Vor fünfhundert Jahren
Er lehnte wieder an der kalten, feuchten Gewölbemauer und rührte sich nicht. Mittlerweile hatte er so viel Übung darin, sich lautlos zu bewegen und dabei fast mit dem Hintergrund zu verschmelzen, dass er sich selbst für so gut wie unsichtbar hielt. Seine Augen hatten sich perfekt an das Dunkel gewöhnt, und er konnte den stöhnenden Mann auf dem Nagelsitz in der Mitte des Raumes in aller Ruhe beobachten. Gestern hatte er ihn mit seiner Rute geschlagen. Zuerst hatte er die Peitsche eher sanft auf den nackten Körper sausen lassen. Doch als sein Opfer vor Schmerzen direkt zu winseln anfing, wurde er wütend und schlug härter zu. Vor nichts hatten diese Lügner Respekt. Weder konnten sie für ihre Lügen geradestehen noch kleine Schmerzen erdulden. Hätte dieser Lügner seine Strafe wie ein ehrbarer Mann ertragen, hätte er so sanft weiter gemacht, wie er begonnen hatte. Vielleicht hätte ein von Lederriemen zerschundener Körper als Buße für all die Sünden, die dieser Mann begangen hatte, genügt. Vielleicht hätte er ihn gehen lassen. Er musste nicht töten, um zufrieden zu sein. Gott wollte Leben erhalten, nicht nehmen. Doch Buße musste getan werden!
Er spürte, wie er sich bei diesen Gedanken erregte. Kalt und böse stieg die Wut in ihm hoch. In diesem Augenblick wollte er nichts lieber tun, als die ganzen Lügen aus diesem gottlosen Sünder vor ihm herauszuprügeln. Doch noch war es nicht so weit. Er musste sich beruhigen. Das Stöhnen des Mannes drang in seinen Kopf wie eine liebliche Melodie. Sie verschmolz mit den Gesängen, die er gelernt hatte. Bei Hunderten Zusammenkünften hatten sie im Chor vor dem großen Altar zu dieser Melodie gesungen. Sie kreiste in seinem Kopf wie Balsam und beruhigte ihn. Die Erregung ließ nach. Wieder ruhig geworden, lauschte er der Melodie in seinem Kopf, begleitet von dem Stöhnen des Mannes auf dem Holzstuhl vor ihm.
…
»Bastian, versprich es mir, bitte!«, die Stimme klang schwach und heiser. Bastians ältester Bruder Heinrich hustete und fiel dann erschöpft zurück in die dicken Kissen, die in seinem Rücken gestapelt waren. Heute ging es ihm wieder besonders schlecht. Das lag sicherlich an dieser schwülen Hitze, die seit Wochen über Zons lag und die Bewohner der Stadt regelrecht lähmte. Es war, als hätte ein unsichtbarer, zäher und klebriger Schaum jede Pore der Haut verklebt. Das Atmen fiel genauso schwer wie die kleinste Bewegung.
Sorgenvoll betrachtete Bastian seinen Bruder. Heinrich war immer sein großes Vorbild gewesen. Er besaß eine hünenhafte Gestalt und sein Körper bestand im Wesentlichen aus Muskeln. Mehlsäcke bugsierte er durch die Luft, als wären es Federkissen. Doch durch den vielen Mehl- und Steinstaub, den er jahrelang in der Mühle eingeatmet hatte, waren seine Lungen geschädigt worden. Sie konnten nicht mehr genug Sauerstoff aufnehmen, um den muskulösen Körper von Heinrich zu versorgen. Viele Müller wurden wegen der schweren und ungesunden Arbeit nicht besonders alt. Bastian wischte diesen Gedanken schnell beiseite. Nein, hier lag sein starker Bruder Heinrich vor ihm. Der ließ sich nicht unterkriegen.
»Heinrich, ich will dir gerne das Versprechen geben, wenn die Zeit gekommen ist. Aber das ist sie noch nicht!«
»Pfarrer Johannes war heute Morgen bei mir. Er hat mir geraten, dich zu fragen. Bastian, es tut mir leid, aber ich befürchte, mir bleibt nicht mehr viel Zeit, und ich möchte, dass du derjenige bist, der mir meinen letzten Wunsch erfüllt.«
Bastian blickte Heinrich störrisch an. In den Augen seines Bruders konnte er erkennen, dass dieser es sehr ernst meinte. Bastian seufzte.
