XIX.
Gegenwart
Oliver drückte aufs Gaspedal. Das Tagebuch von Saskia Heinermann lag neben ihm auf dem Beifahrersitz. Immer wieder wählte er die Nummer von Klaus, doch die war seit mehr als zehn Minuten besetzt. Verdammt, mit wem telefonierte Klaus nur so lange? Oliver musste ihn dringend sprechen. Er hatte in Saskias Notizen gelesen, dass Torsten Schniewald ertrunken war. Zwar waren ihre Schilderungen ziemlich chaotisch, ja sie wirkten beinahe wie von einer Geisteskranken geschrieben, doch in der Öffentlichkeit war nicht bekannt, auf welche Weise der Stadtrat gestorben war. Nur wenige Mitarbeiter im Kriminalkommissariat kannten die wahre Todesursache. Außer ihnen konnte nur noch Schniewalds Mörder über diese Information verfügen. Oliver bremste abrupt vor einer roten Ampel. Wütend schlug er die Hand aufs Lenkrad und drückte erneut auf Wahlwiederholung. Endlich. Ein Freizeichen ertönte in der Leitung und nach wenigen Sekunden hob Klaus ab.
»Klaus, stell dir vor, ich habe Saskia Heinermanns Tagebuch gefunden. Es steht lauter wirres Zeug drin, aber eine Sache ist wichtig. Sie weiß, dass Schniewald ertrunken ist.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen.
»Klaus, bist du noch dran?«
»Ja, die Ereignisse scheinen sich zu überschlagen. Gerade eben hatte ich die Notfallzentrale in der Leitung. Saskia Heinermann hat vor ein paar Minuten dort angerufen und den Mord an ihrem Vater und seiner Verlobten gestanden. Außerdem hat sie behauptet, dass auch die Ermordung des Stadtrats Torsten Schniewald und die von Peter Groehn auf ihr Konto gehen.«
»Was?« Oliver traute seinen Ohren nicht.
»Wir müssen sofort zum Tatort fahren. Sie ist gerade auf dem Anwesen ihres Vaters. Der Spurensicherung habe ich schon Bescheid gesagt.«
Oliver riss das Lenkrad herum.
»Ich kann in drei Minuten dort sein«, sagte er atemlos und legte auf.
...
Die vordere Haustür war verschlossen. Oliver hatte sich den Weg zum Hintereingang gebahnt und stand in einem riesigen Wohnzimmer, das vor Reichtum nur so strotzte. Der süßliche Geruch stieg ihm in die Nase und sein Magen verkrampfte sich automatisch. Er kannte ihn nur zu gut. Es war der Gestank nach Tod und Verwesung. Je weiter er ins Haus vordrang, umso intensiver wurde der Geruch. Oliver orientierte sich nach links, von wo die süßliche Wolke auf ihn zuwaberte wie giftiger Nebel. Er hörte ein Schluchzen und erkannte Saskia Heinermanns Stimme. Mit wenigen Schritten war er bei ihr in der Küche. Eiskalte Schauer überliefen ihn, als er die beiden Leichen erblickte. Aus ihren Gesichtern konnte Oliver immer noch das Erstaunen ablesen, dass sie im Augenblick des Todes empfunden hatten. Saskia Heinermann saß regungslos unter der Spüle. Zwar waren ihre Augen auf Oliver gerichtet, der Blick wirkte jedoch völlig entrückt. Saskia Heinermann stand ganz offensichtlich unter Schock.
»Frau Heinermann, können Sie mich verstehen?« Oliver beugte sich zu ihr hinunter und ergriff den rechten Arm. Saskia deutete ein Nicken an. Oliver zog sie nach oben und führte die kraftlose Frau aus der Küche hinaus. Dabei achtete er darauf, nicht in die Blutspritzer zu treten, die überall auf dem Boden verteilt waren. Er platzierte sie auf der Couch und nahm dann schweigend in einem Sessel gegenüber Platz. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass Klaus innerhalb der nächsten fünf Minuten eintreffen würde. Oliver wollte keine Zeit verlieren und zückte sein Notizbuch.
»Frau Heinermann, können Sie sagen, wie das passiert ist?«
Saskia hob den Kopf und sah Oliver an. Tränen schossen in ihre ohnehin schon geröteten Augen.
»Ich habe sie erstochen und ...« Sie stockte mitten im Satz. »Ich konnte mich zuerst nicht erinnern, doch jetzt sehe ich alles ganz deutlich vor mir.«
Oliver kritzelte in sein Notizbuch, während Saskia Heinermann ihm die Ereignisse näher brachte. Sie berichtete äußerst detailgetreu. Offensichtlich hatte sich jeder Schrei und jeder einzelne Messerstich tief in ihr Gedächtnis eingebrannt. Oliver betrachtete die Frau nachdenklich. Er hatte immer geahnt, dass sie etwas vor ihm verheimlichte, doch für eine Mörderin hatte er sie nicht gehalten. Es war seltsam, dass ihn seine Menschenkenntnis derart trog. Doch die Art und Weise, wie sie die Morde schilderte, fegte jeden Zweifel hinweg. So konnte nur jemand berichten, der auch tatsächlich dabei gewesen war. Genau innerhalb der erwarteten Zeit traf sein Partner Klaus ein. Er ging in die Küche und kam kreidebleich wieder heraus. Oliver drückte ihm Saskias Tagebuch in die Hand. Seine Gesichtsfarbe schwand vollends, als er den letzten Eintrag las. Er setzte sich in den Sessel neben Oliver.
»Beschreiben Sie uns doch einmal den Mord an Peter Groehn«, forderte er Saskia auf.
Abermals beschrieb Saskia haargenau, welche Verletzungen der Mann erlitten hatte. Zwischendurch massierte sie immer wieder die Schläfen, so als ob sie ihre Erinnerung schärfen musste, damit sie diese in die richtigen Worte kleiden konnte. Klaus wartete nicht länger auf das Ende ihrer Ausführungen. Er warf Oliver einen vielsagenden Blick zu. Das Haus wimmelte inzwischen von Mitarbeitern der Spurensicherung. Ingrid Scholten war mit einem großen Koffer in der Küche verschwunden. Vor dem Hintereingang hatten zwei Leichenwagen geparkt.
»Frau Saskia Heinermann, wir müssen Sie hiermit vorläufig festnehmen. Bitte folgen Sie uns aufs Revier. Dort werden wir diese Unterhaltung fortsetzen.«
...
»Ich beglückwünsche Sie, meine Herren!« Hans Steuermarks Adleraugen funkelten zufrieden. »Sie haben wirklich ganze Arbeit geleistet.« Seine Finger glitten über das Geständnis von Saskia Heinermann und machten unter ihrer Unterschrift halt. Er blätterte um und überflog den Bericht der Spurensicherung. Fingerabdrücke auf den Leichen, der Tatwaffe und überall in der Küche ließen keinen Zweifel an Saskias Schuld. Steuermark blickte seine beiden besten Kriminalkommissare an. Klaus Gruber, der Dienstältere, hatte sich lässig im Stuhl zurückgelehnt. Die Körperhaltung von Oliver Bergmann wirkte angespannt. Seine Augen wanderten unablässig über die Unterlagen, als ob er nach irgendetwas suchte.
