XII.

Vor fünfhundert Jahren

 

 

Bastian konnte es nicht fassen. Er war nur knapp zwei Tage fort gewesen, um sich in Köln den Bauernhof des Mörders Dietrich Hellenbroich genauer anzusehen und ausgerechnet in der letzten Nacht war der nächste Mord passiert. Er hatte es schon geahnt, als er sich dem Stadttor von Zons näherte und die halbe Stadtwache aufgeregt herausgeströmt kam, nachdem sie ihn erkannt hatten. Diesmal hatte es die junge Gertrud Minkenberg erwischt. Verdammt, der Mistkerl hat es wirklich darauf abgesehen, junge Mädchen bei Vollmond umzubringen. Bastian machte sich schreckliche Vorwürfe, dass er zu spät zurückgekehrt war. Wäre er nur eine Woche vorher nach Köln gereist, hätte er den Mord vielleicht verhindern können. Und wäre er nicht weg gewesen, hätte er dafür gesorgt, dass die Wachen weiter auf höchster Alarmstufe ihren Dienst verrichtet hätten. Doch in den zwei Tagen während seiner Abwesenheit sind sie einfach in ihren alten Rhythmus zurück verfallen, weil die ganze Zeit über nichts passiert war. Bastian war außer sich, als sie ihm dies gestanden hatten. Er war so wütend, dass er ihnen allen die Extraration Met, die Söldnern der Stadtwache in Zons zustand, strich.

In seiner Verzweiflung und Wut suchte Bastian Zuflucht bei Pfarrer Johannes. Dieser verabreichte ihm einen kräftigen, heißen Rotwein und Bastian merkte, wie er anfing, sich zu entspannen. Er erzählte dem Pfarrer von seinem merkwürdigen Ausflug nach Köln und von dem alten Hellseher. Dieser hörte ihm aufmerksam zu und nach einer Weile holte er einen Stadtplan von Zons hervor.

»Dann lasst mal sehen, lieber Bastian!«, sagte der Pfarrer und forderte Bastian auf, ihm das magische Trapez zu zeigen.

»Corvus videt virgo«, flüsterte der Pfarrer, »kennt Ihr die Bedeutung, Bastian?«

»Ja«, antwortete Bastian. »Ihr selbst habt mir doch Latein beigebracht. Es bedeutet: Der Rabe sieht die Jungfrau.«

Der alte Pfarrer lachte.

»Ja, doch zieht nicht so voreilig Eure Schlüsse. Blickt hinter die Bedeutung der bloßen Worte. Sagt mir, wofür stehen Rabe und Jungfrau?«

Bastian dachte nach. Er kannte Raben und er wusste, was eine Jungfrau war. Doch eine Verbindung zwischen diesen beiden Begriffen fiel ihm nicht ein. Er runzelte die Stirn und seufzte.

»Ich tauge wohl nicht mehr dazu, Rätsel zu lösen! Diese Morde rauben mir wirklich jegliche Kraft.«

»Jetzt gebt nicht so schnell auf, mein kluger Junge! So schnell verliert man seine Geisteskräfte nicht, auch wenn ich zugeben muss, dass dieser herrliche Rotwein es wirklich in sich hat!«

Mit diesen Worten holte der alte Pfarrer eine zweite Karte hervor und breitete sie vor Bastian aus.

»Schaut her. Könnt Ihr mir jetzt sagen, was die Worte bedeuten?«

Er zwinkerte Bastian aufmunternd zu. Dieser nahm noch schnell einen tiefen Schluck Rotwein aus seinem Becher und beugte sich dann vor.

»Ach, dass ich nicht gleich darauf gekommen bin. Es sind zwei Sternbilder!«

Bastian schlug sich die Hand vor den Kopf und grinste den Pfarrer an.

»Ihr seid mir wohl immer einen Schritt voraus!«

Dabei klopfte er dem Pfarrer liebevoll auf die Schultern.

»Ohne Euch würde ich wohl noch ewig grübeln, woher dieses Trapez stammt.«

Diesen Zusammenhang hatte ihm der alte Hellseher nicht offenbart. Zwar hatte er in der Nacht, als er ihm das magische Viereck oder besser Trapez gezeigt hatte, offenbar genau auf das Sternbild des Raben geschaut, jedoch ohne zu wissen, dass es sich um ein solches handelte.