»Also gut, Heinrich. Ich verspreche es dir! Ich werde deine sterblichen Überreste bei unserem Bruder Albrecht auf dem Friedhof des Klosters Knechtsteden begraben.«
Heinrich lächelte selig.
»Ich danke dir, mein Bruder. Ich weiß, dass mein Wunsch bei dir in sicheren Händen ist.«
»Glaub ja nicht, dass ich dir diesen Wunsch schon so bald erfüllen werde! Du bist kräftig genug, um dich wieder zu erholen. Nächste Woche wirst du sicher schon wieder Mehlsäcke schleppen!«
Bastian versuchte zu scherzen, doch das graue Gesicht und die stumpfen, eingefallenen Augen seines Bruders ließen seinen Magen zu einem Knoten zusammenkrampfen, von dem aus sich eine unendlich große Angst in seinen ganzen Körper ausbreitete. Das Lächeln, welches er eigentlich aufsetzen wollte, gefror in seinem Gesicht und stattdessen verzogen sich Bastians Lippen zu einem schmalen Strich. Er klopfte Heinrich zum Abschied sachte auf die Schulter und verließ die kleine Stube, in welcher das Bett seines großen Bruders stand.
…
Bastian blickte in den Himmel, die Sonne begann bereits zu steigen. Er musste sich beeilen, wenn er Pfarrer Johannes noch vor dem Gottesdienst sprechen wollte. Schnell lief er die kleinen Gässchen entlang. In knapp einer Stunde würde der Gottesdienst beginnen, und Bastian wollte dem Pfarrer noch vorher die silberne Kette mit dem Schlüssel zeigen, den er zusammen mit dem Arzt aus dem Leichnam von Benedict Eschenbach gezogen hatte.
Auf dem Weg musste er wieder an Heinrich denken. Es bedrückte ihn, dass sein Bruder im Angesicht seiner Krankheit ans Sterben dachte. Heinrich hatte sich nie besonders für die Religion interessiert und immer auf seine Muskelkraft vertraut. Dass er jetzt ausgerechnet auf dem Friedhof des Klosters begraben werden wollte, empfand Bastian als befremdlich. Er versuchte sich vorzustellen, was er in einer solchen Situation tun würde. Würde auch er sich an einem fremden Ort begraben lassen wollen? Nein! Sein Platz war bei seiner Frau Marie. Bastian fragte sich, warum sich plötzlich so viele Bürger von Zons wieder viel mehr mit der Religion und mit Gott beschäftigten. Begonnen hatte alles mit dem Tod des alten Brudermeisters Henricus Krumbein. Seit Huppertz Helpenstein die Führung der St.-Sebastianus-Schützenbruderschaft übernommen hatte, stand bei den Brüdern die Kampfeskunst nicht mehr im Vordergrund der Treffen, sondern ausschließlich ihre Gottesfürchtigkeit.
Bastian versuchte, das Bild seines mittleren Bruders Albrecht heraufzubeschwören. Dieser war schon mit jungen Jahren in das Kloster Knechtsteden eingetreten. Als Junge war Albrecht immer kränklich gewesen und Heinrich hatte den kleinen Albrecht wie seinen Augapfel gehütet. Bastian hatte sich oft gewünscht, genauso von Heinrich beachtet zu werden wie der zierliche Albrecht. Da sein Vater nicht die Mittel besessen hatte, um alle seine sechs Söhne standesgemäß zu versorgen, hatte man den kleinen Albrecht im zarten Alter von acht Jahren ins Kloster gegeben. Bastian konnte sich, obwohl er damals erst fünf Jahre alt war, noch gut daran erinnern, wie sehr Heinrich unter der Trennung gelitten hatte. Zwar lag das Kloster Knechtsteden nicht besonders weit entfernt von Zons, jedoch hatten die Mönche dort strenge Regeln und untersagten ihren Schützlingen den Kontakt zur Außenwelt weitestgehend.