»Bergmann, haben Sie die Rolle von Pascal Heinermann im Zusammenhang mit den Morden aufgeklärt?«
Oliver nickte. Er hatte in den letzten Stunden einen detaillierten Zeitplan ausgearbeitet und die Alibis aller handelnden Personen überprüft. Pascal Heinermann hatte zumindest für den zweiten Mord an Peter Groehn ein hieb- und stichfestes Alibi. Er war zu diesem Zeitpunkt in der Spielbank Aachen gewesen und hatte tatsächlich zehntausend Euro gewonnen. Das war genau der Betrag, den er wenig später auf sein Bankkonto eingezahlt hatte. Mehrere Zeugen hatten seine Anwesenheit bestätigt. Das Kassenprotokoll der Spielbank hatte die Uhrzeit der Auszahlung festgehalten und außerdem war Pascal auf mehreren Videoaufnahmen zu sehen. Er war ohne jeden Zweifel nicht an dem Mord an Peter Groehn beteiligt gewesen. Da Ingrid Scholten bei allen vier Leichen dieselbe Opiumsubstanz im Blut identifiziert hatte, ging die Polizei von einem einzigen Täter aus. Pascal kam daher nicht mehr in Frage.
Oliver hatte neben Saskia Heinermanns Aufzeichnungen in der Gartenhütte ihres Großvaters auch alte Rezepte für die Herstellung von Opiummixturen entdeckt. Beide Geschwister verfügten also über Kenntnisse zur Herstellung dieser Substanz. Pascal hatte sogar seiner Freundin Emily dieses Wissen für ihre Reportage zur Verfügung gestellt. Trotzdem schied er als Täter aus. Dieses Wissen war nicht mehr als ein Indiz, welches durch sein Alibi und auch das fehlende Tatmotiv entkräftet wurde.
»Wir können nahezu ausschließen, dass Pascal Heinermann an den Morden beteiligt war«, antwortete Oliver schließlich.
»Saskia Heinermann hat alle Morde gestanden. Im Fall von Torsten Schniewald hat sie zugegeben, ihn in der Tatnacht in seine Wohnung begleitet zu haben.« Oliver fasste den Tathergang für Steuermark noch einmal zusammen. Saskia war mit zu Schniewald gegangen. Er hatte sie freiwillig in seine Wohnung gelassen, weshalb die Polizei im Nachhinein auch keinerlei Einbruchsspuren feststellen konnte. Sie hatten Sex und dann hatte sie das Gefühl, sie müsse ihn ertränken, um selbst am Leben zu bleiben. Sie erwähnte mehrfach, dass sie sich von Schniewald bedroht gefühlt und ihn deshalb so lange unter Wasser gedrückt hatte, bis er tot war. Warum sie geglaubt hatte, in Gefahr zu sein, konnte sie nicht mehr genau erklären. Aber sie hatte die Tat gestanden und sie wusste als Einzige neben den Mitarbeitern der Kriminalkommission, dass Schniewald ertrunken war. Zudem wurde die Hebevorrichtung, mit der die Leiche Schniewalds aus der Badewanne gehievt worden war, im Keller des Opfers gefunden. Der Keller stand offen und die Hebevorrichtung war über und über mit Fingerabdrücken von Saskia Heinermann bedeckt. Als weiteres handfestes Indiz kam hinzu, dass Heinermann nach allen bisherigen Erkenntnissen der letzte Mensch war, der Torsten Schniewald lebend gesehen hatte.
Ein ähnliches Muster zeigte sich im Fall von Peter Groehn. Auch hier hatte sie zugeschlagen, weil sie das Gefühl hatte, sich selbst retten zu müssen. Groehn war ein Zufallsopfer ohne persönliche Beziehung zu Saskia. Die Schilderungen von einem Auto und einer schwarzen Kutsche waren konfus, dennoch passten die Beschreibungen haargenau zu den Verletzungen und zum Zustand des Opfers. Nur der Mörder konnte über derartige Informationen verfügen. Im Falle ihres ermordeten Vaters und seiner neuen Frau war das Motiv eindeutig. Zum einen ignorierte der Vater sie seit der Geburt ihres unehelichen Kindes und zum anderen stellte seine neue Frau eine erhebliche Bedrohung für Saskia Heinermanns Stellung im Familienimperium dar.
Der Polizeipsychologe hatte Heinermanns Erinnerungslücken dem starken Stress zugeschrieben, unter dem sie stand. Ihre Lebenssituation als alleinerziehende Mutter hatte sie einem enormen Druck ausgesetzt. Dies war auch der Grund, warum Dr. Neuenhaus Saskia in seine klinische Studie für ein Anti-Stress-Medikament aufgenommen hatte. Sie war eine nahezu perfekte Probandin.
Oliver beendete seine Ausführungen und schwieg. Nach einer Weile fügte er hinzu. »Trotzdem habe ich ein merkwürdiges Gefühl, als ob ich etwas Wichtiges übersehen hätte.«
Steuermark runzelte die Stirn und Klaus warf ihm einen genervten Blick zu. Für ihn war der Fall mit Saskia Heinermanns Geständnis abgeschlossen. Was wollten sie noch mehr?
»Die Opiummixtur ...«, begann Oliver zögerlich. »Sie hat keine Erinnerung daran. Und sie kann auch nicht erklären, wozu der Tank in der alten Fabrikhalle diente, in der wir Peter Groehn gefunden haben.«
Steuermark nickte. »Der Polizeipsychologe hat die Gedächtnislücken doch dem hohen Stresslevel und der posttraumatischen Belastungsstörung zugeschrieben, die die Morde ohne jede Frage bei ihr ausgelöst haben müssen. Unser Experte fand das überhaupt nicht merkwürdig, eher im Gegenteil. Warum zweifeln Sie daran? Sie selbst haben uns doch vor einigen Tagen die Augen geöffnet und erkannt, dass der Täter durchaus eine Frau sein könnte.« Seine Augen hefteten sich auf Oliver.
Dieser zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist mir ihr Geständnis in diesen Punkten einfach nur zu vage.«
In der Tat war Oliver ein Perfektionist, was die Lösung seiner Fälle anging. Er setzte die einzelnen Indizien und Spuren wie kleine Puzzleteile zusammen, bis sich ein ganzes Bild ergab. Er mochte keine Lücken in der Aufklärung. Eine Mörderin, die zwar gestanden hatte, aber nicht alle Puzzleteilchen an ihn auslieferte, war ihm suspekt. Außerdem traute er Saskia Heinermann die Morde aus irgendeinem unerklärlichen Grund nicht zu. Vielleicht lag es auch daran, dass sie Emilys Studienfreundin war. Er liebte Emily und hielt sie für einen absolut aufrichtigen Menschen. Wie sollte sie da mit einer Frau befreundet sein, die zu mehreren bestialischen Morden imstande war? Das passte für Oliver einfach nicht zusammen.
»Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich noch einmal mit Frau Heinermann sprechen, bevor wir die Ermittlungen abschließen.«
Steuermark verzog seine Lippen zu zwei schmalen Strichen und blickte auf seine Uhr. Dann sagte er: »Sie haben vierundzwanzig Stunden, Bergmann. Morgen, genau um diese Uhrzeit findet die Pressekonferenz statt. Bis dahin sollten Sie ihre Zweifel entweder ausgeräumt oder ein für alle Mal begraben haben.«
...