»Gut, unser Mörder hat es also auf Sternbilder und den Vollmond abgesehen! Zons hat er sich ausgesucht, weil seine Mutter aus diesem Ort stammte und weil der alte Hellseher ihm gezeigt hat, dass die Stadtmauern von Zons dem Sternbild des Raben entsprechen.« Bastian öffnete sein Notizbuch und schrieb seine Gedanken auf.

»Pfarrer Johannes, meint Ihr, er tötet Frauen, weil das Sternbild Rabe an das Sternbild der Jungfrau angrenzt?«

»Es erscheint mir schleierhaft, wie ein einfacher Bauer an solch eine astronomische Bildung gekommen sein soll. Wenn der alte Hellseher Euch nichts von den Sternbildern erzählt hat, ist es vielleicht reiner Zufall.«

»Das kann ich nicht glauben. Wir sind in Zons. Der Hellseher hat mir erzählt, dass Dietrich Hellenbroich verrückt nach Sternen sei. Insbesondere bei Vollmond glaubt er an magische Kräfte. Das würde doch die Morde bei Vollmond erklären?«

»Das ist richtig, immerhin waren es jetzt schon zwei Morde bei Vollmond. Doch ein richtiges Muster kann ich nicht erkennen!«, erwiderte der Pfarrer nachdenklich.

»Schaut hier!«

Der Pfarrer zeichnete zwei Kreuze auf die Karte. »Hier sind die beiden Frauenleichen gefunden worden.«

Bastian schaute sich die Kreuze an. Eines war an der Stadtmauer von Zons und das Nächste am Rhein eingezeichnet. Elisabeth Kreuzer war an einer der Pfefferbüchsen am Schlossplatz aufgehängt worden und bei Gertrud Minkenberg hatte sich der Mörder diese Mühe nicht mehr gemacht. Er hatte ihre Leiche am Rhein liegen lassen und sie nicht aufgehängt. Entweder es gab kein Muster, oder der Mörder war einfach nur gestört worden. Der Arzt Josef Hesemann hatte herausgefunden, dass auch Elisabeth zuerst am Rhein gefoltert und missbraucht wurde und mit größter Sicherheit erst nach ihrem Tod an der Mauer aufgehängt worden war. Bastian blätterte in seinem Notizbuch.

»Seht hier, das sind die Zeichen, die ich an der Gefängnistür im Juddeturm gefunden habe«, sagte Bastian, »und diese Zeichen hier wurden Elisabeth in die Kopfhaut geritzt. Er macht sich doch nicht solche Mühe, wenn kein Muster dahintersteckt.«

Der Pfarrer sah sich die Zeichen an und grübelte. In der Tat sah es so aus, als ob der Mörder mit jeder Toten ein kleines Puzzleteilchen präsentierte. Mit jeder neuen Leiche wurde das Bild mehr und mehr vervollständigt. Doch wie krank musste jemand sein, der Mädchen ermordet und dann auch noch Nachrichten hinterlässt?

Der Kamin in der Ecke knisterte laut und verbreitete in dem kleinen Raum, in dem die beiden saßen, eine wohlige Wärme. Bastian erinnerte sich daran, wie er in den letzten beiden Tagen auf seiner Reise von Zons nach Köln gefroren hatte, und war froh, jetzt hier vor diesem angenehmen Feuer zu sitzen. Er rieb sich die Hände und starrte in die Flammen. Plötzlich kam ihm eine Idee und er zeichnete zwei weitere Kreuze in die Karte ein.

»Interessant«, sagte der Pfarrer und blickte auf die beiden Kreuze.

»Ja, vielleicht sind nicht die Fundorte der Leichen, sondern die Wohnorte der Mädchen entscheidend für das Puzzle!«, sagte Bastian und blätterte dabei aufgeregt in seinen Unterlagen.

»Ich bin mir sicher, dass die Zahlen ‚6-7-8-9‘ jeweils für eine der Zonser Stadtmauern stehen.«

Der Pfarrer nickte zustimmend, »Die ‚6‘ steht für die kürzeste Mauer im Süden, dann folgt die ‚7‘ im Westen, die ‚8‘ im Norden und die ‚9‘ steht für die längste Mauer im Osten.«

»Aber Elisabeth wohnte nicht an der Mauer im Süden. Das müsste sie, denn der Mörder hat ihr eine ‚6‘, eine ‚1‘ und den Buchstaben ‚K‘ in die Kopfhaut geritzt!« Bastian schüttelte den Kopf. Irgendetwas passte nicht zusammen.

