XIII.

Vor fünfhundert Jahren

 

 

Bastian Mühlenberg träumte von Anna. Es war derselbe Traum, den er bereits vor einigen Tage durchlitten hatte. Immer wieder öffnete sich jene Tür in einem Gang mit weißen Wänden und dem Boden, der wie dunkles Wasser wirkte. Anna war diesmal hinter ihm. Das beruhigte ihn, denn so wusste er sie in Sicherheit. Die Tür öffnete sich und ein lautes Klopfen schreckte ihn aus dem Schlaf. Verwirrt blickte Bastian sich um. Marie schlief fest neben ihm. Die Morgendämmerung hatte bereits eingesetzt. Jemand hämmerte ohne Unterlass gegen die Haustür. Schnell schlüpfte er in seine Kleider und nahm in einem Satz die Treppenstufen ins Erdgeschoss. Wernhart stand vor der Tür.

»Die alte Jonata ist tot.«

»Was?«, Bastian war schlagartig wach.

»Jemand hat sie erwürgt. Ein Nachbar hat die Alte tot in ihrer Hütte gefunden. Er wunderte sich, warum seit Tagen kein Gezeter mehr zu hören war und dann hat er nachgeschaut.«

Bastian lief sofort los. Er musste einfach nur die Wendelstraße entlanglaufen, am Feldtor vorbei in Richtung Norden. Kurz vor dem Krötschenturm erblickte er auf der anderen Seite der Gasse einen der beiden Zwillinge. Er überlegte kurz, ob er August oder Christan vor sich hatte, verwarf diese Frage jedoch sofort, als er sich Jonatas Hütte näherte.

Bereits am Eingang kam ihm ein widerlich süßer Verwesungsgeruch entgegen. Wernhart, der dicht hinter ihm war, fluchte und wich zurück. Bastian hielt sich ein Leinentuch vor das Gesicht, doch der Gestank kroch immer noch in seine Nase, wie ein Insekt auf der Suche nach Nahrung. Er betrat die Hütte und sah den Leichnam, der verdreht auf dem Rücken lag. Bastian spürte die Übelkeit in sich aufsteigen, als ihm klar wurde, dass Jonata schon länger tot sein musste. Da sie keine Angehörigen mehr hatte, wurde sie nicht sofort vermisst. Der Tierfraß war nicht zu übersehen. Teile des Gesichtes fehlten bereits und er musste näher herangehen, um die deutlichen Würgemale an Jonatas Hals zu erkennen. Bastian suchte den Boden nach Blutspuren ab, doch das Stroh war sauber.

»Meinst du, das war der Bucklige?«, fragte Wernhart mit gepresster Stimme aus dem Hintergrund. Offenbar hatte auch seine Nase sich immer noch nicht an den Gestank gewöhnt.

Bastian zuckte mit den Schultern. »Jonata hat ihn mehrfach beschuldigt. Angeblich ist er nachts um den Krötschenturm geschlichen und hat Tierkadaver abgelegt. Einen Grund, sie zum Schweigen zu bringen, hatte er sicherlich.«

Bastian dachte nach. Der Name Gilig Ückerhoven kam immer wieder ins Spiel, egal, ob es um Mord oder die Münzfälschungen ging. Pfarrer Johannes hatte schon in der Nacht, als sie aus dem Kloster Brauweiler zurückkehrten, damit gerechnet, dass Bastian Gilig in den Juddeturm werfen würde. Er erinnerte sich nur allzu gut an den verständnislosen Blick von Johannes, als er den Buckligen hatte laufen lassen.

»Hast du eigentlich ein Auge auf den Bruderältesten Reinhard Nolden?«

Wernhart nickte. »Ja, aber er hat sich völlig unauffällig verhalten. Nicht ein einziges Mal habe ich ihn im Hafen gesehen und Säcke voller Münzen hatte er auch nie bei sich.«

Bastian kratzte sich am Kopf. »Ich werde den Arzt Josef Hesemann bitten, sich Jonata noch einmal anzusehen. Vielleicht entdeckt er irgendetwas, das wir übersehen haben. Wir sollten uns derweil in Giligs Haus umsehen. Möglicherweise finden wir etwas, das ihn des Mordes überführt.«

 

 

...

