Kapitel 10
North London,
England
6. April 2011
Das Schrillen seines Telefons riss Nathan aus dem Schlaf. Er hatte einen gewaltigen Schädel. Er trank nicht oft, aber am Abend zuvor war er in der Upper Street mit Caitlin bis in die Puppen auf Pubtour gewesen.
Verschlafen tastete er nach dem richtigen Knopf.
»Nathan? Wo steckst du?« Mist. Es war Cedric.
»Zuhause.«
»Ich dachte, wir wären verabredet. Hast du eine Ahnung, wie spät es ist?«
»Ist mir ehrlich gesagt scheißegal«, sagte Nathan, überrascht, wie sehr er den Satz genoss.
»Wir können ohne konkrete Beweise nicht handeln. Das weißt du.«
»Das waren konkrete Beweise. So oder so, ich hätte das ganz anders angehen sollen.«
»Rangehen wie Blücher und sie alle in die Luft jagen? Hör auf.«
»Gib mir das richtige Team und ich könnte die Führung der Front kaltstellen.«
»Da spricht der Soldat, nicht der Mann von der SOCA.«
Nathan sah das Schreiben von der LSE auf seinem Nachttisch. Eine Dozentur schien gar keine so schlechte Idee. Flexible Arbeitszeit. Zeit zu lernen, was er wollte. Intellektuelle Debatten bei internationalen Konferenzen, anstatt sich im Dschungel die Kugeln um die Ohren fliegen zu lassen.
»Ich mach nicht mehr mit«, sagte er.
»Willst du kündigen?«
»Ich denke dran.«
»Und dann? Ein Leben im Elfenbeinturm?«
Nathan legte auf.
»Denen hast du’s aber gegeben, Kleiner«, sagte Caitlin verschlafen vom anderen Zimmer her. »Obwohl, nach allem was du gestern Abend so abgesondert hast, dachte ich, du würdest doch dabei bleiben.«
Nathan griff nach der Packung Schmerztabletten und dem Glas Wasser neben dem Bett. »Keine Ahnung. Ich brauche Zeit.«
Er versuchte wieder einzuschlafen, aber seine Gedanken waren zu sehr mit den letzten paar Tagen beschäftigt. Wie es wohl Manuel gehen mochte? Er hatte schwer gefiebert und war nicht bei sich gewesen, als Nathan ihn in den Händen der Campesinos zurückgelassen hatte. Obwohl er Nathans Hand ergriffen und ihm versprochen hatte, alles für ihn zu tun, er bräuchte es nur zu sagen. Immerhin hätte er ihm das Leben gerettet. Als seine Gedanken sich Sir George zuwandten, hätte er am liebsten mit der Faust gegen die Wand gehauen. Wieso legte der Mann sich derart quer? Spielte er etwa sein eigenes Spiel?
Es hatte keinen Zweck, wieder einschlafen zu wollen. Er knipste die Lampe neben dem Bett an und nahm ein Buch zur Hand, dass er für seine Doktorarbeit gelesen hatte: Drug War Zone von einem Soziologieprofessor an der University of Texas. Caitlin hielt Nathan für verrückt, weil er seinen Doktor machen wollte. Und das ausgerechnet über das Thema, mit dem er ohnehin jeden Tag zu tun hatte. Aber er brauchte die intellektuelle Stimulation. Außerdem sah er darin einen Ausweg aus seinem Job.
Der Autor diskutierte den ritualisierten Einsatz von Gewalt seitens der Drogengangs: die Hinrichtung von Verrätern durch einen Schuss in den Nacken, die Kastration von Schürzenjägern; Spionen schoss man ins Ohr, Leuten, die zu viel redeten, in den Mund. Manchmal, wenn es sich bei dem Opfer um einen Polizeispitzel handelte, schnitten die Kartelle ihm die Finger oder die Zunge ab und legten sie ihm als Warnung für andere in den Mund. »Aufbau von Angst« nannte der Autor dieses Vorgehen. Ziel war es, ein Klima der Furcht zu schaffen, das wiederum die Macht der Kartelle stärkte. Nathan hatte die Methode bislang bei der Front noch nicht beobachten können, aber er wusste, es würde nicht mehr lange dauern.
Er stand auf und ging in die Küche, um sich eine Tasse starken Kaffee aufzubrühen. Caitlin kam aus ihrem Zimmer; sie hatte ihren lila Morgenrock an.