»Der Buchstabe ‚K‘ könnte doch für ihren Nachnamen stehen!«, raunte der Pfarrer nachdenklich.

»Da könntet Ihr Recht haben!«, erwiderte Bastian. »Ich habe mir die Leiche von Gertrud noch nicht angeschaut. Ich werde das gleich morgen nachholen!«

Mit diesen Worten erhob sich Bastian.

»Sie müsste ein ‚M‘ auf der Kopfhaut eingeritzt haben. Wenn das stimmt. Dann sind wir einen ganzen Schritt weiter!«

Bastian verabschiedete sich vom alten Pfarrer und bedankte sich für seine Hilfe und den köstlichen Rotwein. Was er dem Pfarrer nicht sagte, waren seine Gedanken an die vielleicht noch kommenden Morde. Es gab vier Stadtmauern! Wollte Dietrich Hellenbroich etwa für jede Stadtmauer ein Mädchen opfern? Das war ein ganz schrecklicher Gedanke in Bastians Kopf, als er sich fröstelnd von der Kirche aus auf den Heimweg machte.

 

 

...

 

 

Am nächsten Tag verabredete sich Bastian mit dem Arzt Josef Hesemann. Wieder trafen sie sich in Josefs Haus in der Grünwaldstraße. Josef hatte Gertruds Leiche diesmal im Vorraum seines Hauses aufgebahrt. Die klirrende Januarkälte machte eine Untersuchung der Leiche im Hinterhof unmöglich. Es waren sicher fast minus zehn Grad und bei diesen Temperaturen würde die Leiche draußen so stark einfrieren, dass man sie nicht mehr bewegen könnte. Es war nicht auszuschließen, dass die Haut an einigen Stellen aufplatzen könnte und dass sie so zu fehlerhaften Schlussfolgerungen gelangen würden. Josef hatte seine Frau und seine kleine Tochter Agnes für eine Woche zu den Großeltern geschickt. Zu groß war ihm die Gefahr erschienen, dass seine kleine, wilde Agnes wieder zu ungestüm durchs Haus laufen und dabei auf die Leiche von Gertrud Minkenberg stoßen könnte. Fast hätte sie schon vor einem Monat die tote Elisabeth im Hinterhof entdeckt, wenn Bastian nicht so geistesgegenwärtig gewesen wäre und im letzten Augenblick die Sicht auf die Leiche für die kleine Agnes verstellt hätte. Josef liebte seine kleine Tochter über alles und so wollte er um jeden Preis Schlechtes von ihr abwenden. Wenn die Kleine nicht im Haus war, hatten er und Bastian jedenfalls genug Zeit, um die Leiche ausgiebig zu untersuchen.

Bastian sah blass aus. Wie Josef ihn kannte, hatte er wieder die ganze Nacht gegrübelt und kein Auge zugetan. Er konnte schon verdammt hartnäckig sein. Bis auf Bastian hatten alle gedacht, dass Dietrich Hellenbroich längst über alle Berge geflohen war. Auch er selbst wäre niemals auf die Idee gekommen, dass dieser Mörder noch einmal in Zons zuschlagen würde. Er hielt immer große Stücke auf Bastian und er glaubte ihm eigentlich immer. Doch auch er konnte Bastians ungute Vorahnungen, was Dietrich Hellenbroich anging, am Ende nicht mehr ertragen. Er hatte ihm einfach nicht mehr zugehört und leider behielt Bastian Recht. Er konnte ihm regelrecht ansehen, wie sehr es ihn quälte, dass er den erneuten Mord zwar erahnt, jedoch nicht verhindert hatte. Bastian war ein junger und ehrgeiziger Kerl und noch nie hatte es in Zons zwei solche Morde innerhalb nur eines Monats gegeben. Das machte Bastian sehr zu schaffen. Josef sah Bastian an. Sein blondes Haar war noch strubbliger als sonst und unter seinen dunkelbraunen Augen machten sich dunkle Ringe bemerkbar. Er war unrasiert und seine Lippen wirkten blutleer. Nur seine hohen Wangenknochen waren rosig. Josef wusste von seiner Cousine, dass wohl neben seinen braunen Augen diese hohen, sehr edel wirkenden, Wangenknochen der Grund für seine starke Anziehungskraft auf Frauen aus jeder Gesellschaftsschicht waren. Doch Bastian war sich trotz seines Alters dieser Anziehungskraft wohl nicht bewusst und war stets seiner einen Liebe treu geblieben. Josef lächelte in sich hinein. Er wäre als junger Kerl sicherlich anders gewesen, wenn Gott ihn mit einem solchen Aussehen bedacht hätte. Er hatte sich als junger Bursche die verrücktesten Tricks ausdenken müssen, um einem Mädchen näher kommen zu können. Er schüttelte den Kopf. Und Bastian liefen die Frauen in Scharen hinterher und er merkte es nicht einmal. Das Leben war schon manchmal verrückt.