Die Frau, die in Handschellen in den Verhörraum gebracht wurde, erkannte er fast nicht wieder. Über Nacht schien sie viel schmächtiger geworden zu sein. Die üppigen Rundungen waren unter einem unförmigen Oberteil verschwunden und der gebeugte Gang ließ Saskia Heinermann viel kleiner und zerbrechlicher erscheinen. Sie tat Oliver irgendwie leid.
»Guten Tag, Frau Heinermann, könnten Sie mir noch einige Fragen beantworten?«, begann er freundlich.
Ihre rastlosen Augen blieben an ihm hängen. Dann nickte sie unmerklich. Oliver räusperte sich.
»Mir ist noch nicht ganz klar, was es mit der Opiummixtur auf sich hatte«, begann er, darauf bedacht, langsam zu sprechen. »Können Sie sich daran erinnern, dass sie so etwas benutzt haben?«
Saskia Heinermann dachte nach. Ihre Hände glitten nach oben an den Kopf, angestrengt rieb sie ihre Schläfen. Es war dieselbe Geste, die Oliver bereits im Haus ihres Vaters beobachtet hatte. Eine Geste, die offenbarte, wie gestresst und mitgenommen sie war. Einen Augenblick lang wunderte Oliver sich, dass der Polizeipsychologe sie überhaupt für schuldfähig hielt. Dann nahm Saskia ihre Hände herunter und legte sie mit den Handflächen nach unten auf den Tisch. Als sie ihn erneut ansah, wirkte ihr Blick vollkommen klar.
»Ich habe noch eine Flasche unter der Spüle in meiner Küche stehen. Mein Großvater hat diese Mixtur nach einem alten Rezept hergestellt. Ich glaube, es stammte von einem gewissen Hugo von Spanheim, einem Heilkundigen aus dem 15. Jahrhundert. Ich ...«, sie stockte und hob nach einigen Sekunden erneut an.
»Es erschien mir sinnvoll, es einzusetzen. Wie sonst hätte ich die Männer ruhigstellen sollen?« Die Frage klang aus ihrem Mund so ruhig und offen, als ob sie sich in einer Examensprüfung befand und ihr einfach nur die Aufgabenstellung nicht klar war. Oliver schluckte.
»Sie sagen also, dass es noch eine Flasche gibt. Warum hat unsere Spurensicherung sie dann nicht entdeckt?«
»Nun, das Mittel befindet sich in einer Spülmittelflasche. Wahrscheinlich haben ihre Kollegen nicht richtig nachgesehen.«
Die plötzliche Kälte in ihrer Stimme verwirrte Oliver im ersten Moment. Dann setzte so etwas wie Wut ein. Wut auf sich selbst, dass er sich von ihrer zermürbten Erscheinung hatte blenden lassen. Dass er nicht an ihre Schuld glaubte, obwohl sie es doch offensichtlich war. So, wie sie jetzt vor ihm saß, ihn anblickte und mit dieser eisigen Ruhe seine Fragen beantwortete, wie hatte er da zweifeln können?
Die Erkenntnis ließ ihn von seinem Stuhl hochschrecken. Er hatte keine weiteren Fragen mehr an sie. Ohne Saskia eines weiteren Blickes zu würdigen, murmelte er einen Abschiedsgruß. Er wollte gerade die Tür öffnen, als eine Frage ihn zurückhielt.
»Weiß Dr. Neuenhaus eigentlich, dass ich hier bin?« Die Kälte aus Saskias Stimme war mit einem Mal verschwunden. Irritiert hielt Oliver inne.
»Ja, er hat mich angerufen, weil Sie nicht zur Hypnosestunde erschienen sind.« Noch bevor Saskia eine weitere Frage stellen konnte, gab Oliver dem Beamten ein Zeichen, die Tür zu öffnen. Dann verließ er eilig das Gebäude der Justizvollzugsanstalt, das sich in Ratingen, ungefähr zwanzig Kilometer von seinem Neusser Büro entfernt, befand.
Noch aus dem Dienstwagen heraus rief er Ingrid Scholten, die Leiterin der Spurensicherung, an und erkundigte sich nach der Spülmittelflasche, die Saskia Heinermann gerade erwähnt hatte. Wie Oliver bereits vermutete, hatten die Kollegen der Spurensicherung ihre Arbeit gründlich verrichtet und die Flasche neben Hunderten anderer Beweismittel sichergestellt. Die Untersuchung der einzelnen Gegenstände zog sich jedoch hin und die Spülmittelflasche war relativ weit hinten auf der Liste gelandet. Ingrid Scholten versprach ihm, die Analyse innerhalb der nächsten Stunden vorzunehmen.
Oliver kehrte in sein Büro zurück. Obwohl er nicht gerne mit dem großen Whiteboard, welches sein Partner Klaus vor ein paar Monaten besorgt hatte, arbeitete, blieb er davor stehen. Blaue Linien, die quer über das Board verliefen, stellten die verschiedenen Zeitabläufe dar, die die beteiligten Personen mit den Morden in Verbindung brachten. Nur Saskia Heinermanns Linie kreuzte jedes Mal zum Zeitpunkt des Mordes die horizontale Linie. Bei Pascal Heinermann hingegen gab es keine Berührungspunkte zwischen der Linie, die den Zeitpunkt des zweiten Mordes kennzeichnete, und seiner eigenen. Er hatte ein Alibi. Oliver hatte sich diesen Zeitstrahl bereits mehrmals angeschaut. Alles passte zusammen. Trotzdem konnte er seinen Blick nicht abwenden. Das Observierungsteam hatte den Tagesablauf Saskia Heinermanns detailliert aufgezeichnet. Die wichtigsten Ereignisse hatte Oliver auf dem Whiteboard ergänzt. Dazu gehörten beispielsweise die Zeitpunkte, zu denen sie ihren Sohn aus dem Kindergarten abholte, und die Zeiten, in denen sie im »Alten Zollhaus« kellnerte. Eine Nachbarin, die ab und an auf den kleinen Nils aufpasste, hatte zudem die Zeiten geliefert, zu denen Saskia Heinermann nach ihren Schichten nach Hause kam. Ihre Aussage war nicht ganz unwichtig, da die Observierung durch die Polizei erst nach dem zweiten Mord begonnen hatte. Insbesondere für die Nacht, in der Torsten Schniewald ermordet worden war, hatte die alte Dame ausgesagt, dass Saskia Heinermann erst kurz vor dem Morgengrauen gegen fünf Uhr zu Hause eintraf. Der Knall der Wohnungstür hatte sie aus dem Schlaf gerissen. Die alte Frau lebte allein und kannte die Tagesabläufe der gesamten Nachbarschaft in- und auswendig. Ihre Aussage erschien glaubwürdig und beraubte Saskia Heinermann eines möglichen Alibis. Oliver runzelte die Stirn und ging jedes Ereignis noch einmal durch. Seine Finger glitten über die blaue Linie und hielten jedes Mal an, wenn diese von einer vertikal verlaufenden roten Linie gekreuzt wurde. Seine Finger stoppten mehrmals. Unbewusst formten seine Lippen ein stummes Wort. Er fuhr zurück und begann zu zählen. Der Rhythmus schien immerfort dem gleichen Muster zu folgen. Er schloss die Augen und dachte nach. Als er sie wieder öffnete, fiel sein Blick auf den Schreibtisch. Ein gelber Notizzettel von Hans Steuermark klebte mitten darauf. Oliver las die Nachricht. In seinem Gehirn formierten sich plötzlich alle Puzzleteile zu einem Gesamtbild. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz. Er fasste sich an den Kopf und verharrte noch einige Sekunden vor dem Whiteboard. Dann stürmte er aus dem Büro.