…
Kloster Knechtsteden achtzehn Jahre zuvor
Knechtsteden 1478: Der kleine Junge blickte furchtsam zu den großen Männern in ihren beeindruckenden Kutten auf. Der Stoff bestand aus Schurwolle und wallte um ihre Beine. Sie gingen zügigen Schrittes hinüber in die Kapelle und blieben vor dem geschmückten Altar stehen. Im Chor begannen sie, ein Lied zu singen. Ein Lied, dessen Melodie das Herz des Jungen auf wundersame Art und Weise zu umschmeicheln begann. Nie wieder würde diese Melodie aus dem Gedächtnis des Jungen verschwinden. Immer würde er diesen Gesang in seinem Innersten heraufbeschwören können. Plötzlich fühlte sich der kleine Junge nicht mehr fremd und ängstlich. Er wusste, dass er von nun an zu den Männern gehörte, die vor ihm diese wunderbare Melodie entfachten und den Klang ihrer Stimmen wie ein Wunderwerk Gottes durch diese eigentlich kalten Hallen klingen ließen.
Die beiden kleinen Jungen neben ihm schienen dasselbe zu spüren wie er. Auch ihre Augen leuchteten und die Wangen auf der blassen Jungenhaut schimmerten rosig. Das musste Gott gewesen sein, der sie hierher geführt hatte!
Kloster Knechtsteden sechs Jahre zuvor
Knechtsteden 1490: Zwölf Jahre später wusste Albrecht, dass die heilige Kapelle, in der er zum ersten Mal diese wundervolle Melodie gehört hatte, nicht für alle ein heiliger Ort war. Seit ein paar Wochen wusste er nun, was Hass war. Tiefer Hass, der die Seele auffraß. Albrecht, Huppertz und Conrad hatten ein gemeinsames Feindbild entwickelt. Seit sie als kleine, ängstliche Jungen in das Kloster Knechtsteden gekommen waren, hatten sie gelernt, ihr Herz für Gott zu öffnen und Gutes zu tun. Doch dann war dieser Ablassprediger Johann Tetzel aufgetaucht, und die drei Freunde wussten im selben Augenblick, dass Johann Tetzel nicht auf Gottes Pfaden wandelte. Er missachtete alle Regeln, die Bruder Ignatius ihnen beigebracht hatte.
Insbesondere die drei Regeln, die bei der Beichte zu beachten waren, ließ Johann Tetzel vollständig außer Acht. Albrecht konnte diese Regeln, die Bruder Ignatius ihnen immer wieder eingeprägt hatte, im Schlaf aufzählen. Für die Beichte galt zunächst die confessio oris, das mündliche Bekenntnis der einzelnen Sünden, das möglichst genau sein musste und keine Sünde unterschlagen sollte. Dazu kam die contritio cordis, die rechte Zerknirschung des Herzens als Gemütsverfassung. Und schließlich die satisfactio operis, die Genugtuung durch gute Werke. Mit einfachen Worten gesprochen bedeutete dies nichts anderes, als dass ein Sünder seine schlechten Taten vollständig aufzuzählen hatte, dass er ehrliche Reue für seine Taten empfinden musste und dass er vor allem zur Tilgung seiner Schuld ein gutes Werk vollbringen musste.
Doch Johann Tetzel machte mit der Gnädigkeit des Herrn Geschäfte. Er verkaufte Ablassbriefe und nahm auf diese Weise tausende Gulden ein. Als die drei jungen Mönche zum ersten Mal eine von Tetzels Ablasspredigten hörten, blieb ihnen nahezu das Herz stehen. Johann Tetzel war ein gesegneter Redner, soviel stand fest. Dominant stolzierte er auf einem kleinen Podest hin und her, die Brust emporgestreckt, und blickte mit klaren, blauen Augen auf die um ihn versammelten Menschen hinab. Seine Ausstrahlung ließ keinen Zweifel daran, dass er ein glaubwürdiger Vertreter Gottes auf Erden war. Mit einer Geste des Großmuts begann er mit einer wohlklingenden, tiefen und vertrauenerweckenden Stimme die Worte des Herrn zu predigen. Gebannt lauschte die Menge seinen Worten, und erstaunt mussten die drei jungen Mönche vernehmen, dass ein Sünder auch ohne die Beichte vor einem Priester seine Strafe durch den Kauf eines Ablassbriefes begleichen konnte. Während dieser unsäglichen Worte nahm Albert einen tiefen Seufzer hinter sich wahr. Er sah sich um und erblickte Bruder Ignatius, der sich kopfschüttelnd bekreuzigte. Wie sollte das wohl funktionieren, Sünden vergeben ohne zu beichten?