Sie betrachteten Gertruds Leiche. Es war wirklich eine Schande! Gertrud war ein wunderschönes, lebhaftes Mädchen mit leuchtend blauen Augen und goldig glänzendem, blondem Haar. So, wie sie jetzt hier vor den beiden lag, war von dieser Schönheit nichts mehr zu erkennen. Ihre Augen waren stumpf und grauenvoll nach oben verdreht. Von ihren langen, blonden Haaren war nichts übrig geblieben. Der Mörder hatte sie ihr, genau wie der ersten Toten, sorgfältig vom Kopf geschoren. Ihr Schädel war blutverschmiert.

»Ich möchte zuerst nach eingeritzten Zeichen auf ihrem Schädel suchen«, sagte Bastian und begann vorsichtig mit einem feuchten Leinentuch das verkrustete Blut aufzuweichen. Nach ein paar Minuten konnten sie das Blut mühelos vom Schädel entfernen. Bastian pfiff durch die Zähne.

»Hier haben wir es wieder, Josef! Er hat auch Gertrud Zeichen in die Kopfhaut geritzt. Ich habe es gewusst! Vielleicht können wir ihn aufspüren, wenn wir herausfinden, wer sein nächstes Opfer sein könnte!«

Auf Gertruds Kopfhaut waren wieder zwei Ziffern und ein Buchstabe eingeritzt. Diesmal waren es die Zeichen »1-7-M«. Bastian war sich sicher, dass der Buchstabe »M« für Gertruds Nachnamen stand. Sie hieß Gertrud Minkenberg. Der Buchstabe »M« war der erste Buchstabe ihres Nachnamens. Bei Elisabeth waren die Zeichen »1-6-K« in die Kopfhaut eingeritzt worden und Elisabeth hieß mit Nachnamen Kreuzer. So musste es sein. Der Mörder suchte sich für jede Stadtmauer ein Mädchen als Opfer heraus. Die Buchstaben verrieten den Nachnamen der Mädchen. Bastian suchte in seinem Notizbuch die Skizze von der Gefängnistür im Juddeturm heraus. Hier hatte der Mörder Dietrich Hellenbroich in der Nacht, in der er aus dem Juddeturm fliehen konnte, ebenfalls Zeichen in die dicke Holztür geritzt. »1-6-K-1-7-M-1-8-Z«, las Bastian laut vor.

»Ich verstehe zwar immer noch nicht, in welcher Reihenfolge er seine Opfer aussucht, aber wenn die Buchstaben für den Nachnamen der Mädchen stehen, dann müssen wir jetzt alle Mädchen von Zons, deren Nachname mit einem ‚Z‘ beginnt, unter den Schutz der Stadtwache stellen!«, atemlos blickte Bastian zu Josef auf.

»Josef, macht hier weiter und schaut, ob Ihr noch irgendetwas finden könnt. Irgendetwas, was hilft, diesen widerlichen Bastard ausfindig zu machen!«

Mit diesen Worten warf er das mittlerweile von Blut durchtränkte Leinentuch in den Weidenkorb an der Tür, steckte sein Notizbuch in sein dickes Winterwams und verließ das Haus von Josef.

Bastian lief schnurstracks zur Kirche und suchte nach dem Pfarrer. »Johannes, wo seid Ihr?«, rief Bastian aufgeregt in die kleine Kirche hinein.

»Bastian, mein lieber Junge. Was führt Euch denn zu einer solch ungewöhnlichen Stunde hierher?«, krächzte eine heisere Stimme hinter dem Altar hervor. Pfarrer Johannes kam ächzend zum Vorschein und rieb sich mit beiden Händen den über die Jahre krumm gewordenen Rücken. »Ich glaube, langsam werde ich alt, mein Freund!«, schniefte Johannes. »Mehr als zwei Becher Rotwein am Abend kann ich gar nicht mehr vertragen. Also tut mir einen Gefallen Bastian. Redet nicht so laut mit einem vom Rotwein gebrandmarkten Hüter der Kirche.«

Mit diesen Worten ließ sich Pfarrer Johannes schwerfällig auf eine der Kirchenbänke fallen.