...
Der Parkplatz vor dem Klinikum in Köln war wie leergefegt. Nur noch einzelne Wagen standen verstreut herum, wie verlorene Schafe, die den Anschluss an ihre Herde verpasst hatten. Die Flure innerhalb des Gebäudes waren grell von Neonlicht beleuchtet, obwohl die Abendsonne noch ausreichend hell war. Der graue Bodenbelag und die weißen Wände schufen gemeinsam mit dem kalten Neonlicht eine unbehagliche Atmosphäre. Die meisten Etagen der Klinik waren menschenleer. Hier und dort huschte eine Schwester im weißen Kittel über den Flur, um innerhalb weniger Augenblicke hinter einer der vielen grauen Türen zu verschwinden.
Markus Schweigstein war in ein Fachbuch vertieft. In der rechten Hand hielt er einen blauen Kugelschreiber, mit dem er über ein Blatt Papier fuhr. Auf dem Blatt war eine Art Wassertank skizziert. Dicke Linien kennzeichneten die Zu- und Abflüsse für das Salzwasser. Die Ziffern beschrieben die Maße für die Größe und das Volumen des Tanks. Schalter für die Stromzufuhr und den Notausstieg waren ebenfalls eingezeichnet. Die Skizze war noch nicht vollständig. Schweigstein zeichnete eine weitere Linie ein.
»Ist das der Tank, mit dem Sie Dr. Neuenhaus bei seinen Experimenten unterstützen?«
Die Stimme ließ Schweigstein aufschrecken. Oliver Bergmann stand vor seinem Schreibtisch und blickte auf die Zeichnung. Er war so vertieft in seine Arbeit gewesen, dass er nicht gehörte hatte, wie Bergmann eingetreten war.
Schweigstein nickte. »Ja, wir wollen das Modell vergrößern, damit mehrere Probandinnen an seiner Hypnosesitzung teilnehmen können.« Er zögerte und fuhr dann fort: »Darf ich Sie fragen, was sie um diese Uhrzeit hier tun?«
»Nun, ich bin auf der Suche nach ein paar Antworten«, erwiderte Oliver lauernd. Schweigsteins Stirn legte sich in Falten. Er schwieg.
»Seit wann arbeiten Sie mit Dr. Neuenhaus zusammen?«, fragte Oliver schließlich.
»Wir kennen uns schon eine halbe Ewigkeit. Warum?«
»Ich meinte die klinische Studie für das Anti-Stress-Medikament. Seit wann genau unterstützen Sie Dr. Neuenhaus?«
Schweigstein zögerte unsicher. »Was hat das ...« Eine Tür schlug polternd zu und ließ Markus Schweigstein mitten im Satz abbrechen. Die hochgewachsene Gestalt von Dr. Neuenhaus erschien im Türrahmen. Gedankenlos schob Neuenhaus die randlose Brille den Nasenrücken hinauf. Als er Oliver Bergmann erkannte, ließ er die Brille los.
»Guten Abend, Kommissar Bergmann. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Ich wollte wissen, zu welchem Zeitpunkt Sie Herrn Schweigstein in ihre Studie eingebunden haben?«
Neuenhaus warf Oliver einen verwunderten Blick zu. »Und deshalb kommen Sie extra hierher? Sie hätten anrufen können.«
Oliver erwiderte nichts.
»Seit zwei Wochen. Wenn Sie es ganz genau wissen wollen. Er hat vorletzte Woche Dienstag hier angefangen.«
Oliver zückte sein Notizbuch und blätterte. Das war einige Tage nach der Ermordung des Stadtrates Torsten Schniewald. Er nickte und schwieg. Schweigstein erhob sich zögerlich.
»Ich bin mit meiner Freundin verabredet. Ich muss los. Wenn Sie noch weitere Fragen haben, können wir die doch morgen klären?« Ohne eine Antwort abzuwarten, begann er seine Sachen in eine Umhängetasche zu stopfen. Dann begab er sich eilig zum Ausgang. Dort drehte er sich noch einmal um: »Ich darf doch?«
Oliver nickte. »Natürlich. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.«
Die Tür schlug zu und Oliver war mit Dr. Neuenhaus alleine.
»Wollen Sie sich setzen?« Neuenhaus bot ihm einen Platz vor dem Schreibtisch an.
Oliver blieb stehen und fragte: »Wie lange dauert eine Sitzung mit Patienten ihrer Studie im Schnitt?«
»Ungefähr eine Stunde.« Neuenhaus nahm hinter dem Schreibtisch Platz.
»Eine Sache wundert mich«, fuhr Oliver fort und zog ein Blatt aus seiner Tasche. Es war eine Kopie der Behandlungszeiten von Saskia Heinermann, die ihm die Empfangsdame bei seinem ersten Besuch mitgegeben hatte.
»Frau Heinermann scheint regelmäßig drei Stunden hier gewesen zu sein«, stellte Oliver fest. Er sah Neuenhaus dabei direkt in die Augen. Dieser hielt seinem Blick stand und zuckte mit den Schultern.
»Die Termineintragungen meiner Assistentin erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.«
Oliver nahm die Kopie und begann vorzulesen. »Donnerstag, zehn Uhr. Frau Saskia Heinermann. Behandlung mit Hypnose um elf Uhr abgeschlossen. Danach bis ein Uhr mittags Einzelsitzung.« Oliver las noch drei weitere Termine vor, die alle das gleiche Schema aufwiesen. »Können Sie mir erklären, was Sie mit Saskia Heinermann in den folgenden zwei Stunden besprochen haben? Ihr Hypnotiseur war ja während dieser Zeiten offensichtlich mit anderen Behandlungen beschäftigt.« Er hielt Neuenhaus die Kopie eines weiteren Termineintrags vor die Nase, der die Behandlungstermine von Markus Schweigstein dokumentierte. Das Rechercheteam hatte den Kalender im Rahmen der Umfeldanalyse besorgt. Schweigstein führte die Hypnosestunden für seine eigenen Patienten auch während der Zusammenarbeit mit Dr. Neuenhaus fort.
Neuenhaus starrte Oliver feindselig an. »Was soll diese Frage?«
»Merkwürdigerweise kann Saskia Heinermann sich nicht an alle Details ihrer Morde erinnern. Vor und nach den einzelnen Taten hatte sie jeweils längere Termine mit Ihnen als alle anderen Probandinnen. Keine weitere Patientin wurde von Ihnen mehr als eine Stunde behandelt. Glauben Sie, dass das mangelnde Erinnerungsvermögen von Frau Heinermann möglicherweise etwas mit Ihren überlangen Therapiesitzungen zu tun haben könnte?« Olivers Frage traf ins Schwarze. Die Augen von Dr. Neuenhaus weiteten sich für einen Moment, bevor er sich wieder fassen konnte.
»Nein, das denke ich nicht. Wie bereits gesagt, erhebt der Terminkalender keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Meine Assistentin führt ihn und Sie werden sicher verstehen, dass ich nicht jeden Eintrag auf seine Richtigkeit kontrollieren kann.« Neuenhaus‘ Finger fuhren nervös über die Tischkante und blieben auf einem ledernen Buch hängen. Oliver sah das rote Siegel, das den Einband zierte. Er zuckte. Das Siegel kam ihm bekannt vor. Er hatte es in einem der Notizbücher von Saskias Großvater gesehen.
