VI.
Vor fünfhundert Jahren
Die Ketten schnitten ihm tief in seine Handgelenke. Doch Gottes Krieger kannte keinen Schmerz. Er war unvorsichtig gewesen. Dieses süße blonde Ding hatte seinen Verstand benebelt. Sie war so unschuldig und ängstlich, dass ihm immer noch ein wunderbarer Schauer über den Rücken lief, wenn er sich an sie zurückerinnerte. Ihr Körper duftete wunderbar, wie bei all den jungen Dingern. Ihre Haut war so zart und milchig weiß. Und dann dieser wunderbare letzte Augenblick, als das Licht aus ihren Augen für immer verschwand. Er spürte die Erregung zwischen seinen Beinen bei diesen Gedanken. Doch trotzdem hatte dieses kleine, törichte Mädchen den Tod verdient. Er musste sie bestrafen. Sie hatte ihn so verzückt, dass ihn die Kölner Stadtwache erwischt hatte. In seiner Ekstase vergaß er, sie richtig zu knebeln und so konnte sie im letzten Augenblick einen lauten Schrei von sich geben und dann musste er es zu Ende bringen. Er hätte fliehen können, doch er wollte diesen letzten Moment genießen. Als sie ihn erwischten, steckte er immer noch in ihr drin. Die Soldaten der Stadtwache hatten sich bei ihrem Anblick übergeben müssen, denn er hatte das junge Mädchen brutal gefoltert und vergewaltigt. Gerne hätte er sie für alle sichtbar noch am nächsten Baum aufgehängt, doch dafür war es jetzt zu spät. Mit lautem Gebrüll hatten sie ihn überwältigt. Einer der Männer muss der Vater des blonden Dings gewesen sein, denn dieser schlug ihn am brutalsten und er heulte die ganze Zeit dabei. Er genoss all den Schmerz und die Aufregung um ihn herum. Doch jetzt wollten sie ihn von Köln nach Neuss schaffen. Vermutlich, um ihn dort hinzurichten.
Sie hatten ihn geknebelt, gefesselt und ihn auf einen holpernden Karren geladen. Seit Stunden waren sie in eisiger Kälte unterwegs. Mittlerweile war er so durchgefroren, dass er seine Glieder nicht mehr fühlen konnte. Wenigstens spürte er auch sein kaputtes Bein nicht mehr. Der Vater der kleinen Blonden hatte ihm mit einem dicken Knüppel mehrfach auf sein ohnehin steifes linkes Bein gedroschen und seitdem humpelte er wieder stärker. Neben seinem Karren ritten zwei Soldaten auf Pferden her, und wenn er sich sehr anstrengte, konnte er sie einigermaßen gut belauschen. Wenn er richtig zugehört hatte, wollten sie eine letzte Pause in Zons einlegen und ihn über Nacht in den Juddeturm einsperren. Er hatte schon vom Zonser Juddeturm gehört. Dort ließen sie einen an Ketten in ein elf Meter tiefes Verlies hinab. Die Mauern sind über zwei Meter dick und hinaus kommt man nur durch ein schmales Eisengitter an der Decke. Dieses Gitter war auch die einzige Lichtquelle für das Verlies. Selbst die Mahlzeiten wurden über eine Seilwinde durch dieses Gitter hinabgelassen. Er kannte niemanden, der es jemals geschafft hatte, aus diesem Verlies zu fliehen. Wenn er eine Chance zur Flucht haben wollte, musste er darauf hoffen, dass sie ihn für die eine Nacht in einem der oberen Räume einsperren würden. Mit Gott auf seiner Seite würde er eine Möglichkeit zur Flucht finden.
Tatsächlich war Gott bei ihm. Das Verlies tief unten im Juddeturm war überfüllt und so sperrten sie ihn in einem der Obergeschosse ein. »Wunderbar!«, dachte er. So konnte er sogar etwas von der Wärme aus dem kleinen Ofen, der eigentlich für die Burg-Wachsoldaten gedacht war, erhaschen. Er hatte schon viel über Zons gehört. Ihn interessierte der fast rechteckige bis trapezförmige Aufbau der Stadtmauer. Die mit Basaltsteinen verstärkte, dicke Mauer erstreckte sich ungefähr 300 Meter in Nord-Süd-Richtung und 250 Meter in West-Ost-Richtung. An den Eckpunkten befanden sich unterschiedliche Türme: nordöstlich der rechteckige Rhein- oder Zollturm, nordwestlich der runde Krötschenturm, südwestlich der runde Mühlenturm und an der südöstlichen Ecke stand der Schlossturm. Der runde Juddeturm befand sich innerhalb des Städtchens neben der Burg Friedestrom. So wie es ihm einst ein alter Hellseher erzählt hatte, soll es einen geheimen Gang geben, der den Juddeturm mit der Burg verbindet. Der Alte hatte ihm außerdem anvertraut, dass in Vollmondnächten die Eckpunkte der Stadt Zons genau den Eckpunkten eines bekannten Sternbildes entsprechen würden. Es hieß, stelle man sich bei Vollmond auf einen der vier Türme, dann stehe man direkt unter einem magischen Stern am Himmelszelt und würde Kraft durch göttliches Sternenlicht aufsaugen können. Es war lange her, dass er all diese Geschichten gehört hatte. Damals war er noch ein kleiner Junge und der alte Hellseher und Gaukler war der einzige Mensch in seiner Kindheit, der wenigstens ein bisschen freundlich zu ihm war. Gut, er hatte den alten Hellseher nur einmal im Monat gesehen, wenn er mit den Zirkusleuten wieder auf dem Kölner Marktplatz, in der Nähe des Bauernhofes seines Vaters, gastierte. Aber für ihn bedeutete es die einzige Form von Zuneigung, die er kannte. Oft rief der Alte ihn nach seiner Vorführung zu sich und zeigte ihm bei Nacht die Sterne. Er brachte ihm bei, wie man sich an ihnen orientieren konnte. Das Städtchen Zons war für den alten Hellseher immer ein ganz besonderer Ort für die Sterne gewesen. Und er wusste jetzt schon, was er tun würde, wenn ihm die Flucht in die Freiheit gelang.
...
»1-6-K-1-7-M-1-8-Z«, diese sechs magischen Zahlen ritzte er in die dicke Holztür ein. Eigentlich gehörten noch zwei weitere Zahlen dazu, die »9« und noch eine »1«, aber als er die letzten beiden Zahlen einritzen wollte, brach ihm die eingeschmuggelte Messerspitze ab. Das machte nichts. Wenigstens hatte er es geschafft, die wesentlichen Zeichen hinzuzufügen und seine umgekehrte Waage war ihm auch meisterhaft gelungen. Er wusste, dass niemand außer ihm und vielleicht dem alten Hellseher, jemals diesen Code würde knacken können. Es waren seine magischen Zeichen, die ihm den Weg zur göttlichen Kraft wiesen. Er war äußerst zufrieden mit sich und der Welt.