Kapitel 52
Bogotá,
Kolumbien
14. April 2011
Mit wiegenden Hüften schlenderte Lucia an dem Dicken im zerkrumpelten Anzug vorbei. Sie warf ihm einen anzüglichen Blick zu, klimperte mit den falschen Wimpern, zeigte ihm ein weißes Lächeln. Er glotzte sie über den Rand seiner Bierflasche hinweg an. Die kleinen gierigen Augen waren gerade noch zu sehen zwischen den Speckwülsten über seinen Backen. Eine halb geöffnete Krawatte hing ihm wie eine lose Henkersschlinge aus dem offenen Hemd. Er hatte Schwitzflecken von den Achselhöhlen bis auf den Bauch.
Der pulsierende Beat von Clubmusik dröhnte im Hintergrund der Open-Air-Lounge hoch auf dem Dach. Der Stripschuppen war voller Drogenhändler, hinreißender Mädchen und gomelos, wie man die betuchten Yuppies der kolumbianischen Hauptstadt nennt. Sie alle ließen eben den Abend angehen. Man hörte das Klirren der kleinen Gläser voll aguardiente, dem heißgeliebten Anislikör des Landes. Es wurde gelacht. Es herrschte eine geradezu greifbare Aufregung zu Beginn einer weiteren großen Nacht.
Lucia stieß die Tür zur Toilette auf. Junge Frauen in Leggings und Stiefeln standen herum, legten Puder auf, plauderten, lachten über Freier und Luden.
Sie baute sich vor dem Waschbecken auf und musterte sich im Spiegel. Ihre vollen Lippen waren dunkelrot vom Lippenstift, ihre Augen mit schwarzem Eyeliner nachgezogen. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie sie als Teenager die Obsession ihrer Freundinnen für offenherzige Kleidung und Make-up zu imitieren versuchte. Sie zog den schwarzledernen Minirock hoch und rückte das weiße Bandeautop zurecht, um die Aufmerksamkeit auf ihre Brüste zu ziehen.
»Das wird doch nie was«, murmelte sie mit hängenden Schultern.
Aus einer der Klozellen kam eine Frau, der der Busen schier aus dem knappen Top zu platzen drohte.
»Sexy, sexy«, sagte sie mit einem anerkennenden Blick für Lucia und zog die Nase hoch, als hätte sie eben Kokain von der Klobrille gesnieft.
Lucia stopfte ihr Make-up in ihre Lederhandtasche. Sie schob sich an der Frau vorbei in die Zelle, knallte die Tür hinter sich zu. Sie legte den Riegel vor, klappte den Toilettendeckel um und setzte sich drauf.
»Cabrona loca«, hörte sie die Stimme der Frau.
»Was mache ich nur?« Lucia legte den Kopf in die Hände. »Womöglich bin ich wirklich komplett verrückt.«
Sie atmete tief durch. Sie wünschte sich plötzlich, dass sich alles als Alptraum erwies. Dass sie unter der warmen, weichen Steppdecke in ihrem blauen Teenagerzimmer im Haus ihrer Eltern aufwachte. Dass Schmerz und Kummer der letzten Jahre mit einem Blinzeln verschwanden. Dass sie sich den Schlaf aus den Augen rieb, die Arme streckte und den Blick über die Poster von Che Guevara an der Wand schweifen ließ.
Ihre Gedanken gingen zurück zu den Ereignissen bei El Tiempo am Tag zuvor. Sie hatte sich hinter einem großen Lieferwagen versteckt und hilflos zusehen müssen, wie die Polizei in gepanzerten Fahrzeugen anrückte und dann mit dem bewusstlosen Nathan aus dem Gebäude kam. Sie wollte dazwischengehen, Nathan ihren Klauen entreißen, aber sie wusste, sie hätten sie nur auch gleich mitgenommen. Sie hatte keine Ahnung, wo sie ihn hinbringen würden, dachte aber sofort an die Front.
Deshalb war sie jetzt hier, im elegantesten Stripschuppen der Front und versuchte sich an einer »Sexfalle«, wie sie das mal jemanden hatte nennen hören. Wenn sie den Dicken aufreißen könnte. Wenn er zur Front gehörte. Wenn sie ihn an einen verschwiegenen Ort locken und überwältigen könnte. Wenn sie etwas aus ihm herausbekam. Vielleicht hatte sie dann eine Chance, Nathan zu finden.
Wenn. Wenn. Wenn.
»He, wach auf da drin.« Jemand hämmerte gegen die Tür ihrer Zelle. »Keine Drogen hier.«
Lucia riss die Tür auf und sah sich vor einer Frau im schwarzen Top. Sie funkelte sie böse an, schob sich an ihr vorbei und ging zurück in die Bar. Vor ihr drängte sich plaudernd oder tanzend eine Masse gepflegter Körper im gedämpften Licht bunter Spots. Zu ihrer Linken wand sich eine Oben-Ohne-Tänzerin um eine Metallstange. Mit anerkennendem Blick starrten sie die Männer an dem Tisch davor an.