Doch Johann Tetzel ließ sich von dem ungläubigen Gemurmel der Mönche nicht beirren. Stattdessen holte er selbstsicher einen großen Kasten hervor und platzierte diesen direkt vor der raunenden Menge. Auf dem Kasten war die schreckliche Grimasse des Teufels zu sehen, der die armen Seelen der Sünder im Fegefeuer quälte. Darüber stand mit großen goldenen Buchstaben geschrieben: Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Feuer springt.
Damit war die Zurückhaltung der Menge endgültig gebrochen. Die Menschen bildeten eine lange Schlange, um Ablassbriefe für sich und ihre verstorbenen Familienangehörigen zu kaufen. Am Ende der Predigt war der mit Gulden gefüllte Kasten so schwer, dass zwei Mönche zusammen Mühe hatten, diesen zu bewegen. Nachdem sich der Platz geleert hatte und nur noch die Mönche des Klosters in kleinen tuschelnden Gruppen herumstanden, blickte Tetzel zufrieden in die Runde und sagte:
»Nun, meine lieben Brüder. Ich hoffe, Euch hat meine Predigt gefallen!«
In diesem Moment klatschte der Abt Ludwig von Monheim begeistert in die Hände und lief zum großen Entsetzen der Mönche auf den Prediger zu und klopfte ihm wohlwollend auf die Schulter. Albrecht konnte es nicht fassen. Aus dem Augenwinkel schielte er zu Huppertz und Conrad. Die beiden blickten blass und mit regungslosen Mienen auf das Schauspiel, welches sich ihren Augen bot. Bruder Ignatius bekreuzigte sich ein weiteres Mal. Seine Lippen bebten, seine Augen funkelten wütend.
Vor ihnen verließ der junge Johann Tetzel gemeinsam mit dem Abt den Platz in Richtung Kapelle. Der Abt hatte seinen Arm um Johanns Schultern gelegt, offensichtlich immer noch ergriffen von der Rede des Ablasspredigers. Johann Tetzel hatte seine Liebe zu Gold vermutlich schon in die Wiege gelegt bekommen. Er stammte aus Leipzig und war der Sohn eines bekannten Goldschmieds in Pirna, einem kleinen Ort in der Nähe von Dresden. In Leipzig hatte Tetzel Theologie studiert und dort vor erst drei Jahren den Abschluss als Baccalaureus Artium erlangt. Vor genau einem Jahr war er in das Dominikanerkloster St. Pauli in Leipzig eingetreten. Dort hatte man ihn mit offenen Armen empfangen, da sein Predigertalent für alle Welt offenkundig geworden war. Bereits nach kurzer Zeit begann Tetzel, überall im Land herumzureisen und Ablasspredigten zu halten. Der Abt des Klosters Knechtsteden, der schon vor einiger Zeit von Tetzels großem Talent erfahren hatte, war heilfroh gewesen, als er ihn für eine Predigt im Kloster Knechtsteden gewinnen konnte.