 

 

Das Haus von Gilig war viel zu groß für einen einzigen Bewohner. Sie sperrten den Buckligen in der Speisekammer ein, damit er ihnen bei der Durchsuchung nicht in die Quere kam. Giligs Heim war arg in die Jahre gekommen und der Herbstwind blies durch die zugigen Ritzen. Offensichtlich hatte er sich mit dem Erhalt seiner Hütte keine besondere Mühe gegeben. Auf der Feuerstelle häufte sich die Asche des letzten Winters. Es roch muffig und überall lag Dreck. Nachdem sie den oberen Teil des Hauses abgesucht hatten, nahmen sie sich den feuchten Keller vor. Die Fackel spendete nur spärliches Licht. Mitten im Raum stießen sie auf die Säcke mit den Gold- und Silbergulden. Bastian konnte es nicht fassen. Gilig hatte sie tatsächlich an der Nase herumgeführt. Wie hatte er sich nur so in ihm täuschen können!

Direkt neben den Säcken lag ein blutverschmierter Hammer. Wernhart hob ihn auf und ging nach oben, um ihn bei Tageslicht betrachten zu können.

»Der Hammer ist voller Blut und ein Büschel schwarzer Haare klebt am Schaft.«

»Der Schmied hatte schwarze Haare.« Bastian stieg die Stufen vom Keller empor und hielt Wernhart einen verbrannten Stoffrest unter die Nase. »Das stammt vom alten Bettelweib! Ich erinnere mich genau an den groben Stoff, den sie auf dem Leib trug.«

Wernhart stieg die Zornesröte ins Gesicht. »Der Bucklige hat uns belogen!« Er riss die Tür der Speisekammer auf und zerrte Gilig grob heraus.

»Ihr gesteht jetzt auf der Stelle!« Drohend hielt Wernhart ihm eine Klinge an die Kehle. Der Bucklige wand sich wie ein Wurm.

»Ich weiß nicht, wo die Dinge herkommen. Ich war das nicht!«

Irgendetwas an Giligs Tonfall ließ Bastian aufhorchen: Seine Beteuerungen klangen ehrlich. Außerdem erkannte Bastian kein Motiv. Die Münzen hätte Gilig jederzeit entwenden können. Warum sollte er den Schmied erschlagen? Oder hatte der Bucklige es auf etwas ganz anderes abgesehen? Er war schon immer ein merkwürdiger Einzelgänger gewesen. In seinem Gesicht konnte Bastian sehen, dass seine Gedanken oft quer saßen. Vielleicht war er einfach verrückt!

Die Beweislast jedenfalls war erdrückend.

»Gilig Ückerhoven, ich sperre Euch in den Juddeturm. Ihr seid des Mordes an zwei Menschen verdächtig und seid in die Münzfälscherei verwickelt. Das Schöffengericht wird über Eure Schuld urteilen!« Bastian packte Gilig an den Schultern und zog ihn auf die Straße hinaus. Vor dem Haus hatte sich bereits eine Menschentraube gebildet, die mit neugierigen Blicken das Geschehen verfolgte.

Wernhart lief voran in Richtung Juddeturm und teilte die Menschenmenge, die immer größer wurde. Einige beschimpften Gilig und spuckten ihn an.

»Beruhigt Euch!«, rief Wernhart in die Menschenmasse hinein. Doch das Gedränge wurde immer dichter. Gilig weinte und lief mit eingezogenem Kopf vor Bastian her, wobei er die Hände schützend vor sich hielt. Ein aufgebrachter Mann holte aus und traf den Buckligen mit der Faust. Schon griffen weitere Hände nach Gilig und versuchten ihn, auf den Boden zu zerren. Die Situation wurde immer brenzliger. Schließlich zog Bastian sein Schwert und stellte sich drohend auf. Dank seiner Körpergröße überragte er die meisten Zonser. Die Menge zuckte zurück.

»Wer es wagt, Gilig anzufassen, der bekommt es mit mir zu tun!« Ein böses Zischen ging durch die Menschentraube. Viele hätten Gilig am liebsten auf der Stelle gelyncht.

»Jonata hat immer gewusst, dass der Bucklige ein Mörder ist!«, schrie eine alte Frau. Bastian warf ihr einen bösen Blick zu und sie verstummte augenblicklich.

»Gilig Ückerhoven wird im Juddeturm auf das Urteil des Schöffengerichtes warten. Und jetzt lasst uns durch!« Bastians Stimme ließ keinen Zweifel an seiner Autorität. Die Menge teilte sich schweigend und machte Platz.

 

 

...

 

 

Gilig Ückerhoven landete im Obergeschoss des Juddeturms. Kaum hatte Bastian die Tür zu seinem Gefängnis verschlossen, ließ ein entsetzter Schrei ihn aufhorchen. Schnell rannte er ein paar Stufen hinunter und blickte aus dem Fenster. Jakob Honrath, der Sohn des ermordeten Schmiedes, stand vor dem Juddeturm und brüllte aus Leibeskräften. Bastian konnte kein Wort verstehen. Da er Jakob vor ein paar Tagen vergeblich gesucht hatte, sprang er eilig die Treppen des Juddeturms hinunter und öffnete das Tor. »Was wollt Ihr?«

Jakobs Gesicht glich einer Grimasse. Es war über und über von Schürfwunden bedeckt. Die Lippen waren angeschwollen, im Mundwinkel klebten schwarze Blutkrusten. Bastian blieb der Atem weg.

