Gegenwart
Konzentriert betrachtete Kommissar Oliver Bergmann die Fußknochen oder vielmehr das, was von ihnen übrig war. Das Skelettteil bestand nur noch aus zwei Zehenknochen, wobei die oberen Glieder fehlten. Die drei größeren Zehen waren vollständig abgetrennt worden. Oliver blätterte im Laborbericht. Demnach waren die Schnittstellen relativ glatt und wiesen nur wenig gezackte Ränder auf. Sägen oder Messer mit grober Sägeklinge konnten demzufolge als Tatwaffe von vorneherein ausgeschlossen werden. Oliver biss sich auf die Lippen und kratzte sich gedankenversunken am Hinterkopf. Dieser Fall war ihm suspekt. Vor ein paar Tagen hatten sie einen Anruf von einem jungen Liebespärchen bekommen, welches auf diese Knochen gestoßen war. Zuerst hatte niemand die beiden so richtig ernst nehmen wollen. Die Knochen sahen ziemlich ramponiert und alt aus. Da im gut erhaltenen Zons und auch in der Umgebung der Stadt in der Vergangenheit schon oft Ausgrabungen stattgefunden hatten, war ein Fund menschlicher Knochen zunächst keine weltbewegende Neuigkeit.
Erst vor Kurzem waren bei der Umgestaltung des Museumsvorplatzes gut erhaltene Reste eines größeren Kellergewölbes gefunden worden. Bis jetzt hatte man noch nicht herausgefunden, wann dieses Kellergewölbe entstanden war. Da der Museumsvorplatz bis Anfang des 19. Jahrhunderts der Marktplatz von Zons war, gingen die Experten davon aus, dass das Kellergewölbe auf alle Fälle aus der Zeit davor, dem 17. oder 18. Jahrhundert, stammen musste. Es konnte allerdings genauso gut sein, dass das Gewölbe wesentlich älter war.
Oliver erinnerte sich an eine spannende Reportage über Zons, die er vor ein paar Wochen gelesen hatte. Bei einer der größeren Ausgrabungen in den Achtzigerjahren wurden zweihunderteinundsechzig menschliche Skelette im Bereich des Schlosses Friedestrom gefunden. Anhand der Knochen konnten die Archäologen feststellen, dass es in Zons im Mittelalter einen deutlichen Männerüberschuss gegeben hatte. Nur bei wenigen der menschlichen Überreste ließen sich Spuren von Gewalteinwirkung nachweisen. Die Zonser Bevölkerung war überdurchschnittlich alt und für die schlechten hygienischen Verhältnisse im Mittelalter erstaunlich gesund gewesen. Selbst die Kindersterblichkeit hatte mit nur achtzehn Prozent weit unter dem mittelalterlichen Durchschnitt gelegen.
Ein kleines Lächeln schlich sich in Olivers Gesicht. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hätte er diese Reportage sicherlich niemals von sich aus gelesen. Der eigentliche Grund, warum er sich neuerdings für historische Ereignisse interessierte, war Emily. Seit er sie während der Untersuchungen zu seinem letzten großen Mordfall kennengelernt hatte, musste er ständig an sie denken. Alles, was nur im Entferntesten zu ihrer Person in Bezug stand, sog er auf wie ein Schwamm. Egal, ob es sich um ihre italienische Herkunft, ihr Lieblingsessen oder ihre geschichtlichen Kenntnisse handelte. Ohne Emily hätten die Ermittlungen damals sicherlich wesentlich länger gedauert. Als äußerst talentierte Journalismus-Studentin an der Universität zu Köln war sie mittlerweile zu einer kleinen lokalen Berühmtheit geworden. Emily hatte für die Rheinische Post eine dreiteilige Reportage über den Puzzlemörder von Zons geschrieben, der im 15. Jahrhundert auf bestialische Art und Weise mehrere Frauen vergewaltigt und ermordet hatte. Dank ihrer detaillierten Kenntnisse über diese historischen Mordfälle war Oliver, gemeinsam mit seinem Partner Klaus, damals recht schnell in der Lage gewesen, einen Nachahmungstäter zu fassen, der urplötzlich in Zons aufgetaucht war und Angst und Schrecken verbreitet hatte.