»Das ist ein schönes Buch. Das Siegel gehört zum Geschlecht der von Spanheims. Haben Sie es geerbt?«, fragte Oliver mit scharfer Stimme.
Dann geschah alles im Bruchteil einer Sekunde. Das Licht erlosch und eine Ladung Pfefferspray landete in Olivers Gesicht. Seine Augen brannten höllisch und er schlug blind um sich. Er bekam Neuenhaus am Ellenbogen zu fassen und riss ihn herum. Sie wälzten sich über den Boden und Oliver krachte mit dem Kopf dabei an einen harten Gegenstand. Tränen liefen über sein Gesicht und er hatte Schmerzen. Sein Gegner trat ihm in die Körperseite. Oliver versuchte seine Waffe zu ziehen, doch er war immer noch fast blind und die Tritte seines Gegners hinderten ihn an der Bewegung. Dann zischte es erneut. Das Pfefferspray landete auf seinen Schleimhäuten und Oliver schaffte es nicht mehr, den Kopf rechtzeitig wegzudrehen. Diesmal verfehlte die Dosis ihre Wirkung nicht. Oliver wurde schwarz vor Augen. Das Letzte, was er spürte, waren Dr. Neuenhaus‘ Hände, die sich um seinen Hals legten.
...
Es war schon spät. Ingrid Scholten war alleine im Labor. Die Opiummixtur, die sie in der alten Spülmittelflasche entdeckt hatte, hatte es in sich. Sie bestand aus einer Vielzahl an Zutaten, die sie mühsam auseinanderdividieren musste. Seltsamerweise war die Flüssigkeit mit einer Substanz versetzt, die sie bislang nicht identifizieren konnte. Ingrid Scholten gab die bisher bekannten Bestandteile mit ihren prozentualen Anteilen an der Gesamtmenge in ihren Computer ein. Sie besaß ein spezielles Analyseprogramm, das in der Lage war, die Wirkungsweise der Mixtur zu simulieren. Im Augenblick wies das Programm jedoch keine Wirkung aus, weil die Zusammensetzung der von Ingrid Scholten identifizierten Bestandteile einfach wirkungslos war. Es fehlte ein wesentlicher Bestandteil, den sie unbedingt identifizieren musste. Ingrid Scholten fuhr sich nachdenklich über das Kinn. Sie hatte irgendetwas übersehen. Wieder ergriff sie eine Pipette und sog winzige Tröpfchen des schwarzen Elixiers auf, um es dann in eine Zentrifuge zu geben. Sie versetzte das Gemisch mit einem chemischen Mittel, welches dafür sorgte, dass sich die schwarze Flüssigkeit in ihre einzelnen Bestandteile zerlegte. Scholten startete den Apparat, der augenblicklich wie ein Kätzchen zu schnurren begann, und blickte auf die Uhr. Sie hatte Oliver Bergmann noch heute ein Ergebnis versprochen. Sie wusste, dass er unter erheblichem Druck stand und dringend endgültige Beweise für Saskia Heinermanns Schuld benötigte. Sie wählte seine Nummer, um ihm mitzuteilen, dass sie noch einige Minuten benötigte, doch nach ein paar Klingeltönen sprang seine Mailbox an. Ingrid Scholten wunderte sich. Oliver Bergmann war rund um die Uhr zu erreichen. Noch nie hatte er einen ihrer Anrufe nicht entgegengenommen. Die Zentrifuge piepste laut und hörte auf zu schnurren. Ingrid Scholten vergaß den Gedanken und holte das dünne Glasröhrchen heraus. Die schwarze Flüssigkeit hatte sich in mehrere Schichten zerlegt. Vorsichtig nahm Scholten die Pipette zur Hand und fuhr mit ihrer Arbeit fort.
...
Oliver stöhnte. In seinem Kopf hämmerte es gnadenlos wie ein Bohrhammer in einem Bergwerk. Ihm war schwindelig. Er leckte sich über die aufgeplatzten Lippen und nahm den metallischen Geschmack von Blut wahr. Und da war noch etwas anderes: Wasser. Es machte ihn fast schwerelos. Es musste Salzwasser sein. Sein Kopf war mit einer Schiene fixiert. Er konnte ihn nur leicht nach rechts und links drehen. Alles um ihn herum war schwarz. Auch Arme und Beine waren nur bedingt bewegungsfähig. Immerhin hatte er einen gewissen Spielraum, der es ihm ermöglichte, die Hülle des Wassertanks, in dem er sich offensichtlich befand, abzutasten.
»Bevor Sie mit der Untersuchung ihrer Todeszelle beginnen, schlage ich vor, sich erst einmal die Vorführung anzuschauen.« Die Stimme dröhnte direkt in seinem Kopf. Erschrocken zuckte Oliver zusammen. Panisch ertasteten seine Hände die Kopfhörer, aus denen die Worte gekommen waren. Es war Dr. Neuenhaus‘ Stimme, daran hegte Oliver keinen Zweifel. Verdammt, wie sollte er hier nur rauskommen? Sein Partner Klaus war längst im verdienten Feierabend. Er ahnte nicht einmal, dass Oliver sich in Gefahr befand.
Plötzlich wurde es hell. Olivers Augen wurden auf eine Leinwand gelenkt, die vor dem Floating-Tank aufgestellt war. Er konnte sie durch ein kleines Sichtfenster sehen, das direkt in seiner Kopfhöhe angebracht war. Sein Atem stockte, als diffuse Bilder die Leinwand abrupt zum Leben erweckten. Auf einem Bett lag Torsten Schniewald. Seine toten Augen starrten Oliver an. Die Bilder wechselten in rasendem Tempo. Mal war es das Meer, mal ein Burggraben, dazwischen erschien immer wieder Schniewalds Gesicht. Die Abfolge der Bilder wurde immer schneller und schwoll zu einem Wirrwarr an, das Olivers Gehirn nicht mehr auseinanderhalten konnte. Genau in dem Augenblick, in dem er das Gefühl hatte, sein Hirn würde aus dem Schädel platzen, stoppten die Bilder. Die Leinwand war leer. Nur Sekundenbruchteile später sah Oliver das Bild von Peter Groehn. Sein Schädel war auf unnatürliche Art und Weise entstellt. Fotografien von Autos und schwarzen Kutschen wechselten sich mit Videoaufnahmen der sterbenden Opfer ab. Aus dem Kopfhörer drang das schrille Wiehern von Pferden, gefolgt von einem lauten Knall. Die Geräuschkulisse schwoll zu einem unheilvollen Kreischen an, das Oliver an eine Kreissäge erinnerte. Als die Bilder von Saskia Heinermanns erstochenem Vater und seiner Verlobten auftauchten, schloss er die Augen. Er wollte diese Bilder nicht sehen.
»Öffnen Sie die Augen, Kommissar Bergmann. Oder wollen Sie das Wichtigste verpassen?« Dr. Neuenhaus‘ Stimme drang unerbittlich in seinen Kopf.
»Warum haben Sie all diese Menschen umgebracht?«, presste er mühsam hervor.
Ein Lachen ertönte. »Nun, was denken Sie?«
»Ich denke, dass Sie krank sind!« In Olivers Stimme war unverhohlene Verachtung zu hören. Er drehte den Kopf so weit wie möglich zur Seite und versuchte, die Konturen des Wassertanks zu erkennen. Solange Bilder auf die Leinwand projiziert wurden, drang Helligkeit in den Tank ein, und so konnte Oliver einen Blick auf das Innenleben seines Gefängnisses erhaschen.
