Kapitel 11
Central London,
England
7. April 2011
Tags darauf stand Nathan im Büro am Kaffeeautomaten und unterhielt sich mit einem der Jungs aus der Abteilung Intervention, als Cedric nach ihm rief. Sie trafen sich in einem kleinen Konferenzzimmer, einem fensterlosen Raum mit nichts als einem Tisch und zwei Stühlen.
»Sorry wegen des Meetings gestern«, sagte Cedric und legte eine Aktenmappe und einen Stift auf den Tisch.
»Vergiss es. Also, wie sieht der Plan aus?«
Cedric faltete seine fleischigen Hände. »Nachdem du weg warst, hatten wir eine lange Diskussion. Der Vorstand kam überein, beim nächsten Meeting nochmal darüber zu reden. In zwei Monaten.«
»Viel zu spät.«
»Ich gebe mir alle Mühe. Kann sein, dass ich damit zum Innenminister gehe.«
Nathan machte große Augen. Nach den Bestimmungen des Serious Organised Crime and Police Act von 2005 gab der Innenminister die strategische Richtung der SOCA vor und ernannte den Chef.
»Würde das nicht einen Haufen Probleme machen?«, fragte Nathan.
»Es ist eher eine Drohung. Die wollen keinen Streit. So was wäre schrecklich für Georges Karriere.« Sie sahen einander an.
»Sei ehrlich mit mir, Cedric. Das würdest du dich nicht trauen.«
»Dann kennst du mich eben nicht gut genug.«
»Hast du die Informationen zur BBC durchgestochen?«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«
»Das Interview mit George im Radio. Die Journalistin sagte, sie hätte mit einem hochgestellten Angehörigen der SOCA gesprochen. Warst du das?«
Cedrics Augen leuchteten. »Ich habe keinen Schimmer, wovon du sprichst.«
»Okay, alles klar.« Nathan lächelte. Manchmal vergaß er eben doch, wie durchtrieben Cedric sein konnte. »Was soll ich tun?«
»Du hattest Recht.«
»Womit?«
»Damit.« Cedric schob die Aktenmappe über den Tisch. »Amonite Victor. Sie ist noch am Leben.«
Einen gedehnten Augenblick bewegte sich Nathan nicht. Die bloße Erwähnung dieses Namens schien eine physische Reaktion bei ihm auszulösen. Er verspürte eine Beklemmung in der Brust, ein Pulsieren in den Schläfen, eine Mischung aus rasendem Zorn und Angst. Er sah sich wieder auf den Straßen von Juárez und jagte mit einem Team ehemaliger Angehöriger der Spezialkräfte hinter ihr her. Ihr Vermittler lockte sie in eine Falle. Amonite tötete seine Kollegen. Alle. Nathan verschleppte sie in ihre Folterkammer, aus der er knapp mit dem Leben davongekommen war.
»Nathan?«, sagte Cedric. »Alles in Ordnung?«
Nathan schlug die Aktenmappe auf. Darin waren Fotos von Amonite beim Verlassen eines Pubs. Ein schlecht gemaltes Schild, auf dem es »White Lion« hieß, hing schief über der Tür.
»Ich habe gesehen, wie man sie in Mexiko getötet hat«, sagte Cedric. »Du warst dabei. Du hast es doch auch gesehen. Wir haben das nicht geträumt.«
»Ich habe der mexikanischen Polizei nie getraut«, sagte Nathan. »Sie konnten sie durch jemanden ersetzt haben. Eine Kleinigkeit für die.«
»Aber was macht sie hier?«
»Ziemlich offensichtlich, nicht? Das Imperium der Front erweitern. Ist das das Pub, in dem vorgestern die Leute umgebracht wurden?«
Cedric nickte. »Das Drogendezernat der Met ließ es observieren. Sie sind hinter Tony Maxwell her, einem großen Crackdealer in North London mit Dutzenden von Häusern. Amonite ging rein, erschoss alle außer Tony und verschwand wieder.«
»Und die Met hat sie einfach gehen lassen.«
»Die wussten ja nicht, wer sie war. Dass dort geschossen worden war, haben sie erst gemerkt, als Tony rausgestolpert kam und Fersengeld gab.«
Nathan stöhnte. »Inkompetenter Haufen.«
»Sie haben jetzt jemand anderen mit den Ermittlungen betraut. Steve Willinston. Guter Bulle. Lässt sich nichts bieten von dem Gesocks da draußen. Solltest mit ihm reden.«
»Okay, Boss.« Nathan reagierte nicht auf die untypische Ausdrucksweise seines Chefs. »Was ist mit meinen Proben aus Kolumbien? Sind die Testresultate schon da?«
»Bald.«
Cedric stand auf und ging hinaus. Nathan ging an seinen Schreibtisch. Er fand eine E-Mail von Caitlin.
Hast du die Beförderung?
