III.
Gegenwart
Emily konnte es nicht fassen. Tatsächlich hatte sie den Job bekommen. Sie betrachtete den großen grauen Umschlag mit den Vertragsunterlagen und hätte vor Glück laut jubelnd, wie ein kleines Mädchen, umherhüpfen können. Es war zwar nur ein kleiner Job, aber es war ihr Erster. Sie studierte im letzten Semester Journalismus an der Universität zu Köln und jetzt durfte sie für die Rheinische Post eine ganze Artikelserie schreiben. Und dieses Gebiet war ihr Lieblingsthema: Historische Mordfälle im alten Zons am Rhein. Natürlich wäre es für viele Journalisten aus dieser Region erstrebenswerter gewesen für das Handelsblatt in Düsseldorf zu schreiben, aber Wirtschaftsjournalismus war ihr einfach eine Spur zu trocken; schnöder Kapitalismus; reine Macht- und Geldgier. Das lag ihr nicht. Nein, sie hatte vor ein paar Jahren angefangen Geschichte zu studieren und war dann später auf das Journalismus-Studium umgeschwenkt. Sie liebte Geschichten des Mittelalters und hatte sich aus diesem Grund jahrelang mit altdeutschen Schriften beschäftigt. Es war eine dunkle und mystische Zeitperiode der Menschheit und diese zog sie magisch an. Schon als kleines Mädchen spielte sie lieber mit kleinen Ritterfiguren als mit Barbie und Ken. Ihre Großeltern stammten aus Italien und Emily besuchte sie jeden Sommer für ein paar Wochen. Sie lebten direkt neben einem Franziskanerkloster in Assisi und gingen oft zum Beten in die kleine Klosterkapelle. Von ihrer Urgroßmutter hatte Emily gelernt, mit Kräutern umzugehen. Zumindest konnte sie die Wirkung der wichtigsten Kräuter heute immer noch zuordnen. Emily war ein sehr hübsches Mädchen mit tiefbraunen Augen und dunklen Locken. Ihr Lächeln und ihre Herzlichkeit konnten einen dunklen Raum zum Strahlen bringen. Sie musste gleich Anna von der guten Nachricht erzählen. Zwar ging es ihrer besten Freundin im Moment nicht ganz so gut, aber sicher würde sie sich mit ihr freuen. Die arme Anna hatte sich vor ein paar Monaten dazu durchgerungen, ihrem Freund Martin einen Heiratsantrag zu machen. Doch mit diesem Antrag ging eine riesige Katastrophe los. Nicht nur, dass Martin sich drei Tage Bedenkzeit von ihr erbeten hatte. Nein, am Ende dieser drei Tage offenbarte er der völlig überraschten Anna, dass er auf Männer steht. Und um die Katastrophe noch schlimmer zu machen, stellte sich der Mann seiner Träume als Annas und auch Emilys bester Freund Christopher heraus. Mit Christopher war sie eigentlich immer ein Herz und eine Seele, nur in den letzten Monaten hatte er sich immer mehr von Anna und auch von Emily zurückgezogen. Früher waren sie stundenlang shoppen, verbrachten fast ganze Tage in Cafés und konnten herrlich über alles und jeden lachen, doch mit einem Mal wurde es immer weniger. Beide Freundinnen glaubten zunächst an Liebeskummer, aber so oft sie es auch versuchten, mit ihm zu sprechen, schwieg sich Christopher über sein Problem aus. Am Ende entschieden sie, ihm erst einmal eine Auszeit zu geben und ihn in Ruhe zu lassen. Immer öfter zogen sie alleine los und hofften, dass Christopher irgendwann wieder an ihrem Leben teilhaben würde. Aber leider kam alles ganz anders. Die arme Anna war wochenlang am Boden zerstört, und auch wenn sie sich in Emilys Gegenwart sehr zusammennahm, war ihr Lachen doch nicht mehr dasselbe wie früher. Emily konnte Martin noch nie richtig leiden. Sie war überzeugt, dass Anna ohnehin einen besseren Mann verdient gehabt hätte. Aber die Sache mit Christopher ging selbst ihr an die Nieren. So etwas hatte sie nicht erwartet. Sie war nur froh, dass die beiden mittlerweile nach Berlin umgezogen waren, um dort ihr neues Liebesglück uneingeschränkt genießen zu können. So bestand wenigstens keine Gefahr, den beiden täglich über den Weg zu laufen. Emily suchte ihr Handy aus der Handtasche und rief Anna an. Sie verabredeten sich für den Nachmittag in Annas kleinem Appartement. Das fand Emily furchtbar praktisch, denn Anna wohnte in Zons. Ihr Appartement lag direkt in einem kleinen Häuschen rechts vor dem Zollturm. Sie suchte schnell ihre Unterlagen über die Zonser Morde im 15. Jahrhundert zusammen. Schon vor ein paar Wochen hatte sie mit ihren Recherchen begonnen, in der Hoffnung, die Reportage für die Rheinische Post schreiben zu dürfen. Sie wollte sich die Orte der Verbrechen in der Realität ansehen, um dann eine bessere Beschreibung der Morde liefern zu können.
Sie überflog rasch noch einmal ihre Unterlagen. Die erste Tote mit dem Namen Elisabeth Kreuzer war ein 18 Jahre altes Mädchen aus Zons. Sie lebte im Haus direkt neben dem Krötschenturm, der sich im Nordwesten des Städtchens befand. Laut den Unterlagen war ihre Leiche in der Nacht vom 15. Dezember 1495 von einem Anwohner namens Wernhart Tillmanns gefunden worden. Ein gewisser Bastian Mühlenberg leitete damals die Morduntersuchungen. Beide waren Mitglieder der Stadtwache. Der Mord muss äußerst brutal gewesen sein. Das Mädchen war gefoltert, vergewaltigt und am Ende an einer Eisenkette aufgehängt worden. Auf ihrem Kopf wurde eine Tätowierung gefunden, die aus mehreren Zeichen und Buchstaben bestand. Diese konnten zunächst nicht entziffert werden. Eine Kopie der Skizze dieser Tätowierung befindet sich heute noch im Kreisarchiv Neuss zusammen mit weiteren Unterlagen zu diesem Mord. Diese Unterlagen musste Emily unbedingt haben. Wenn sie sich am Nachmittag mit Anna traf, wollte sie sie bitten, mit ihr in das Kreisarchiv in der Zonser Schlossstraße 1 zu gehen.