Der Dicke war in eine Unterhaltung mit zwei Männern in Jeans und weißen T-Shirts vertieft. Sein kahler Hinterkopf glänzte wie eine polierte Murmel.
Lucia rutschte auf einen hohen Hocker direkt an der Bar. Sie bestellte sich einen Tonic und gab einen Strohhalm ins Glas. Sie warf dem Dicken einen Blick zu. Er gestikulierte mit den Händen. Die Männer in Jeans lauschten mit gefurchter Stirn. Einer von ihnen hob den Blick.
Es war der Kerl mit der Narbe. Der Mann, dem sie in der Bar das Bier übers Hemd geschüttet hatte. Mit loderndem Blick sondierte er den Raum. Den Kopf über ihr Glas gesenkt, das lose Haar im Gesicht, wandte sie sich ab. Sie tat einen langen Zug.
»Noch einen Drink?« Sie erstarrte.
»Kann ich Sie zu was einladen?«
Sie umfasste das Glas. Sie war drauf und dran, sich umzudrehen und es nach dem Narbengesicht zu werfen.
»Ist das ein Gin Tonic?«
Die Stimme gehörte einem Kolumbianer und war viel zu sanft. Sie riskierte einen Blick. Ein Mann stand gegen die Bar gelehnt und wies auf ihr halb leeres Glas. Er war Mitte zwanzig, gut gebaut, attraktiv, perfekt gestylter Wuschelkopf, modischer Drei-Tages-Bart, feinsäuberlich gebügeltes Hemd.
»Nein danke«, sagte sie.
»Kenne ich Sie nicht von irgendwoher?«
»Das bezweifle ich«, sagte Lucia. Aber hatten sie nicht neulich Millionen im Fernsehen gesehen?
»Haben Sie grade hier angefangen?«
»Ja. Ich meine nein. Ich meine, spielt das eine Rolle?«
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Ich erwarte jemanden.«
»Bis dahin können wir ja ein bisschen plaudern.«
»Ich sagte nein.«
»Wie viel für einen Tanz?«
»Verpiss dich einfach, ja?«
»Okay, okay, okay.« Er hob die Hände und sah sie finster an. »Alles klar.«
Sie rührte mit dem Halm in ihrem Glas. Sie wagte nicht, sich wieder umzudrehen. Vielleicht sollte sie ihre Taktik ändern. Das Ganze war viel schwieriger, als sie gedacht hatte. Sie wollte eben bezahlen und wieder gehen, als sie jemanden neben sich ahnte.
»Kann ich Ihnen noch was bestellen?«
Die Stimme an ihrem Ohr war alles andere als sanft. Lucia sah sich um. Es war der Dicke. Er stand viel zu nahe; die Spitze seines Schmerbauchs schob sich gegen ihre Hüfte. Die Stoppeln an seinem Kinn waren gelb und sein Atem schal. Das Narbengesicht und der andere Kerl in Jeans waren nicht mehr zu sehen.
»Gerne.« Lucia versuchte sich an einem Lächeln. »Gin Tonic.« Der Dicke bellte ein Kommando in Richtung des Barkeepers und wandte sich dann wieder Lucia zu. »Sind Sie oft hier?«
»Ich wohne die Straße hinab.«
»Was machen Sie denn?«
»Ich studiere.«
»Ah, eine arme Studentin.« Ein Auge des Mannes zuckte, was wohl ein Zwinkern sein sollte. »Was studieren Sie denn?«
»Literatur.«
Der Barkeeper setzte ihnen ihre Drinks vor. Der Dicke kippte seinen doppelten Whiskey weg und bestellte einen weiteren. Lucias Herz schlug so schnell, dass ihr die Hände zitterten.
»Und Sie sind?«
»Alberto. Ich bin Kontraktor für eine große Firma.«
»Kontraktor?«
»Staatsgeschäfte.« Er zwinkerte wieder und steckte sich eine Zigarette an. »Streng geheim.«
Lucia lächelte einfältig. Sie wandte sich ihm ganz zu und legte die Hände aneinander. »Und heute Abend haben Sie frei?«
»Allerdings.« Alberto kippte einen weiteren Whiskey weg und schnippte mit den Fingern nach einem dritten.
»Prima.«
Mit verschwitzten Händen umfasste Alberto ihr Knie, direkt unter dem Saum ihres Rocks. Sie gab sich alle Mühe, nicht zurückzufahren.
»Dann bin ich sicher, wir können ein bisschen Spaß miteinander haben«, sagte Alberto und schielte durch den Zigarettendunst lüstern nach ihrem Ausschnitt.