Oliver wandte sich wieder den Resten der Fußknochen zu, die in eine durchsichtige Plastiktüte verpackt vor ihm auf dem Schreibtisch lagen. Die Knochen hatten eine hässliche gelbe Farbe. Irgendwie sahen die Knochen uralt aus. Die Geschichte hatte sich im Polizeirevier schnell herumgesprochen und selbst Oliver hatte sich anfangs darüber lustig gemacht.
Wie viel Pech musste man haben, wenn man mitten im Liebesspiel mit seiner Freundin bei allerschönstem Sommerwetter ausgerechnet von alten Knochen gestört wird! Oliver erinnerte sich sehnsüchtig an sein Picknick mit Emily zurück.
Doch das Ergebnis des Laborberichtes hatte alles geändert. Niemand amüsierte sich noch über das Fundstück. Es war der Rest eines männlichen Fußes, und es war ziemlich sicher, dass dieser Fuß noch vor ein paar Wochen lebend durch diese Welt marschiert war. Die Knochen wiesen außerdem Einwirkungen von Salzsäure auf. Oliver nahm die Plastiktüte in die Hand. Obwohl der Ventilator auf seinem Schreibtisch auf Hochtouren lief, war die Luft im Büro stickig und heiß. Kleine Schweißperlen hatten sich überall auf Olivers Körper gebildet und in regelmäßigen Abständen wischte er sich unbewusst mit dem Handrücken über die Stirn, um das lästige Jucken der Tröpfchen auf der Haut loszuwerden.
Vorsichtig bog er das Knochenende hin und her. Es fühlte sich ekelhaft an. Fast so, als würde man mit einem großen, wabbligen Gummibärchen spielen. Angewidert ließ Oliver die Tüte auf seinen Schreibtisch fallen und nahm stattdessen den Laborbericht zur Hand. Der Fuß war mit Salzsäure in Kontakt gekommen. Durch die Säure wurde die feste Knochenstruktur, oder das Kalziumphosphat des Knochens, aufgelöst und übrig blieb nur noch Kollagen. Oliver erinnerte sich: Kollagen ist eine weiche und flexible Masse, die unter anderem auch zur Herstellung von Gelatine benutzt wird. Gelatine ist die Grundsubstanz eines jeden Gummibärchens! Oliver wurde ganz flau im Magen. Nun, er würde wohl so schnell keine mehr essen!
Die Bürotür flog mit kräftigem Schwung auf und schlug krachend gegen die Wand. Klaus stolperte über die Türschwelle. In seiner rechten Hand hielt er einen vollen Kaffeebecher, den er eben noch so ausbalancieren konnte, während er mit dem linken Arm krampfhaft einen Stapel Aktenordner umklammerte. Die Aktenordner hatten sich bereits ineinander verschoben und drohten jede Sekunde auf den Boden zu fallen. Standhaft versuchte Klaus, mit dem Kinn die Ordner auf seinem Arm zu stabilisieren. Trotz dieser artistischen Leistung schaffte er es noch, Oliver ein Augenzwinkern zuzuwerfen und einen unverständlichen Gruß zu murmeln. In drei schnellen Schritten hatte er es bis zu seinem Schreibtisch geschafft und ließ, begleitet von einem großen Knall, die Aktenordner darauf fallen. Schweißgebadet fiel er in seinen Bürostuhl, legte lässig die Beine auf dem Tisch ab und schlürfte einen langen genüsslichen Schluck Kaffee aus seinem Becher.