Das Kloster steckte in großen finanziellen Schwierigkeiten, seit es von den burgundischen Truppen vor etlicher Zeit, im Jahr 1474, gebrandschatzt worden war. Der alte Abt Heinrich Schlickum hatte damals den Zusammenbruch seines Klosters nicht verwunden und war noch im selben Jahr gestorben. Sein Nachfolger Ludwig von Monheim musste als neuer Abt das Kloster aus den Ruinen wieder aufbauen. Das war sehr teuer, und mittlerweile hatten die vor dem großen Brand immer prall gefüllten Schatullen nichts mehr als gähnende Leere zu bieten. Das Kloster brauchte dringend Geld. Es brauchte das Geld so sehr, dass selbst der Erlass der Sünde gegen Gulden in den Augen des Abtes keinen Frevel mehr darstellte. Viele der Mönche hatten sich anfangs gewehrt, aber die leeren Kassen und der Überlebenstrieb zwangen sie letztendlich dazu, sich umzustellen und an dem Gang der Geschichte mitzuwirken. Nicht ahnend, dass der geschäftsmäßige Handel mit Ablassbriefen wenige Jahrzehnte später den berühmten Priester Martin Luther zur Abfassung seiner fünfundneunzig Thesen veranlassen und damit eine Reform in Gang setzen würde, die Papst Pius V. dazu bewegen sollte, im Jahr 1567 ein Verbot des Ablasshandels auszusprechen.
Aber noch konnte kein lebender Mönch diese geschichtliche Entwicklung vorhersehen. Das Kloster steckte nun einmal in finanziellen Nöten, und so handelte der Abt aus seiner Sicht zum Wohle der Gemeinschaft, denn beten alleine machte keine hungrigen Mäuler satt. Natürlich sahen die jungen und ehrgeizigen Mönche Albert, Huppertz und Conrad dies ganz anders! Sie würden lieber hungern, als sich gotteswidrig zu verhalten. Ihre jungen Herzen schlugen für das, was ihnen beigebracht wurde. Für Gott, die Barmherzigkeit, aber ganz gewiss nicht für den mit Gulden erkauften Sündenerlass!
…
Bastian lief durch die engen Gässchen von Zons in Richtung der Kirche. Er hatte seinen Bruder Albrecht schon lange nicht mehr gesehen. Er war sich nicht einmal sicher, ob er ihn überhaupt wiedererkennen würde, wenn er ihm plötzlich gegenüberstünde.
Bastian öffnete die schwere, knarrende Kirchentür und trat in die dunkle Halle ein. Was für eine Wohltat! Seine schwitzende Haut nahm die kühle Temperatur in der Kirche dankbar wahr. Pfarrer Johannes stand vor dem Altar und tauschte die großen, weißen Wachskerzen aus. Er hatte sich für den bevorstehenden Gottesdienst bereits umgezogen und trug ein prachtvoll verziertes Gewand.
»Bastian, seid gegrüßt! Was treibt Euch zu so früher Stunde in meine Kirche?«
»Pfarrer Johannes, ich muss Euch unbedingt sprechen.«
Bastian holte die Silberkette mit dem Schlüssel hervor und hielt sie dem Pfarrer entgegen. Diesem entfuhr bei dem Anblick der Kette ein erstauntes Oh und augenblicklich legte er die weiße Kerze, die er gerade in den Ständer stecken wollte, wieder zurück.
»Woher habt Ihr diese Kette?«
»Benedict Eschenbach, der Fahnenträger der St.-Sebastianus-Schützenbruderschaft, hatte sie verschluckt.«
»Was meint Ihr damit, er hatte sie verschluckt?«
»Er wurde gestern Abend niedergestreckt. Ich war auf dem Weg nach Hause und habe ihn in einer dunklen Ecke der Grünwaldstraße direkt vor dem Haus des alten Jacob gefunden. Er lebte noch und hat mir mit letzter Kraft die Worte ›Rettet die Karte‹ zugeflüstert. Wisst Ihr, was das zu bedeuten hat?«
Pfarrer Johannes forderte Bastian mit einer Geste auf, ihm zu folgen. Mit für sein hohes Alter erstaunlich schnellen Schritten lief er in einen kleinen Nebenraum, dessen Eingang hinter dem Altar verborgen war, und blieb dort abrupt stehen. Bastian, der ihm dicht auf den Fersen gefolgt war, wäre um ein Haar auf seinen alten Freund und Lehrer aufgeprallt! Pfarrer Johannes kratzte sich indes geistesabwesend am Kopf und blickte sich suchend um.