»Was ist Euch zugestoßen?«

Jakob wedelte hilflos mit den Armen in der Luft. Blubbernde, kehlige Geräusche kamen aus seinem Mund. Bastian sah die Blutspuren und begriff, dass dem Jungen die Zunge fehlte.

Abgeschnittene Finger, Tierkadaver, eine verbrannte Frauenleiche und zur Krönung ein aufgeschlitzter Schmied. Sollte das alles dem buckligen Gilig zuzuschreiben sein?

»Wer hat das getan?«

Jakob fuchtelte wild mit den Händen, doch Bastian konnte seine Gesten nicht deuten.

»Könnt Ihr schreiben?« Jakob schüttelte den Kopf.

Dachte ich mir, stöhnte Bastian innerlich auf. Als Zeuge war Jakob vollkommen wertlos. Dann hatte er eine Idee. Er zerrte den Sohn des Schmiedes in den Juddeturm und bat ihn, die Treppen hinaufzusteigen. Wenn Gilig ihm die Zunge herausgetrennt hatte, dann könnte er das mit einem Kopfnicken bestätigen. Hastig öffnete Bastian die Tür zu Giligs Gefängnis und schob Jakob hinein.

»Hat dieser Mann Euch die Zunge herausgeschnitten?«

Jakob schüttelte den Kopf, versuchte aber mit den Händen etwas zu sagen. Bastian fühlte sich hilflos. Er versuchte es mit einer weiteren Frage. »Hat er Eurem Vater die Münzen abgekauft?« Abermals schüttelte Jakob den Kopf. Gilig schluchzte: »Jakob, Ihr wisst, dass ich unschuldig bin. Ich habe Euren Vater nicht auf dem Gewissen!« Mit flehenden Augen versuchte Gilig, den jungen Jakob zu beschwören, doch dieser schüttelte den Kopf.

Bastian fasste nach. »Hat er Euren Vater getötet?«

Die Antwort war ein Achselzucken.

»Ihr könnt also nicht ausschließen, dass Gilig es war?«

Jakob warf Gilig einen verächtlichen Blick zu und nickte. Gilig stieß einen verzweifelten Schrei aus. »Ich habe Eurem Vater oft geholfen! Wie könnt Ihr mir das antun?«

Jakob versuchte, sich auf den Buckligen zu stürzen. Doch Bastian hielt ihn im letzten Moment zurück. Offensichtlich hatte der Bucklige sich schuldig gemacht, aber ohne Beweise oder Zeugen, durfte Bastian ihn nicht verurteilen.

»Hat Euer Vater Geschäfte mit dem Bruderältesten gemacht?«

Jakob sah Bastian verwirrt an und nickte.

»Hat Euer Vater Gulden gefälscht?«

Jakobs Augen weiteten sich für einen Moment, dann schüttelte er den Kopf.

Er lügt, dachte Bastian. Jakob hatte ihm bei seiner Antwort nicht in die Augen gesehen. Trotzdem fuhr er mit seinen Fragen fort. »Hat der Bruderälteste, Reinhard Nolden, oder einer seiner Männer Euch dies angetan?«

Jakob schüttelte den Kopf. Diesmal schien er die Wahrheit zu sagen. Bastian befragte den jungen Mann weiter, aber es war zwecklos. Die einzig brauchbare Information war, dass sein Peiniger ein hagerer Mann in einer dunklen Kutte gewesen war. Zumindest hatte Jakob bei diesen Fragen genickt. Ebenso bei der Frage, ob er ihn von Angesicht zu Angesicht erkennen würde.

Ich muss also diesen hageren Mann schnappen, dachte Bastian und sah die dunkle Gestalt mit dem Giftpfeil im Kloster Brauweiler vor sich, die im letzten Moment auf einem Pferd entkommen war.

 

 

...

 

 

Es war dunkel in Zons. Wernhart schlich durch die engen Gassen und fror am ganzen Leib. Obwohl der Winter noch nicht eingekehrt war, sanken die Temperaturen in der Nacht schon so stark, dass Wernhart seinen heißen Atem als weiße Dampfwolke vor seinem Gesicht sehen konnte.

Seit Tagen verfolgte er den Bruderältesten der St.-Sebastianus-Schützenbruderschaft. Bastian hatte ihn gebeten, ihn auf keinen Fall länger als ein paar Stunden aus den Augen zu lassen. Also schlich Wernhart auch nachts dreimal an der Hütte von Reinhard Nolden vorbei.