Dann begrüßte er Oliver: »Guten Morgen, Sportsfreund, bist du schon fleißig an der Analyse unseres neuesten Falls dran?«
»Du hast gut lachen, Klaus! Steuermark möchte in einer Stunde einen Plan für die weitere Vorgehensweise haben!«
Oliver grinste, nahm die Plastiktüte mit den Knochen und warf sie übermütig in einem hohen Bogen hinüber zu Klaus. Dieser schaffte es gerade noch, seinen Kaffeebecher abzustellen und das Flugobjekt erst mit der Brust zu stoppen und dann mit der rechten Hand aufzufangen.
»Igitt! Sind das die Fußknochen, über den das halbe Revier spricht? Da ist ja kaum was von übrig!«
Angewidert betrachtete Klaus den Inhalt der Tüte.
»Und wo sollen wir jetzt die Leiche zu diesem Fuß finden, wenn es überhaupt eine gibt?«
…
Um ihn herum herrschte Dunkelheit. Nur durch eine schmale Ritze drang ein schwacher Lichtstrahl in die Finsternis. Allerdings war das Licht so schwach, dass es nicht einmal bis auf den Boden reichte. Der Knebel in seinem Mund kratzte unerträglich, und die Hitze, die in diesem winzigen Raum herrschte, war unnachgiebig. Es mussten fünfzig Grad sein. Er lag wie ein nasser, heißer Sack zusammengeschnürt, mit angezogenen Knien auf der Seite. Seine Hände waren vor der Brust gefesselt und auch die Beine mit mehreren Stricken verschnürt. Wenn man ihn von oben betrachtete, sah er beinahe aus wie ein Embryo im Mutterleib, zumindest war er, abgesehen von den Fesseln, genauso nackt.
Sein Geist war von der flimmernden Hitze und dem Sauerstoffmangel benebelt. Er konnte sich nicht daran erinnern, wie er überhaupt hierhergekommen war. Das Letzte, was er bruchstückhaft vor sich sah, war die blonde Schönheit auf der Cocktailparty eines Kunden. Er hatte zu viel getrunken. Sein Schädel dröhnte noch von dem übermäßigen Alkoholgenuss. Verdammt! Wie war er nur hierher geraten?
Er schloss die Augen und atmete tief durch.
Denk nach, Peter! Wo zum Teufel bist du? Was ist passiert?
Doch in seinem Kopf herrschte nur Leere. Krampfhaft versuchte er, die Schaltkreise seiner Synapsen zu aktivieren und wenigstens ein winziges Bild der Erinnerung heraufzubeschwören. Doch sein Gehirn gab stupide immer nur dieselbe Antwort: Hitze, Dunkelheit, Leere. Und da war noch ein Gefühl, welches sich aus der tiefsten Finsternis ganz langsam aber unaufhörlich an ihn heranschlich: Angst!
…
Wütend fegte Matthias Kronberg die Kontoauszüge vom Tisch. Er stand kurz vor dem Ruin. Wie sollte er das nur seiner Frau beibringen? Ihm blieb noch Liquidität für knapp drei Wochen. Wenn er bis dahin keine Lösung hatte, würde er Insolvenz anmelden müssen. Verdammt! Wie hatte es nur so weit kommen können?
Sein Vater hatte das kleine mittelständische Unternehmen aufgebaut und Matthias hatte es nach dem Schlaganfall seines Vaters vor acht Jahren übernommen. Das Unternehmen produzierte Zubehör für das in Neuss-Norf ansässige, größte Aluminiumwalzwerk der Welt und gehörte seit Jahrzehnten zu den deutschen Marktführern in diesem Bereich. Die Geschäfte liefen nach wie vor gut. Sicherlich der Absatz ging in einigen Bereichen kontinuierlich zurück. Nicht zuletzt die Opel-Krise sowie die schwachen Absatzzahlen der gesamten deutschen Automobilindustrie in den letzten Jahren machten sich bemerkbar. Bisher hatte Matthias die Umsatzrückgänge durch Steigerungen in der Produktivität ausgleichen können. Mittlerweile bezog er zudem etliche Produkte aus China und Indien und hatte es so geschafft, durch die Internationalisierung der Zulieferkette erhebliche Kostenvorteile in der Produktion zu realisieren.