»Ich glaube eher, Ihr solltet bei dieser eisigen Kälte nicht den ganzen Tag in der Kirche verbringen«, sagte Bastian.

»Der Winter ist nicht gut für Eure Knochen. Ein heißer Kamin täte Euch sicher besser!«

»Ich weiß, mein lieber Bastian, aber die Pflicht ruft mich jeden Tag und als fleißiger Diener Gottes weiß ich mein Opfer zu bringen!«, erwiderte Johannes.

Bastian setzte sich auf die Bank neben Johannes und fragte ihn nach einer Liste aller Nachnamen von jungen Mädchen aus Zons. Der Pfarrer erhob sich mühsam und gab Bastian mit einem kurzen Kopfnicken zu verstehen, dass er ihm folgen solle. Sie gingen in einen kleinen Nebenraum und Johannes begann, in einer großen Truhe zu suchen. Nach einer Weile holte er ein riesiges Buch hervor und begann zu blättern.

»In diesem Buch werden alle Geburten, Taufen, Hochzeiten und Sterbefälle der Stadt Zons aufgeschrieben. Wenn Ihr weit genug zurückblättert, könnt Ihr Euch alle Namen, die Ihr braucht, herausschreiben.«

Er drückte Bastian das schwere Buch in die Hand und gab ihm gleich noch ein leeres Blatt und eine Feder dazu.

»Ihr habt ja schon lange nicht mehr bei mir Schreiben geübt. Dies hier ist eine längst überfällige Lektion für Euch!«

Er klopfte Bastian auf die Schulter und wies ihn an, sich an den kleinen Tisch in die Ecke zu setzen.

Bastian tat, wie ihm geheißen und nahm Platz. Es standen eine Menge Namen und Ereignisse in dem Buch und Bastian wusste, dass er wohl einige Stunden mit dem Erstellen der Liste verbringen würde. Aber das machte ihm nichts aus, wenn er nur das nächste Mädchen retten konnte. Oder besser gesagt die nächsten zwei Mädchen. Denn auch wenn der Mörder nur drei Ziffernpaare in die Tür im Juddeturm eingeritzt hatte, so war er sich doch sicher, dass Dietrich Hellenbroich vier Mädchen töten wollte. Denn es gab vier Stadtmauern und so würde es auch vier tote Mädchen geben müssen, damit der Mörder seinen Wahnsinn Realität werden lassen konnte.

 

 

...

 

 

»Wie geht es Euch, Bastian?«, fragte Josef Hesemann, der plötzlich in der Tür des kleinen Nebenraums in der Kirche stand.

»Ich habe mir gedacht, dass ich Euch hier finden würde, und wollte Euch unbedingt noch eine wichtige Einzelheit mitteilen, die mir bei der Untersuchung der toten Gertrud aufgefallen ist.«

Bastian drehte sich um und rieb sich müde die leicht geröteten Augen. Die Kerzen konnten diesen dunklen Raum kaum beleuchten und machten außerdem die Luft trocken und staubig. Da Bastian hier seit Stunden saß, brannten seine Augen mittlerweile wie Feuer. Aber immerhin war er fast fertig mit seiner Namensliste.

»Josef, setzt Euch doch zu mir. Ich habe jetzt fast alle Namen beisammen. Bisher sind es fünf Mädchen, deren Nachname mit einem ‚Z‘ beginnt.«

»Das hört sich doch sehr gut an!«, lobte ihn der Arzt Josef Hesemann und lächelte ihn an.

»Hört mal, Bastian«, hob Josef erneut an und umfasste dabei Bastians Oberarm, »ich habe Schürfspuren an dem Leinentuch gefunden, in das Gertrud eingehüllt war. Daraufhin habe ich mir noch einmal das Leinentuch herausgesucht, in das Elisabeth eingehüllt war, und habe dort ebenfalls dieselben Schürfspuren gefunden. Sie hatten nur eine leicht andere Farbe.«

Josef hielt Bastian die zwei Leinentücher hin. Bastian erkannte auf dem ersten Tuch, in welchem Elisabeth gefunden wurde, leicht bräunliche Spuren. Auf dem zweiten Tuch waren die Spuren von derselben Art, jedoch war die Farbe viel heller. Bastian runzelte die Stirn und überlegte, was das bedeuten könnte. Er erinnerte sich an die Schilderungen des alten Hellsehers, dem er auf dem Bauernhof des Mörders begegnet war. »Ich glaube, das sind Schleifspuren. So als hätte der Mörder etwas mit den Tüchern transportiert und dabei über den Boden geschleift. Ich glaube, ich weiß auch, warum die Spuren auf dem zweiten Tuch heller sind«, sagte Bastian aufgeregt und hielt das zweite Tuch näher ans Kerzenlicht.