Nathan hatte das gar nicht angesprochen; er hatte es vergessen. Und Cedric hatte auch nichts gesagt. Er löschte die Mail und suchte aus der SOCA-Datenbank Steve Willinstons Nummer heraus.
»Kann die SOCA sich ihre Schurken nicht selber fangen?«, sagte Steve, nachdem Nathan sich vorgestellt hatte.
»Ich versuche Amonite Victor zu schnappen.«
»Da könnten Sie genauso gut den Unsichtbaren fangen wollen.«
»Hören Sie, wir müssen uns treffen. Was wäre unser bester Ansatzpunkt?«
»Tony Maxwell. Wenn jemand etwas über Amonite Victor weiß, dann er.«
Sie vereinbarten ein Treffen für den nächsten Tag.
Innerlich völlig taub, starrte Nathan ausdruckslos auf seinen Monitor. Eine E-Mail poppte vor ihm auf. Als Betreff hieß es: »Drogen und Entwicklung: ein Teufelskreis«. Es handelte sich um einen Artikel von Nick Crofts im Guardian. Crofts war wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Melbourne. Laut Crofts markierte 2011 das fünfzigste Jahr im Krieg gegen Drogen. Nathan meinte nicht richtig zu sehen. Fünfzig Jahre? Und was hatte man dafür vorzuweisen? Korruption auf allen Ebenen, ein nie gekanntes Ausmaß von Gewalt, ganze Länder am Boden zerstört. Und mit schöner Regelmäßigkeit tauchten neue Gruppierungen wie die Front 154 auf.
Er las den Artikel. Crofts zufolge bilden Konflikt, Armut und Drogenhandel einen komplexen Teufelskreis: Unterentwicklung fördert Konflikte, die den Drogenhandel befördert, der profitabel genug ist, um zu neuen Konflikten, eine der wesentlichen Ursachen von Armut, zu führen. Crofts Ansicht nach würden die Drogenbehörden gut daran tun, ihr Augenmerk über die eindimensionale Realität der Drogenproduktion hinaus auf die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Faktoren dahinter zu richten.
Nathan legte die Datei in einem Verzeichnis mit dem Titel »Legalisierung, Argumente pro« ab, in dem er bereits die jüngste Coverstory des Economist hatte, in der es um die verheerenden Auswirkungen des Drogenkriegs auf Mittelamerika ging. Er lehnte sich zurück und ließ seinen Blick über die Kollegen im Großraumbüro schweifen, die entweder vor sich hin tippten oder am Telefonieren waren. Verschwendeten sie hier alle nur Zeit und Geld?
Er wandte sich wieder seinem Computer zu und suchte nach weiteren Informationen über die Front. Auf der Website der New York Times hieß es, die Front weite ihren Einflussbereich auf die Karibik aus. Einer anonymen Quelle bei der amerikanischen Drogenbehörde DEA zufolge entwickelte sich die Region zu einem Dreh- und Angelpunkt der Drogengeschäfte der Front. Er fand einen weiteren Artikel, dieser vom britischen Independent, der die Frage stellte, wie in aller Welt die Front an Hightech-Gerät wie Militärhubschrauber kam. Hier stellte sich doch, so der Autor, die Frage nach den Verbindungen zwischen den Drogenhändlern und dem kolumbianischen Staatsapparat.
Nathan legte den Kopf in die Hände. Die Front 154 entwickelte sich rasant zu einem der größten paramilitärischen Drogenkartelle der modernen Geschichte, und dennoch war er der einzige Mann bei der SOCA, der auf sie angesetzt war. Was sollte ein Einzelner gegen ein internationales Drogenkartell ausrichten können?
Er ignorierte seine innere Unruhe und setzte seine Recherche fort. Zu Mittag holte er sich ein Sandwich. Während er es aß, scrollte er sich durch die gefundenen Berichte über die zunehmende Zahl der von der Front begangenen Gräuel und über ihre wachsende Macht. Nur vage bekam er mit, wie seine Kollegen ihre Computer herunterfuhren und nach Jacken und Mänteln griffen, um für den Tag Schluss zu machen. Er suchte weiter in der verzweifelten Hoffnung, irgendetwas könnte ihm einen Hinweis darauf geben, wer hinter dieser Front 154 steckte, wie Amonite Victor zu ihr gestoßen war und wie sie sich aufhalten ließ.
Er warf einen Blick auf die Uhr an seinem Monitor: 21.27. Er rieb sich die Augen. Wieder einmal hatte er einen Zwölf-Stunden-Tag hinter sich. Er hatte massenhaft Artikel über die Front gefunden, aber keiner hatte ihn wirklich weitergebracht. Es war Zeit, nach Hause zu gehen. Er könnte mit Caitlin zum Spanier in King’s Cross gehen, falls es nicht schon zu spät war. Sie liebte die spanische Küche.
Er verließ das Hauptquartier der SOCA und fuhr auf Umwegen nach Hause. Immer wieder sah er sich im Rückspiegel nach einem Schatten um.
Irgendwie konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, beobachtet zu werden.