Nein, seine finanziellen Probleme hatten leider einen ganz anderen Hintergrund. Seine Mutter würde sich im Grab umdrehen, wenn sie wüsste, wie leichtfertig er das Vermögen des Familienunternehmens aufs Spiel gesetzt hatte. Fast schämte sich Matthias dafür, wie froh er in diesem Moment war, dass seine Mutter die von ihm begangenen Fehltritte erst in vielen Jahren erfahren würde, wenn er selbst vor dem Schöpfer stand. Er konnte schon ihre hysterische Stimme hören, die ihm lautstark vorwarf, dass seinem Bruder etwas Derartiges sicherlich nie passiert wäre. Ja, sein heiliger Bruder hatte nicht einmal annähernd eine Ahnung davon, was es bedeutete, das Familienunternehmen alleine weiterzuführen. Sebastian hatte sich schon in frühen Jahren der Kirche verschrieben, Theologie studiert und lebte als Mönch im Kloster Knechtsteden. Auch Matthias hatte in seiner Jugend einmal andere Interessen gehabt, doch weil er der Ältere war, blieb ihm nichts anderes übrig, als das Familienerbe anzutreten.
Nervös schaute er auf die Uhr. Es war kurz vor fünfzehn Uhr. Seine neue Bankberaterin müsste jeden Moment eintreffen. Schnell ging er zur Toilette und zupfte seine Krawatte zurecht. Der Blick in den Spiegel ließ ihn für eine Sekunde erstarren. Er blickte einem Fremden ins Gesicht. Durch den Stress der letzten Monate hatte er einige Kilos zugelegt. Seine Wangen wirkten aufgedunsen und waren leicht gerötet. Unter seinen tief liegenden graublauen Augen hatten sich breite dunkle Ränder gebildet. Bis auf die Wangen wirkte seine Haut unnatürlich grau und glänzte verschwitzt. Eine Armada an grauen Haaren entstellte seine ursprünglich glanzvolle brünette Haarpracht. Sein Alter, der mangelnde Sport und der Stress, den die Leitung des Unternehmens mit sich brachte, waren nicht mehr zu übersehen.
Egal! Er würde gleich einen guten Eindruck hinterlassen müssen. Schließlich war diese neue Bankberaterin sein letzter Rettungsanker, um die bevorstehende Insolvenz vielleicht doch noch abwenden zu können.
…
Verfluchter Mist! Ihr Navigationssystem hatte Anna wieder in die Irre geführt. Sie hatte die falsche Ausfahrt von der Autobahn genommen und durfte jetzt einen zehn Kilometer langen Umweg fahren, bevor sie wenden konnte. Sie hasste es, unbekannte Wege zu fahren. Panisch blickte sie auf die Uhr im Display hinter ihrem Lenkrad. Es war schon kurz vor drei. Sie würde viel zu spät zu ihrem neuen Kunden kommen!
Anna wusste, dass ihr Kunde nicht über die erforderliche Kreditwürdigkeit verfügte. Das Ergebnis der Bonitätsprüfung von der Abteilung für Risikomanagement war eindeutig. Aber sie brauchte dringend einen neuen Geschäftsabschluss. Wenn sie die Zielvorgaben nicht erreichte, war ihr lang ersehnter Bonus in Gefahr. Vielleicht würde sie ein sogenanntes Kombigeschäft abschließen können. Cross selling war das neue Lieblingsschlagwort ihres Chefs.