»Wo habe ich sie nur aufbewahrt?«, sprach er mehr zu sich selbst als zu Bastian. »Ah, mir fällt es wieder ein!«
Er ging zu einem alten Schrank in der Ecke und versuchte, ihn beiseitezuschieben. Bastian sprang hinzu und half dem Pfarrer. Der schwere Eichenschrank bewegte sich zunächst gar nicht. Dann spannte Bastian seine Muskeln an und knarrend schrammte der Schrank über den uralten Steinboden. Dieser Schrank musste Hunderte Jahre dort gestanden haben. Riesige Spinnweben kamen zum Vorschein, und auf dem Boden konnte Bastian jede Menge Kellerasseln entdecken, die eilig krabbelnd versuchten, wieder in die Dunkelheit zu entrinnen. Pfarrer Johannes schenkte dem Ungeziefer wenig Beachtung und griff mitten durch die Spinnweben hindurch an die Wand. Dort tastete er eine Weile herum, bis er einen kleinen Hebel fand und diesen mit Schwung nach oben drehte. Es klickte und in der dicken Kirchenwand öffnete sich ein Spalt. Pfarrer Johannes griff in den Spalt und holte ein Leinentuch hervor. Ein unangenehmer, muffiger Geruch kroch von dem uralten Tuch aus in Bastians Nase, doch er war viel zu neugierig, um sich dadurch ablenken zu lassen. Gebannt beobachtete er, wie Pfarrer Johannes das Leinentuch auf einen kleinen Tisch legte und es auseinanderschlug. Bastian traute seinen Augen nicht, als eine silberne Kette zum Vorschein kam. An der Kette befand sich ein Schlüssel.
Der alte Pfarrer sah Bastian bedeutungsvoll an.
»Ich hätte nie gedacht, dass mich das hier zu meinen Lebzeiten trifft und dass ausgerechnet Ihr derjenige seid, der mit dem Schlüssel zu mir kommt.«
Bastian verstand kein Wort. Was wollte der Pfarrer ihm damit sagen? Verständnislos blickte er den Alten an.
»Setzt Euch mein lieber Junge und ich werde Euch in mein Geheimnis einweihen. Ein Geheimnis, welches seit vielen Generationen von einem zum Nächsten getragen wird und welches heute Euch, dem Überbringer des silbernen Schlüssels, offenbart wird.«
Fassungslos setzte Bastian sich auf einen Stuhl. Was ging hier vor sich? Welche Geheimnisse behütete Johannes?
»Als der Erzbischof Friedrich von Saarwerden vor über einhundert Jahren den Rheinzoll von Neuss hierher nach Zons verlegte und ein Jahr später diesem Ort die Stadtrechte verlieh, beschloss er, die Stadt zu befestigen. Er ließ eine riesige mit Basaltsteinen verstärkte Mauer rund um die Stadt errichten. Diese Mauer sollte dem Schutz der Stadt und der Sicherung der Zolleinnahmen dienen. Doch der Erzbischof hatte noch etwas anderes, was er zu schützen versuchte. Da der Bau der Stadtmauer jedoch viele Jahre andauern sollte und Friedrich von Saarwerden wusste, dass er zu seinen Lebzeiten die Vollendung der Festung nicht mehr erleben würde, beauftragte er den damaligen Pfarrer mit dem Schutz seines Heiligtums.
Von diesem Tag an wurde jedem neuen Pfarrer von Zons das Geheimnis der silbernen Kette mit dem Schlüssel weitergegeben, damit er es hüte und notfalls mit seinem Leben verteidige. Erst wenn jemand mit dem gleichen Schlüssel in der Kirche erscheint, muss das Geheimnis offenbart werden, um den Schatz des Erzbischofs Friedrich von Saarwerden zu schützen.«
Nachdenklich ließ der alte Pfarrer Johannes den silbernen Schlüssel vor seinen Augen hin- und herpendeln. Dann fuhr er fort:
»Bastian, Ihr habt doch sicher schon davon gehört, dass sich der Schatz in einer Truhe befindet. Diese Truhe kann nur mit drei Schlüsseln zugleich geöffnet werden.«
Bastian erinnerte sich daran, wie Wernhart an dem Abend in der »Alten Henne« über die Schützentruhe und die drei Schlüssel, die zu ihrer Öffnung nötig sind, gesprochen hatte. In seinem Geiste sah er deutlich vor sich, wie die Kette mit dem Schlüssel quer über den Tisch gereicht wurde. Wahrscheinlich war es genau die Kette, die er am nächsten Morgen aus dem Hals des armen Benedict Eschenbach herausgezogen hatte.