»Ich hatte einen perfekten Plan und Sie haben ihn mit ihrem krankhaften Perfektionismus durchkreuzt. Warum konnten Sie sich nicht mit Saskia Heinermanns Geständnis zufriedengeben? Sie sitzt doch in Untersuchungshaft und hat sicherlich jedes Detail zugegeben. War das nicht genug?«
In diesem Augenblick begriff Oliver Dr. Neuenhaus‘ Plan. Er hatte von Anfang an Saskia Heinermann dazu auserkoren, die Morde, die er selbst begangen hatte, an seiner Stelle zu gestehen. Oliver stöhnte. Dieser Wahnsinnige hatte Saskia Heinermann einer Art Gehirnwäsche unterzogen. Plötzlich ergaben die Lücken, die er noch eben in den Zeitabläufen auf dem Whiteboard in seinem Büro entdeckt hatte, Sinn. Saskia Heinermann war in den Stunden vor den Morden und einen Tag danach jedes Mal fast drei Stunden von Dr. Neuenhaus behandelt worden. Er hatte ihr die Bilder seiner Taten, vermischt mit suggestiven Fotografien und Videoaufnahmen vorgespielt und sie anschließend dazu gebracht, zu glauben, sie selbst hätte die Morde begangen. Er sah die Notiz, die Hans Steuermark auf seinem Schreibtisch hinterlassen hatte, vor sich: »Dieser Tank könnte ein Floating-Tank sein. Entwickelt wurde er von dem amerikanischen Neurologen Dr. John C. Lilly. Er setzte ihn zur Bewusstseinsforschung ein.« Bewusstseinsforschung oder in diesem Fall viel besser: Manipulation.
Erneut ertönte Dr. Neuenhaus‘ Stimme dicht an seinem Ohr. »Ich habe perfekte Morde geplant. Morde, für die sich am Ende eine passende Täterin findet, mit der alle zufrieden sein können.« Kurzes Schweigen. »Und ich habe vor, meine Experimente fortzuführen. Sie werden mich nicht daran hindern.«
»Doch, genau das habe ich vor. Warum mussten es denn gleich mehrere Morde sein? Hätte für den Anfang nicht ein perfekter Mord genügt?« Olivers Stimme hatte sich in ein wütendes Zischen verwandelt. Er ruckelte an seinen Fesseln.
In der Stimme, die ihm antwortete, schwang Nachdenklichkeit mit.
»Ich hatte in der Tat zunächst einen einzigen Mord geplant. Er sollte perfekt sein.»
Neuenhaus‘ Stimme wurde zu einem heiseren Flüstern. »Sie müssen wissen, es ist so etwas wie eine Leidenschaft für mich, Menschen zu kontrollieren und sie wie Marionetten tanzen zu lassen. Leider erwies sich mein Medikament bei Saskia Heinermann als nicht wirksam genug. Dabei habe ich Jahre gebraucht, um es zu entwickeln. Doch Saskia wollte einfach nicht begreifen, dass sie eine Mörderin war.«
Es entstand eine kurze Pause, nach der Neuenhaus‘ Stimme fast zu einem Kreischen anschwoll: »Es war eine komplizierte Aktion, den beiden unbemerkt in die Wohnung zu folgen und sie im richtigen Augenblick schachmatt zu setzen.« Neuenhaus kicherte: »Ich hatte vorher noch nie ein Pärchen aus nächster Nähe beim Sex beobachtet. Sie waren so beschäftigt, dass sie mich nicht einmal bemerkt haben. Erst der Einstich meiner Spritzen brachte die beiden zur Besinnung. Aber die Droge hat sie so schnell erledigt, dass ich genug Zeit hatte, den Schönling zu ertränken und alles für Saskias grandiose Abschlussszene vorzubereiten. Sie sollte glauben, dass sie ihn beim Sex ertränkt hat. Ich habe sie extra auf die Leiche von Torsten Schniewald gesetzt. Sie ist so lange auf seinem toten Körper geritten, bis ihre Oberschenkel wund waren. Aber es hat nichts genützt. Obwohl alles realistisch nachgestellt war, wollte sie den Mord einfach nicht verinnerlichen. Ich habe Saskia sogar in ihr eigenes Bett zurückgebracht, damit ihr klar wird, dass sie nach dem Mord in ihre Wohnung geflüchtet ist. Es sollte wie ein Verstärker wirken. Nach meinem Plan hätte sie sich umgehend bei der Polizei stellen müssen. Stattdessen kam sie wieder zu mir und klagte über Stress und Angstgefühle. Ich war am Boden zerstört, bis mir endlich die Idee kam, mit Hypnose nachzuhelfen. Markus Schweigstein ist ein Experte auf dem Gebiet.« Abermals machte Neuenhaus eine Pause.
»Nach ein paar Sitzungen war sie bereit für den nächsten Versuch. Ich habe einen ausrangierten Tank in einer alten Industriehalle umgebaut, Saskia Heinermann während meiner Therapiesitzung betäubt und sie anschließend hineingesteckt. Peter Groehn war ein Gewohnheitstier und das perfekte Opfer für den neuen Test. Ihn auf den Weg von der Arbeit nach Hause zu schnappen war ein Kinderspiel. Ich habe ihn direkt vor Saskia Heinermanns Augen ermordet. Sie konnte durch das Fenster im Tank alles hautnah miterleben. Anschließend habe ich ihr immer und immer wieder die Geschichten aus den Notizbüchern ihres Großvaters vorgelesen. Als gewissenhafter Historiker hatte er die Morde an Martha Hatzfeld, den Gebrüdern Schimmelpfennig und Hugo von Spanheim so wunderbar detailliert niedergeschrieben, dass sie eine perfekte Vorlage für mich waren. Saskia hatte mir die Lieblingsgeschichten ihres Großvaters anvertraut und ich musste nur noch dafür sorgen, dass ihr Unterbewusstsein sie in unserer Zeit lebendig werden lässt. Saskia Heinermann war meine Nummer eins, die schwarze Königin und stärkste Figur in meinem Schachspiel. Ihr psychologisches Profil und ihre Angstzustände haben Sie zu meiner idealen Testperson gemacht.« Neuenhaus hustete.
»Jedenfalls lief der zweite Mord so gut, dass ich ganz einfach nicht aufhören konnte. Ich hatte sie besinnungslos am Rheinufer ausgesetzt, und wie der Zufall es wollte, entdeckte sie einen Leichenwagen auf dem Weg zurück in ihre Wohnung. Sie war so verwirrt, dass sie jeden Tag die Zeitung nach dem Unfall absuchte, den ich ihr ins Gehirn gepflanzt hatte. Endlich zeigte mein Medikament Wirkung. Sie hatte an den richtigen Stellen Filmrisse und in ihrem Inneren wuchs die Überzeugung, eine Mörderin zu sein.