Verdammt! Anna trat heftig auf die Bremse. Ein BMW hatte sie von rechts überholt und sich in den Sicherheitsabstand vor ihr hineingedrängelt. Das war knapp gewesen! Annas Puls stieg innerhalb von Sekunden auf mindestens hundertvierzig Schläge pro Minute. Adrenalin schoss durch ihre Blutbahnen und ihr Herz raste wie verrückt. Ihr war trotz der laufenden Klimaanlage heiß und ihr Magen fühlte sich flau an. Nur gut, dass sie nicht viel gegessen hatte. Vor lauter Wut schlug sie mit der flachen Hand heftig auf die Hupe.
Dreißig Minuten später hatte Anna es endlich geschafft. Ihr Fahrzeug stand auf einem riesigen, kaum genutzten Parkplatz. Sie sah sich um. Überall wucherte Gestrüpp aus den Plattenfugen des Platzes hervor. Hier hatte seit Monaten kein Gärtner mehr Hand angelegt. Das Bürogebäude vor ihr wirkte solide. Es stammte aus den Siebzigerjahren. Im Gegensatz zum Parkplatz wies das Gebäude jedoch keinerlei Ungepflegtheiten auf. Die Fenster waren sauber und reflektierten strahlend das helle Sonnenlicht.
Anna schirmte ihre Augen mit einer Hand gegen die Sonne ab, griff nach ihren Unterlagen auf dem Beifahrersitz und blätterte noch einmal in der Kundenakte. Das Gespräch würde sicher nicht einfach werden. Sie hatte diesen Kunden von einem Kollegen übernommen, der vor einigen Wochen fristlos entlassen worden war. Er hatte die überwiegende Anzahl seiner Kunden in die Pleite getrieben, weil er ihnen stark risikobehaftete, strukturierte Finanzprodukte verkauft hatte, die den Bedürfnissen der jeweiligen Kunden gar nicht gerecht wurden. Massenhaft hatte er sogenannte Currency-related Swaps verkauft. Viele Banken waren in den letzten Monaten wegen dieser Swap-Geschäfte von der Presse kritisiert worden, und mittlerweile gab es diverse Gerichtsprozesse, in denen Kunden sich gegen die Fehlberatung wehrten. Eine der großen deutschen Banken hatte ihren ersten Prozess bereits verloren und musste nun Schadensersatz in Millionenhöhe zahlen. Zum Leid der betroffenen Kunden zogen sich die meisten dieser Gerichtsprozesse jedoch so extrem in die Länge, dass viele trotzdem in die Insolvenz gehen mussten.
Anna warf einen letzten Blick auf die Liquiditätsanalyse ihres Kunden. Ihr erstes Gefühl sagte ihr, dass er nicht mehr viel Luft hatte. Vielleicht konnte sie ihm helfen! Sie stieg aus ihrem Wagen aus, schlug schwungvoll die Wagentür zu und ging graziös auf den Haupteingang des Gebäudes zu.
Die Empfangsdame, die direkt hinter der verspiegelten Eingangstür, die sich automatisch vor Anna geöffnet hatte, saß, empfing sie mit einem glanzlosen Lächeln. Sie war mittleren Alters und wirkte alles andere als repräsentativ. Ihre Haare hingen kraftlos herunter und ihre Haut wirkte so aschfahl, als wäre sie jahrelang nicht mehr in der Sonne gewesen. Sie blickte Anna mit völligem Desinteresse in die Augen und sprach mit einer dünnen, tonlosen Stimme, die eher an eine Computerstimme, denn an einen Menschen erinnerte:
»Herr Kronberg erwartet Sie bereits.«
…
Eine Stunde später stand Matthias Kronberg am Fenster seines Büros und beobachtete Anna heimlich dabei, wie sie in ihr Auto einstieg. Das war wirklich die attraktivste Bankberaterin, die sie ihm jemals vorbeigeschickt hatten. Sie hatte sich bemüht, ihm zu helfen. Sie hatte ihm mehrere Vorschläge unterbreitet, die den Beratungsfehler ihres Kollegen wieder beheben sollten. Fast hatte er angefangen, sie zu mögen. Doch eine schneidende, bitterböse Stimme in seinem tiefsten Innersten erhob sich zu einer drohenden Warnung:
Lass dich bloß nicht von ihrem Anblick verführen. Banker sind alle gleich! Egal wie nett sie zu dir sind, am Ende wollen sie alle nur dein Geld, und wenn du am Boden liegst, interessierst du sie nicht mehr.