»Was gibt’s«, fragte sie.
»Manchmal frage ich mich wirklich, warum ich diesen Job angenommen habe. Ich habe die Nase voll von der Politik. George tut nichts anderes, als alles zu blockieren. Die Ressortleiter sind seine Spezis.«
»Cedric nicht.«
»Da hättest du ihn gestern sehen sollen. Die reinste Marionette.«
»Er hat dir immerhin beim Camplones-Fall geholfen.«
»Und dazu musste ich ihn auch erst bearbeiten.«
»Dann musst du das eben noch mal tun.«
»Jetzt ist das anders.« Nathan gab Kaffeebohnen in die Maschine. »Jetzt ist George da.«
»Sind eben nicht alle wie du.« Caitlin lächelte sanft. »Cedric ist da etwas subtiler, das ist alles. So oder so, es geht um den Job, nicht um die Organisation.«
Nathan nickte. Ihr Vater hatte das immer gesagt, wenn Nathan wieder mal den Kanal vollgehabt hatte vom Soldatendasein. Er schenkte Caitlin eine Tasse Kaffee ein.
»Vielleicht wäre es doch besser, die Brocken hinzuschmeißen«, sagte Nathan. »Ich könnte mich für diese Dozentur bewerben.«
»Siehst du, das ist doch mal eine Idee.«
»Ich bin nur nicht sicher, ob die mich mit der halbfertigen Dissertation nehmen. Ich wollte, ich hätte Zeit, sie endlich fertig zu machen.«
»Nimm doch Urlaub. Hattest doch schon fast ein Jahr keinen mehr.«
»Ja, vielleicht.«
Nathan nahm seinen Becher und ging wieder die Diele hinauf auf sein Zimmer zu. Er blieb stehen, um das gerahmte Foto an der Wand anzusehen. Es zeigte ihn in Sierra Leone mit einer Gruppe von Jungs vor einem eroberten Rebellentruck. Zwei von ihnen waren am nächsten Tag gefallen – von Kindersoldaten im Drogenrausch zu Tode gehackt.
»Warum hängst du das Bild nicht einfach ab und vergisst das alles?«, fragte Caitlin, die neben ihn trat.
»Kann ich nicht.«
»Ist doch Schnee von gestern.«
»Das ist Paps auch.«
Caitlin folgte ihn in sein Zimmer und setzte sich auf die Bettkante. »Bleib ein bisschen zuhause. Wir könnten spazieren gehen, in das eine oder andere Pub gehen. Spann einfach mal aus.«
»Ich weiß im Augenblick nicht so recht, was Pubs angeht.«
»Du hast ihnen alles gegeben, das weißt du.«
»Wem?«
»Dem Militär. Der SOCA.« Caitlin lehnte sich zurück an die Wand. »Warum?«
»Fangen wir doch nicht wieder damit an.«
Das Telefon klingelte. Es war wieder Cedrics Nummer.
»Kündige nicht«, sagte Cedric.
»Gib mir auch nur einen guten Grund.«
»Wenigstens nicht, bevor ich eine Chance hatte, dich davon zu überzeugen, dass wir das durchziehen können. Ich komme mit den anderen im Vorstand voran. Wenn du kündigst, zerfällt uns der ganze Fall.«
Nathan sagte nichts.
»Nathan, bist du noch dran?«
»Ja.«
»Und?«
Nathan dachte an das Meeting zurück, an Sir Georges arrogante Visage und an seine Demütigung. Dann dachte er an das unterirdische Labor und die Drogen, die er gefunden hatte, an Amonite Victor, wie zufrieden sie sich das Ergebnis des Überfalls der Front ansah. Die zerstörten Dörfer. Manuel, der sich in seinen Qualen wand.
»Ich will die Beförderung.«
»Auch darüber lässt sich reden.«
»Ich will mehr als reden«, sagte Nathan. »Ich will wissen, warum George sich sperrt.«
»Du hast mein Wort.«
»Okay. Ich bin morgen früh im Büro.«
»Gut der Mann. Wir kriegen das hin. Zusammen.«
Nathan warf das Telefon durchs Zimmer auf den Teppich. Er würde heute kein Gespräch mehr annehmen, schon gar nicht von der SOCA.