im Kriegszustand in einem umkämpften Land.
Praktisch an jeder Straßensperre stieg Manuel aus und unterhielt sich flüsternd mit den Polizisten. Ein Händedruck, Geld wechselte den Besitzer, schon waren sie wieder unterwegs. Vor einer Brücke wurde der Verkehr schließlich zäh. Manuel wies nach vorne.
Drei Leichen hingen von der Brücke. Sie waren nackt; man hatte ihnen die Hände auf den Rücken gebunden; Blutspuren zogen sich von durchschnittenen Kehlen bis hinab zu den Zehen. Ihren Oberkörpern hatte man »Front 154« eingeritzt. Unter ihnen standen Polizei und Sanitäter und blickten hinauf zu einem Beamten, der die Knoten an den Stricken zu öffnen versuchte.
Ein anderer Polizist winkte sie weiter. Nathan hatte Dutzende, wenn nicht Hunderte von Toten gesehen. Aber dieses Bild schien ihm besonders schaurig, eine brutale Zurschaustellung von Vergeltung, die des Mittelalters würdig war.
»Mein Gott«, sagte Nathan im Vorbeifahren. »Das sind die Leute aus dem Schutzhaus der Botschaft.«
»Welche Leute?«
»Na, die drei Agenten, bei denen ich eingebrochen bin.« Nathan schüttelte angewidert den Kopf.
Manuel zog die Achseln hoch, als überraschte ihn so etwas kaum.
Eine Stunde später fuhren sie durch eine weitere Shanty-Town. Kinder spielten in den Pfützen, die der letzte Regenguss hinterlassen hatte. Frauen verkauften Obst und Gemüse am Straßenrand. Männer tranken in behelfsmäßigen Bars.
Vor einer großen Hütte kam der Pickup zum Stehen. Sie sprangen hinaus und traten in einen Raum voller Leute, hauptsächlich Männer, aber auch einige Frauen. Schweigen legte sich über die Versammelten, als Manuel hereinkam, ein Beleg für seinen Status bei den Campesinos. Manuel sprach einige Minuten auf Spanisch zu ihnen, dann wies er auf Nathan.
»Das hier ist Nathan Kershner«, sagte er. »Ein guter Freund von mir. Er hat mir das Leben gerettet.«
Man applaudierte.
Manuel legte eine Atempause ein, dann fuhr er fort. »Er hat eine Ausbildung als Soldat. Er wird uns gegen die Front 154 beistehen. Wir sollten auf ihn hören.«
Aller Augen richteten sich auf Nathan. Einen Moment lang fühlte er sich in die katastrophale Präsentation vor dem SOCA-Vorstand zurückversetzt. Seine Atmung beschleunigte sich und seine Hände wurden schweißnass.
Ich bin hier unter Freunden. Das hier ist keine Vorstandssitzung. Sag einfach, was Sache ist.
Er holte tief Luft und sprach dann langsam und deutlich, so dass ihn auch der Letzte verstand.
»Manuel und ich, wir haben eine Karte vom Hauptquartier der Front hier in Kolumbien. Habt ihr Zugang zu Waffen?«
Eine Welle verhaltenen Gelächters ging durch den Raum.
»He, wir sind hier in Kolumbien«, sagte Manuel mit einem trockenen Lächeln. »Was hast du erwartet?«
»Okay«, sagte Nathan, der darauf ebenfalls lächelte. »Folgender Plan.«