»Schaut einmal hier Josef. Ich glaube, das ist Mehl. Und hier haben sich Getreidespelzen im Stoff verfangen.«

»Tatsächlich, jetzt wo Ihr es sagt, sehe ich es auch. Was hatte der Kerl an der Mühle zu suchen?«

»Oder besser am Mühlenturm!«, erwiderte Bastian. »Der alte Hellseher hat mir erzählt, dass er sich vermutlich auf alle vier Zonser Türme stellen wolle.« Bastian überlegte weiter. Klar, der Mörder musste zu jedem einzelnen dieser Türme gehen. Zufälligerweise wohnte die junge Gertrud ja direkt am Mühlenturm. Wahrscheinlich hat er sie in der Nähe ihres Hauses ermordet und ihre Leiche dann in das Leinentuch gehüllt und bis zum Rhein geschleift. Da der Boden rund um den Mühlenturm weiß vom feinen Mehlstaub und Getreidespelzen war, waren die Spuren auf dem Leinentuch heller als bei der ersten Leiche.

»Ich denke, er muss seine Taten gut vorbereiten, wenn er die Mädchen nicht zufällig, sondern anhand ihres Nachnamens auswählt. Vielleicht denkt er, er muss die Mädchen in die Nähe oder noch besser so nah wie möglich an den jeweiligen Turm bringen, damit seine krankhafte Vorstellung von der Entstehung göttlicher Kräfte durch die Opfergabe der Mädchen zum Leben erweckt wird«, sagte Bastian nachdenklich.

»Das könnte alles einen Sinn ergeben«, erwiderte Josef, »nur verstehe ich nicht, wie die Ziffern mit den Morden zusammenhängen.« »Ich denke, dass er vier Mädchen umbringen möchte. Das erste Opfer steht für die kürzeste Mauer und deshalb ritzt er ihr eine ‚6‘ in die Kopfhaut. Das zweite Opfer bekommt die Ziffer ‚7‘ eingeritzt. Die Ziffer ‚1‘ könnte bedeuten, dass er für jede Stadtmauer ein Opfer bringt. Oder um es genauer auszudrücken, er opfert für jeden Hauptturm in der Zonser Stadtmauer ein Mädchen, weil er sich von jedem Turm zur Vollmondzeit seine angeblich göttlichen Kräfte erhofft.«

»Das heißt also, wir haben drei Wochen Zeit, um den Mörder zu finden«, schlussfolgerte Josef.

»Richtig, in drei Wochen ist wieder Vollmond. Und dann wird er sich eines der Mädchen, die hier auf meiner Liste stehen, schnappen wollen! Gott stehe uns bei, dass wir ihn vorher aufspüren können!«

 

 

...

 

 

Bastian fror erbärmlich. Es war Anfang Februar und so kalt wie nie zuvor. Jedenfalls konnte Bastian sich nicht erinnern, jemals freiwillig mitten in einer kalten Winternacht, ohne wenigstens eine wärmende Fackel bei sich zu haben, alleine an der Stadtmauer von Zons entlang geschlichen zu sein. Er war sich sicher, dass Dietrich Hellenbroich sich exakt auf seine Morde vorbereitete. Und so hatte Bastian beschlossen, bei Nacht zu jedem der Häuser der fünf Mädchen auf seiner Liste zu gehen. Ihre Nachnamen begannen alle mit dem Buchstaben »Z«. Er wollte sich in den Mörder hineinversetzten und so seinen nächsten Schritt erahnen. Es war weit nach Mitternacht und keine Menschenseele war in der Stadt anzutreffen. Selbst die Stadtwache machte nach Mitternacht keine Rundgänge mehr, sondern zog sich bei dieser Kälte in die kleinen Räume über den jeweiligen Stadttoren zurück. Dort gab es immerhin ein wärmendes Feuer und man konnte so die Nachtwache einigermaßen glimpflich überstehen. Eine schwere Stille lag über Zons. Selbst das Wasser des Rheins war nicht zu hören. An manchen Tagen konnte man hören, wie sich die Wellen schmatzend auf dem Kies am Ufer ausliefen, aber in dieser Nacht war es still und dunkel. Er konnte kaum die eigenen Hände vor Augen erkennen und musste aufpassen, nicht zu stolpern und dadurch laute Geräusche zu verursachen. Er schlich auf Zehenspitzen und jeder Schritt hallte so laut in seinen Ohren wider, dass er fast Angst hatte, die Menschen mit seinen dröhnenden Schritten aus dem Schlaf zu reißen. Jedenfalls kam es ihm so laut vor. Aber Bastian wusste selbst, dass man sich bei Nacht allerlei Dinge einbilden konnte und dass seine Schritte außer ihm sicherlich niemand hören konnte.