Der Mord an ihrem Vater war die Krönung, die sie endgültig von ihrer Schuld überzeugen sollte. Seine Verlobte war zur falschen Zeit am falschen Ort, aber auch mit diesem Mord hat Saskia Heinermann sich am Ende identifiziert. Ich kann Ihnen so viel verraten, dass sie es in Teilen sogar genossen hat.« Dr. Neuenhaus brach in schallendes Gelächter aus. »Verraten Sie mir eines, Bergmann. Hat sie Ihnen das Elixier in ihrer Wohnung gezeigt? Ich hatte es in einer Spülmittelflasche versteckt und habe mir wirklich Mühe gegeben, es in ihr Gehirn zu pflanzen.«
»Sie kranker Mistkerl, ich werde Sie hinter Gitter bringen!«, brüllte Oliver wütend. Neuenhaus lachte lauthals. Offensichtlich amüsierte ihn seine Drohung. Oliver beschloss, die gute Stimmung dieses Psychopathen zu nutzen und fragte: »Wie sind Sie überhaupt in die Wohnungen der Opfer hineingekommen?«
Das Lachen verstummte.
»Halten Sie mich für einen Stümper? Die Wohnung von Schniewald hatte ein simples Schloss, das jeder drittklassige Schlüsseldienst in wenigen Sekunden gewaltfrei öffnen kann. Und das Haus von Heinermann war noch einfacher zu betreten. Die kleine Saskia hat mir unter Hypnose verraten, dass der Schlüssel zur Hintertür in einem Blumenkübel versteckt war. Beantwortet das ihre Frage?« Neuenhaus‘ Stimme klang zynisch.
»Sie werden dafür bezahlen«, sagte Oliver.
Doch statt einer Antwort strömte plötzlich immer mehr Wasser in den Tank. Die Bilder auf der Leinwand verschwanden und Oliver wurde erneut von Schwärze eingehüllt.
»Verdammt, lassen Sie mich hier raus. Sie haben keine Chance«, brüllte er erneut. Schweigen. Das Wasser strömte unaufhörlich in den Tank. Es stand Oliver bereits bis zum Hals. Er musste etwas tun, wenn er nicht jämmerlich ertrinken wollte.
...
Ingrid Scholten legte auf. Irgendetwas stimmte nicht. Sie hatte innerhalb der letzten dreißig Minuten bestimmt zehn Mal versucht, Oliver Bergmann zu erreichen. Niemand ging ans Telefon. Krampfhaft versuchte sie, sich daran zu erinnern, was Bergmann ihr am Telefon gesagt hatte, als er sie um die Analyse des Elixiers bat. Es wollte ihr einfach nicht mehr einfallen. Nervös drückte sie die Wahlwiederholungstaste. Es zwar zwecklos. Oliver Bergmann ging nicht ans Telefon. Ihr Magen schnürte sich zusammen. Es musste etwas Schlimmes passiert sein. Ingrid Scholten hatte die Analyse zu Ende geführt. Bei dem fehlenden Bestandteil handelte es sich um einen seltenen Schimmelpilz. »Aspergillus niger« war der Name des nachtschwarzen Gewächses, welches sich nur unter bestimmten Bedingungen züchten ließ. Es wurde im Mittelalter verwendet, um Rauschzustände zu erzeugen. Scholtens Computerprogramm hatte eine hochhalluzinogene Wirkung ermittelt. Wer immer dieses Mittel zu sich nahm, endete in einem Drogenrausch. Die Herstellung war kompliziert. Der Schimmelpilz benötigte absolute Dunkelheit, hohe Luftfeuchtigkeit und es durfte keinerlei Luftbewegungen geben, damit er einwandfrei gedieh. Sollte Saskia Heinermann diese Substanz tatsächlich hergestellt haben, würde Sie den Ort oder die Beschaffungsquelle benennen müssen, um ihre Aussage glaubhaft darzulegen.
Ingrid Scholten schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich hatte Bergmann recht. Eine einfache Kellnerin mit einem abgebrochenen Journalismus-Studium war sicher nicht in der Lage, eine solche Mixtur herzustellen. Plötzlich fiel ihr wieder ein, was Bergmann gesagt hatte. Furcht kroch in Ingrid Scholten hoch. Ihr Blick fiel auf die Uhr. Dann rannte sie los und stieg in ihren Wagen.
...
Das Wasser hatte sein Kinn erreicht. Oliver versuchte die Panik abzuschütteln, die langsam in ihm aufwallte. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren! Nur ein kühler Verstand konnte ihn hier herausbringen. Denk nach, Oliver! Er zwang sich, ruhig zu atmen. Nach seiner Schätzung blieben ihm noch gut fünf Minuten, bis der Wasserstand seine Nase erreicht hätte und ihm endgültig der Sauerstoff ausging. Krampfhaft dachte er nach. Seine Arme und Beine hatte er mittlerweile von den Fesseln befreit. Ein kleines Taschenmesser, das er immer bei sich trug, hatte ihm dabei geholfen. Seine Finger tasteten unablässig die Hülle des Wassertanks ab. Sie stießen auf feste Eisennähte, die die einzelnen Teile des Tanks zusammenschweißten. Das Fenster ließ sich nicht eintreten. Es war aus Sicherheitsglas. Die Öffnung wäre auch zu klein gewesen, um hinauszugelangen. Aber wenigstens hätte das Wasser aus dem Tank abfließen können und Oliver hätte weiter Luft bekommen. Jetzt drohte ihm der Tod durch Ertrinken. Derselbe Tod, der Torsten Schniewald, das erste Opfer, ereilt hatte, fuhr es Oliver durch den Kopf. Und mit einem Mal hatte er eine vage Erinnerung. Die Skizze, die der Hypnotiseur Markus Schweigstein angefertigt hatte, erschien vor seinem inneren Auge. Oliver atmete tief durch und versuchte, sich an die einzelnen Details zu erinnern. Ein Kreuz kam ihm in den Sinn. Das Wasser hatte bereits seine Unterlippe erreicht. Er holte tief Luft und tauchte unter. Wenn dieser Tank genauso konzipiert war wie auf Schweigsteins Skizze, dann musste Oliver am Boden des Tanks fündig werden. Hektisch tastete er den Boden ab. Nichts. Er versuchte es an den Rändern. Die Zeit wurde langsam knapp. Olivers Lungen brannten. Er brauchte dringend den nächsten Atemzug und fühlte, wie er immer schwächer wurde. Nicht aufgeben, mahnte er sich und suchte weiter. Endlich. Er hatte das Kreuz auf der Skizze gefunden. Mit aller Kraft drückte er zu. Zunächst tat sich nichts, doch dann hörte er ein entferntes Surren. Der Deckel des Tanks öffnete sich. Oliver hatte sich an den Schalter für den Notausstieg auf Schweigsteins Skizze erinnert. Mit beiden Beinen stieß er sich ab und sprang nach oben. Keuchend tauchte er aus dem Salzwasser auf und hielt sich am Beckenrand fest. Das war knapp. Er nahm ein paar tiefe Atemzüge und wartete, bis er wieder zu Kräften kam. Dann kletterte er aus dem Tank. Seine Sinne waren vom Sauerstoffmangel benommen. Oliver taumelte ein paar Schritte und blieb dann an eine Wand gelehnt stehen. Mit pochendem Herzen lauschte er in die Dunkelheit hinein. Er fragte sich, ob Dr. Joachim Neuenhaus sich noch im selben Raum befand und ihm erneut auflauern wollte. Oder war er so überzeugt davon, dass Oliver in dem Tank ertrinken würde, dass er bereits die Entsorgung seiner Leiche vorbereitete? Olivers Hände ertasteten einen Lichtschalter. In Erwartung des grellen Neonlichtes kniff er die Augen zusammen, als sich polternde Schritte näherten. Instinktiv griff Oliver nach seinem Taschenmesser und duckte sich. Sein Herz pochte bis zum Anschlag. Alle seine Sinne waren auf die Schritte gerichtet, die unaufhörlich näher kamen. Er machte sich zum Angriff bereit und spannte die Muskeln an. Die Tür öffnete sich mit einem gewaltigen Krachen und traf Oliver an der Schläfe. Benommen taumelte er zurück. Als er die Augen öffnete, blickte er in das Gesicht von Dr. Neuenhaus. Sein Herzschlag setzte für einen Moment aus. Dann erst sah er Neuenhaus‘ versteinerten Gesichtsausdruck. Einen Wimpernschlag später registrierte er die Pistole, die an Neuenhaus‘ Schläfe gedrückt wurde. Die Hand, die die Waffe hielt, gehörte seinem Partner Klaus.