»Die St.-Sebastianus-Bruderschaft und der Pfarrer sollen diese Truhe hüten. Sie darf nicht geöffnet werden. Deshalb werden alle drei Schlüssel an drei verschiedenen Orten aufbewahrt. An dem Tag, an dem zwei Schlüssel an einem Ort gleichzeitig auftauchen, muss der Inhalt der Truhe gerettet werden. Zu groß ist die Gefahr, dass alle drei Schlüssel in die falschen Hände fallen und damit auch das Heiligtum des Erzbischofs.«
»Was birgt diese Truhe für ein Geheimnis? Kann sie denn nicht einfach aufgebrochen werden?«
»Wenn die Truhe gewaltsam aufgeschlagen wird, vernichtet sich ihr Inhalt im selben Augenblick. In die Seiten der Truhe sind kleine Säurekammern eingearbeitet, die bei der gewaltsamen Öffnung aufbrechen, sodass die Säure frei in die Truhe läuft. Der gesamte Inhalt wird durch die Säure sofort zerstört.«
»Gut, Pfarrer Johannes, das verstehe ich. Aber was soll so Wichtiges in der Truhe sein, dass es nicht entdeckt werden darf?«
»Das, mein lieber Junge, erzähle ich Euch zur rechten Zeit. Das Nächste, was Ihr für mich tun müsst, ist, den dritten Schlüssel zu besorgen! Bringt ihn zu mir und dann erkläre ich Euch, was dann zu tun ist.«
Mit diesen Worten legte Pfarrer Johannes seinen Schlüssel zurück auf das Leinentuch. Dann ergriff er den zweiten Schlüssel, den Bastian immer noch in seiner Hand hielt, und legte ihn dazu. Er schlug das Tuch wieder zusammen und ließ es in dem Spalt in der Wand verschwinden. Dann bedeutete er Bastian, ihm dabei zu helfen, den Schrank wieder an die ursprüngliche Stelle zurückzuschieben. Als der Schrank wieder an seinem Platz stand, blieb Bastian im Türrahmen stehen, er wollte dem Pfarrer mehr zu dem geheimnisvollen Inhalt der Truhe abringen. Doch Pfarrer Johannes ließ ihn einfach stehen und rief ihm im Vorbeigehen zu:
»Habt Geduld, Bastian. Ihr werdet es früh genug erfahren. Bringt mir den Schlüssel!«
Dann nahm Pfarrer Johannes die Wachskerze und steckte sie in den Kerzenhalter. Bastian war ihm bis an den Rand des Altars gefolgt und wollte sich noch nicht geschlagen geben. So konnte ihn der Pfarrer doch nicht wegschicken! Doch der alte Johannes war schon wieder voll und ganz mit der Vorbereitung seines Gottesdienstes beschäftigt. Er würdigte Bastian keines weiteren Blickes, sodass dieser sich missmutig trollte. Wie sollte er denn an den dritten Schlüssel kommen? Er wusste doch nicht einmal, wer ihn besaß!
Auf dem Weg nach draußen stieß er mit Bruder Ignatius zusammen. In letzter Zeit kam der leibliche Bruder des Pfarrers öfter hierher und ging dem älter werdenden Mann zur Hand. Bastian dachte unwillkürlich wieder an Albrecht. Vielleicht konnte Bruder Ignatius Albrecht dazu bringen, den kranken Heinrich zu besuchen. Sicher würde ihn das aufmuntern und seiner Genesung guttun.
Bastian beschloss, erst einmal mit Wernhart zu sprechen. Vielleicht konnte dieser ihm helfen, den dritten Schlüssel zu finden!