Alles war ruhig und so nahm sich Bastian vor, auf einen der Türme zu steigen. Auf dem Weg wollte er kurz nachsehen, ob bei seiner Verlobten alles in Ordnung war und so beschloss er, direkt auf den nächstgelegenen Turm, den Zollturm zu steigen. Unten war alles in tiefe Dunkelheit gehüllt. Bastian konnte weder etwas hören, noch sehen. Auch die Schatten der Nacht schienen still zu stehen. Nur der Wind bewegte sich leise. Die kalte Nachtluft kroch Bastian unter das Wams und ihm wurde mit jedem Schritt kälter. Vorsichtig stieg er die Stufen zum Zollturm hinauf und versuchte dabei, wie eine Katze lautlos dahinzugleiten. Als er fast oben war, bewegte sich ein Schatten. Für einen Moment setzte sein Herzschlag aus. Was war das? Er griff nach dem Kurzschwert an seinem Gürtel und zog die Klinge lautlos aus dem Schaft. Geduckt nahm er die letzten Stufen des Zollturms. Doch die Plattform war leer. Er war sich sicher, etwas gesehen zu haben und so ging er an den Rand des Turms, um nach unten zu schauen. In diesem Augenblick legte sich mit einem lauten Schnalzen eine Lederpeitsche um seinen Hals. Sie schnürte ihm die Kehle zu und zog ihn unbarmherzig nach unten. Er stemmte sich mit aller Kraft dagegen und versuchte mit dem Schwert das Leder zu durchtrennen. Doch das Schwert war zu lang und hatte sich in der Mauer verklemmt. Er versuchte es loszubekommen, doch er konnte sich nicht nach hinten bewegen. Dann sah Bastian, wie sich eine Gestalt mit einem gewaltigen Ruck vom Turm löste und an der Peitsche entlang über seinen Kopf hinweg zurück auf den Turm sprang. Dieser Teufel hatte sich an der Außenseite des Turms hängend versteckt und ihn so überraschen können.

Jetzt stand er hinter ihm und hielt ihm sein eigenes Schwert in den Rücken.

»Verfolgt Ihr mich, Bastian Mühlenberg?«, flüsterte eine kratzige Stimme in sein Ohr.

»Wer seid Ihr und was habt Ihr hier zu suchen?«, gab Bastian zurück.

»Das Gleiche könnte ich Euch auch fragen!«, antwortete die Stimme und drückte dabei gleichzeitig das Schwert tiefer in seine Rippen. Bastian holte tief Luft und konzentrierte sich. Mit einem plötzlichen Ruck drehte er sich um und schlug dem Angreifer sein Schwert aus der Hand. Das Schwert flog die ersten Treppenstufen hinunter und beide Männer stürzten hinterher. Wild ineinander verschlungen fielen sie die Treppenstufen hinunter. Nach einigen Stufen machte die Treppe einen Knick und Bastian prallte mit voller Wucht mit seinem Kopf dagegen. Ihm wurde schwarz vor Augen. Das Letzte, was er wahrnahm war, wie die humpelnde Gestalt das Schwert aufhob, zum Schlag ausholte und auf ihn zuwankte. Dann verließen ihn seine Sinne und Bastian wurde ohnmächtig.

 

 

...

 

 

Bastian träumte. Er fiel den Zollturm hinunter und prallte hart auf den Boden auf. Er wusste, dass er jetzt sterben würde. Er wartete darauf, dem Tod ins Gesicht zu sehen, doch er kam nicht. Stattdessen sah er eine wunderschöne Frau vor sich. Sie saß auf einer Bank am Rhein und war trotz der Kälte eingeschlafen. Ihr Gesicht war so friedlich und so wunderschön. Ein schwacher Schimmer von Melancholie lag in ihrem Ausdruck und diese sanfte Traurigkeit berührte Bastians Herz. Er wollte sie unbedingt beschützen.

