Vor fünfhundert Jahren
Bastian blickte in einen von zwei Kerzen schwach erleuchteten Raum. Heinrich saß gefesselt mit aufgerissenem Hemd auf einem großen Holzstuhl. Das Familienamulett, mit einer goldenen Mühle darauf, lag glänzend auf seiner nackten Brust. Er schrie erbärmlich, bevor eine goldene Sichel die Luft durchschnitt und mit einem lauten Zischen seine Kehle durchtrennte. Heinrich verdrehte die Augen nach oben, sein Kopf fiel nach hinten und er war auf der Stelle tot.
»Nein, du Teufel!«, schrie Bastian und stürzte sich auf den Mann in der schwarzen Kutte. Bastian griff nach dem Stoff und wollte seinen Gegner zu Boden reißen, doch dieser ließ die Kutte von seinen Schultern gleiten und ergriff die Flucht. Bastian stürmte wütend und mit rasendem Herzen hinterher.
»Conrad, bleibt stehen. Ich weiß, dass Ihr es seid!«, brüllte er atemlos in die Dunkelheit hinein. Bastian rannte der Gestalt hinterher, doch bereits nach wenigen Schritten hatte er sie aus den Augen verloren. Verdammt! Der Mann musste einen der vielen Seitengänge genommen haben. Bastian drehte sich um und lief zurück. Er hörte die dröhnenden Schritte überall von den Wänden widerhallen, es war nicht auszumachen, in welche Richtung sich die Schritte entfernten. Aber er muss hier noch irgendwo sein! Bastian stürzte atemlos in einen Gang zu seiner Linken. Nichts, außer tiefschwarzer Dunkelheit. Und Stille. Sein Gegner bewegte sich nicht mehr.
Bastian hatte bei seiner Verfolgung im Labyrinth mehrfach die Richtung gewechselt und die Orientierung verloren. Sein Herz klopfte in einem so schnellen Takt, dass er schon Angst hatte, es könnte stehen bleiben. Denk nach! Du hast die ganze Karte auswendig gelernt. Du findest wieder zurück.
Bastians Herzschlag beruhigte sich ein wenig und langsam kam die Erinnerung in sein Gedächtnis zurück. Er stolperte eine Ewigkeit durch die endlosen Gänge, bis er einen schwachen Lichtschimmer in der Ferne erblickte. Das musste die Stelle sein, wo eben Heinrich ermordet worden ist. Sein Inneres krampfte sich zusammen und Tränen liefen Bastian übers Gesicht. Er war nur eine Minute zu spät gekommen. Sonst hätte er ihm helfen können, dachte er verzweifelt. Als Mitglied der Stadtwache war es seine Aufgabe, die Bürger von Zons zu schützen. Und er konnte noch nicht einmal seinen eigenen Bruder retten! Wie war der arme Heinrich nur hierhergelangt? Bastian erreichte wieder das Gewölbe, von dem der Lichtschein ausging, und erstarrte. Heinrich war weg. Der Holzstuhl war leer! Wie konnte das sein? Er machte einen Sprung auf den Holzstuhl zu und stolperte. Schwer schlug er mit den Knien auf dem Boden auf.
Es war ein Tonkrug, über den er gefallen war. Eine dickflüssige, rötliche Flüssigkeit sickerte über den Boden.
Von dem Krug schlug Bastian ein unerträglicher Gestank entgegen. Er richtete den Krug auf und blickte mit zusammengekniffenen Augen hinein. Zunächst konnte er nichts erkennen. Bastian schüttelte den Krug und kippte ihn ein wenig. Ein glitschiger Fleischklumpen platschte zu Boden. O Gott! Was war das bloß? Angewidert drehte Bastian sich weg. Dann hielt er den Atem an und untersuchte den Fleischklumpen. Plötzlich schoss ihm die Antwort durch den Kopf. Oh, mein Gott, das ist eine Zunge. Bastian schluckte. Eine menschliche Zunge. Sein Magen krampfte sich zusammen und er übergab sich. Ihm war so übel wie in seinem ganzen Leben noch nicht. Seine Haut war kalt und schweißnass. Er hörte wieder den gellenden Schrei seines Bruders und das unverständliche Flehen durch die Gänge hallen. Dieser Teufel hatte Heinrich die Zunge herausgeschnitten!
Bastian entleerte den Krug vollständig. Schmatzend fielen noch drei weitere Zungen zu Boden. Zwei von Ihnen waren etwas kleiner. Vermutlich Frauen! Der jähe Gedanke lähmte Bastians Geist. Er schüttelte den Kopf. Katharina und das Weib vom alten Jacob! Es mussten ihre Zungen sein. Die Gedanken rasten in Bastians Kopf hin und her und eine neue Frage tauchte wie eine düstere Drohung auf.
Wem gehörte die vierte Zunge?