»Wie zum Teufel bist du hierhergekommen?«, keuchte Oliver atemlos.
»Ich dachte, es wäre sinnvoller ihn anzurufen und zu fragen, ob er mich begleitet.«
Die Antwort kam von einer bekannten Stimme, deren Besitzerin sich hinter den breiten Schultern seines Partners verbarg. Lächelnd trat Ingrid Scholten hervor und legte ihre Arme auf Olivers Schultern.
»Ich habe mir wirklich Sorgen um Sie gemacht. Sie haben noch nie einen Anruf von mir verpasst. Aber wie ich sehe, sind Sie auch ganz gut ohne mich zurechtgekommen.«
Oliver grinste. »Ich habe mich noch nie so gefreut, Sie zu sehen«, erwiderte er. Dann fixierte sein Blick erneut Dr. Neuenhaus. Aus dem Hosenbund zog Oliver seine Handschellen. Mit einem Klicken rasteten sie um Neuenhaus‘ Handgelenke ein.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich Sie kriegen werde!« Oliver zwinkerte Neuenhaus böse zu. »Sie sind hiermit festgenommen. Ihnen wird zur Last gelegt die Morde an Torsten Schniewald, Peter Groehn, Hubert Heinermann und seiner Verlobten begangen zu haben.« Oliver erklärte Neuenhaus seine Rechte. Am Ende beugte er sich vor und zischte Neuenhaus ins Ohr: »Bei mir gibt es keinen perfekten Mord und jetzt werden Sie für alles bezahlen!«
Anschließend schob Klaus den Verhafteten aus dem Türrahmen. Oliver blickte auf die Uhr und lächelte. Die vierundzwanzig Stunden bis zur nächsten Pressekonferenz waren noch lange nicht abgelaufen. Es war Zeit, Saskia Heinermann aus dem Gefängnis freizulassen.
...
Anna fluchte. Ihr Auto hatte sie im Stich gelassen und sie hatte sich ein Taxi bis zum Bahnhof nehmen müssen. Sie mochte öffentliche Verkehrsmittel nicht besonders. Doch die Taxifahrt von Zons bis nach Köln war ihr zu teuer, und so blieb ihr nichts anderes übrig. Gerade bei den hohen Frühlingstemperaturen in diesem Jahr war die Luft in der Bahn unerträglich heiß, und sie wollte lieber in ihrem eigenen Wagen mit Klimaanlage sitzen. Aber wenn Sie nicht viel zu spät kommen wollte, blieb jetzt keine Zeit für einen Werkstattbesuch. Saskia und ihr Stiefbruder Pascal hatten sie, Emily und noch einige andere Bekannte in eine Kölner Studentenkneipe eingeladen. Sie wollten auf Saskias Entlassung und ihre baldige Genesung anstoßen. Saskia würde noch ein paar Wochen unter ärztlicher Aufsicht stehen, bis sichergestellt war, dass sie keine Halluzinationen mehr hatte und die Angstgefühle eingedämmt waren. Auch die Abhängigkeit von Neuenhaus‘ Drogen, die Saskia unter seiner sogenannten Therapie entwickelt hatte, musste dringend behandelt werden.
Anna mochte Pascal zwar immer noch nicht leiden, aber so war es ihr lieber, als wenn sich Saskias Stiefbruder als Mörder entpuppt hätte. Sie rieb sich die Schläfen. Die letzte Nacht war wieder unruhig gewesen. Bastian Mühlenberg war kurz in ihren Träumen aufgetaucht, doch er hatte sich von Anna verabschiedet. Sie konnte immer noch den Schmerz dieses Augenblicks spüren. Nachdem er weg war, tauchte der andere Mühlenberg auf. Der mit dem älteren Gesicht und der modernen Frisur. Anna hatte keine Erklärung für diese konfusen Träume. Instinktiv ahnte sie, dass das alte Band zwischen ihr und Bastian Mühlenberg zerreißen würde. Es war, als ob das letzte Fenster zu ihrer gemeinsamen Welt sich nun endgültig und unwiderruflich schloss.
Ein Signalton kreischte auf. Anna musste sich beeilen. Laute Schritte erschallten hinter ihr. Sie war nicht die Einzige, die den Zug noch erreichen wollte. Schnell sprang sie die letzten Treppenstufen hinauf und lief auf die offene Schiebetür der S-Bahn zu. Sie schaffte es gerade rechtzeitig. Mit lautem Piepen schlossen sich die Türen. Anna drehte sich um und blickte hinaus. Vor der Tür tauchte auf einmal ein blonder Haarschopf auf, das Gesicht nach unten geneigt. Seine Hände drückten auf den Türöffner, doch es war zu spät. Die S-Bahn setzte sich bereits langsam in Bewegung. Der Mann fluchte und sah auf. Ihre Blicke trafen sich im Bruchteil einer Sekunde. Annas Herz hämmerte. Dort draußen stand er und blickte sie an. Sie erkannte ihn auf der Stelle. Er hob seine Hände, als wolle er die Bahn anhalten, aber es war zu spät. Quietschend nahmen die Räder Geschwindigkeit auf und bald konnte Anna nur noch schemenhaft die Gestalt Bastian Mühlenbergs erkennen. Doch er sah anders aus als der Bastian, der ihr vertraut war. Seine Haare waren viel kürzer und er wirkte ein wenig älter. Dennoch, dort draußen war ein Teil von ihm. Jemand, der in der Gegenwart existierte. Ihre Gedanken rasten und ihr Verstand versuchte immer noch zu begreifen, wen sie dort eben gesehen hatte. Sie schlug mit der Hand gegen die Glastür und verfluchte im Nachhinein ihre schnellen Beine, die sie den Zug noch rechtzeitig hatten erreichen lassen. Die S-Bahn fuhr aus dem Bahnhof und Anna ließ sich gegen die Tür sinken. Ihr Atem ging heftig. Der Schmerz übermannte sie für einen Augenblick. Der Bastian Mühlenberg aus ihren Träumen hatte sich verabschiedet, er würde wahrscheinlich nie wieder zu ihr zurückkehren. Doch trotzdem war dieser Mann auf dem Bahnhof erschienen und hatte sie erkannt, so, wie sie ihn. Annas Blick ging zur Uhr. Sie wusste, was sie morgen um dieselbe Zeit tun würde. Sie schloss die Augen und ein zartes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Es war ein Lächeln voller Hoffnung. Sie würde ihren Bastian Mühlenberg wiedersehen.
ENDE