Lange brünette Locken flossen ihren schlanken Hals hinab und endeten an ihrer schmalen Taille. Bastian wusste, dass dies nicht seine Verlobte Marie war, die dort schlafend auf der Bank saß. Er hatte dieses wunderschöne Mädchen noch nie zuvor gesehen. Und obwohl er immer nur Marie in seinem Leben als Frau wahrgenommen hatte, weckte dieses schöne, schlafende Mädchen eine Sehnsucht in ihm, die er nie zuvor gespürt hatte. Ihr Kopf bewegte sich langsam, sie wachte auf. Schnell zog Bastian sich in die Dunkelheit zurück und beobachtete sie. Das Mädchen schlug die Augen auf. Zu seiner Verwunderung stellte Bastian fest, dass ihre Augen grün waren. Sie leuchteten wie funkelnde Smaragde in der Dunkelheit. Er wunderte sich, dass er ihre Augenfarbe aus dieser Entfernung und bei Dunkelheit überhaupt sehen konnte, als ein stechender Schmerz ihn plötzlich zurück auf den Boden am Fuße des Zollturms holte. Verwundert sah er sich um. Wo war das schöne Mädchen hin? Er begann sich vom Boden zu erheben und konnte plötzlich fliegen. Sein Körper fühlte sich heiß an, doch die Flugluft kühlte seinen schwitzenden Körper angenehm ab. Irritiert stellte er fest, dass es bereits Sommer war. Der Himmel war blau. Er blickte in die Sonne und sein Bewusstsein verlor sich im gleißenden Sonnenlicht. »Er träumt, aber er lebt. Er wird es überstehen!«, sagte Josef Hesemann tröstend zu der jungen Frau, die schluchzend an Bastians Bett saß und seine Hand hielt. »Seid Ihr Euch da ganz sicher, Josef?«, fragte sie unsicher und mit Tränen in den Augen.

»Ganz sicher Marie. Ich verspreche Euch, dass er bis zur Hochzeit wieder hergestellt ist. Er hat verdammtes Glück gehabt, dass er sich bei seinem Sturz nicht das Genick gebrochen hat.«

Bundle Puzzlemörder Erntezeit Zwilling Flügel
COVER.xhtml
Section0001.html
Section0002.html
Section0003.html
Section0004.html
Section0005.html
Section0006.html
Section0007.html
Section0008.html
Section0009.html
Section0010.html
Section0011.html
Section0012.html
Section0013.html
Section0014.html
Section0015.html
Section0016.html
Section0017.html
Section0018.html
Section0019.html
Section0020.html
Section0021.html
Section0022.html
Section0023.html
Section0024.html
Section0025.html
Section0026.html
Section0027.html
Section0028.html
Section0029.html
Section0030.html
Section0031.html
Section0032.html
Section0033.html
Section0034.html
Section0035.html
Section0036.html
Section0037.html
Section0038.html
Section0039.html
Section0040.html
Section0041.html
Section0042.html
Section0043.html
Section0044.html
Section0045.html
Section0046.html
Section0047.html
Section0048.html
Section0049.html
Section0050.html
Section0051.html
Section0052.html
Section0053.html
Section0054.html
Section0055.html
Section0056.html
Section0057.html
Section0058.html
Section0059.html
Section0060.html
Section0061.html
Section0062.html
Section0063.html
Section0064.html
Section0065.html
Section0066.html
Section0067.html
Section0068.html
Section0069.html
Section0070.html
Section0071.html
Section0072.html
Section0073.html
Section0074.html
Section0075.html
Section0076.html
Section0077.html
Section0078.html
Section0079.html
Section0080.html
Section0081.html
Section0082.html
Section0083.html
Section0084.html
Section0085.html
Section0086.html
Section0087.html
Section0088.html
Section0089.html
Section0090.html
Section0091.html
Section0092.html
Section0093.html
Section0094.html
Section0095.html
Section0096.html
Section0097.html
Section0098.html
Section0099.html
Section0100.html
Section0101.html
Section0102.html
Section0103.html
Section0104.html
Section0105.html
Section0106.html
Section0107.html
Section0108.html
Section0109.html
Section0110.html
Section0111.html
impressum-tolino.xhtml