»Aber Anna Winterfeld ist wirklich anders! Können diese großen, grünen Augen lügen? Nein. Niemals!«, widersprach sein Gefühl der warnenden Stimme.
Hör auf, sie zu mögen, du alter Trottel! Sie ist wie alle anderen. Sie hat es nicht verdient, auf dieser Erde zu wandeln. Sie verstößt gegen alle Gebote des Herrn!
Blödsinn! Ich mag sie!
Mit diesem letzten Gedanken in seinem Kopf drehte er sich vom Fenster weg. Sein Kopf dröhnte und die Gedanken überschlugen sich. Müde rieb sich Matthias die Schläfen. Dann hielt er kurz inne, bekreuzigte sich flüchtig und nahm den Telefonhörer in die Hand.
»Hallo, bitte richten sie Bruder Sebastianus aus, er möge mich zurückrufen, sobald seine Zeit es zulässt.«
Er hielt den Hörer noch ein paar Sekunden länger ans Ohr und lauschte dem Gesang der Mönche, welcher sich hallend im Hintergrund wie eine wohltuende Welle ausbreitete. Er fragte sich, ob sein Bruder in diesem Moment im Chor der Gläubigen mitsang. Erst dann senkte er den Arm und legte den Hörer zurück in die Gabel des Telefons. Das leise Klicken in der Leitung nahm er nicht wahr.
…
Seufzend drückte Sebastian Kronberg, oder Bruder Sebastianus, wie sie ihn im Kloster nannten, auf die Escape-Taste seines Laptops. Er hatte genug gehört. Matthias würde Geld brauchen, wenn die Firma nicht endgültig pleitegehen sollte. Die Vorschläge dieser Bankberaterin waren nicht schlecht, aber ohne den Zuschuss von eigenem Kapital gab es keine Chance.
Sebastian ließ die letzten Jahre an sich vorbeiziehen. Wie oft hatte er seinem Bruder aus der Klemme helfen müssen! Und das immer auf eine Art und Weise, dass Matthias am Ende glaubte, es aus eigener Kraft geschafft zu haben. Sebastian besaß die Vollmacht über das Familienvermögen, welches nach dem Ausscheiden des Vaters vor acht Jahren in eine Stiftung geflossen war. Es war eine absolute Ausnahmegenehmigung, weil er als Mönch eigentlich kein Vermögen besitzen durfte, aber eine großzügige Spende an das Kloster und der kleine Trick über die Gründung einer eigenen Stiftung für das Familienvermögen erlaubten diese Vorgehensweise. Seine Mutter hatte schon lange vor ihrem Tod darauf bestanden und ihm zusätzlich noch auf dem Sterbebett das Versprechen abgenommen, auf seinen Bruder aufzupassen, und er hatte es all die Jahre über getan.
Beinahe zärtlich strich er mit der Hand über seinen Laptop. Er liebte Computer über alles. Schon lange bevor er sich endgültig dem Herrn verschrieben hatte, war dies seine Leidenschaft gewesen. Es gab kein System, in das er sich nicht hacken konnte. Außerdem war er durch diese Fähigkeiten in der Lage, ein Leben im Kloster zu führen und gleichzeitig auf seinen Bruder achtzugeben. Ohne dass dieser es wusste, überwachte Sebastian seit Jahren sämtliche Lebensbereiche von Matthias. Es gab keinen Ort, an dem er nicht seine Gespräche mithören oder ihn über eine Kamera beobachten konnte. Die moderne Technik vollbrachte wahre Wunder!