Heute war es seine erste Runde. Die Nacht war gerade erst angebrochen, denn der Nachtwächter hatte noch nicht zur zehnten Stunde gerufen. Unachtsam stapfte Wernhart in eine Pfütze und fluchte leise vor sich hin. Das kalte Wasser drang sofort in seine Ledersohlen ein und Wernhart kam sich vor wie ein lebender Eisklumpen. Vor ihm erhob sich der Krötschenturm, der in der Dunkelheit wie ein stummer Riese wirkte. Oben auf der Stadtmauer spendeten die Fackeln der Stadtwache karges Licht.

Der Wind blies kalt durch die Gassen und ließ dunkle Schatten auf den alten Gemäuern tanzen. Wernhart zog die Schultern hoch und rieb sich kräftig die Hände, um ein wenig Wärme zu erzeugen. Im Krötschenturm war alles ruhig. Seit Gilig im Juddeturm festsaß, hatte sich kein Zonser Bürger mehr über herumschleichende Gestalten beschwert. Auch Tierkadaver waren seitdem nicht mehr aufgetaucht. Wernhart hielt Gilig für schuldig. Er erinnerte sich genau an die Zeiten, als er noch jünger war und der Bucklige ständig im Wald herumschlich, um ihn und seine Freunde zu beobachten. Er war ein merkwürdiger Geselle und Wernhart war stets froh, wenn er ihm nicht über den Weg lief. Trotz seines Buckels bewegte Gilig sich kräftig und schnell. Auf Wernhart wirkten diese Bewegungen unheimlich, so als hätte der Bucklige einen Pakt mit dem Teufel geschlossen.

Der Bruderälteste wohnte am Anfang der Zehntgasse, die sich mitten im Kern von Zons befand. Wernhart ließ den Krötschenturm hinter sich und schlich Richtung Süden an der Kirche vorbei in das Gässchen. Er näherte sich vom anderen Ende, damit ihn Reinhard Nolden im Zweifel nicht sofort entdeckte.

Als er vor dem Haus stand, vernahm er Stimmen. Sie stritten sich. Vorsichtig presste Wernhart sich an die Wand unter dem Fenster und lauschte.

»Wo sind meine Goldgulden?« Der Zorn in der Stimme drang wie ein Fausthieb an Wernharts Ohr.

»Ich sagte Euch doch, dass die Stadtwache die Münzen in Giligs Haus gefunden und beschlagnahmt hat. Er hat uns beide betrogen! Ihr solltet Eure Wut an ihm auslassen und nicht an mir!«

Wernhart erkannte den Bruderältesten, der äußerst ängstlich klang.

»Wir hatten eine Abmachung mit Euch. Der Bucklige ist Euer Knecht und Ihr tragt die Verantwortung für seine Taten. Also sage ich es Euch zum letzten Mal, bringt mir meine Münzen, wenn Euch Euer Leben lieb ist!«

Reinhard Nolden jammerte: »Ich habe versucht, einen neuen Münzmeister zu finden, aber es gibt nicht viele Schmiede mit diesem Talent. Ich kann Euch so schnell keinen Ersatz beschaffen. Ihr müsst mir mehr Zeit geben!«

»Ihr habt bis Ende dieser Woche Zeit oder Ihr fahrt direkt in die Hölle!« Die Stimme klang gnadenlos. Wernhart spürte, wie das Blut in seinen Ohren rauschte. Wenn das der hagere Mann war, von dem Bastian gesprochen hatte, sollte er lieber unentdeckt bleiben. Dieser Kerl war zu allem fähig.

Die Tür flog auf und eine schwarze Gestalt trat hinaus. Wernhart konnte nur die Umrisse des großen, schlanken Mannes wahrnehmen, der sich mit schnellen Schritten vom Haus entfernte. Wernhart blieb starr vor Schreck unter dem Fenster sitzen und lauschte in die Stille hinein. Drinnen hörte er Reinhard Nolden durch die Stube gehen. Die Holzplanken knarrten bei jedem Schritt. Der Bruderälteste brummelte undeutliche Worte vor sich hin. Wernhart konnte sie nicht verstehen.

Plötzlich wurde die Tür erneut aufgerissen und Nolden trat hinaus. Er blickte in die Richtung, in die der Fremde entschwunden war. Dann begann er erneut mit sich selbst zu sprechen und diesmal konnte Wernhart einige Wortfetzen verstehen: »Der Bluthund des Erzbischofs!«

Reinhard Nolden ging wieder hinein und knallte die Tür zu. Die Schritte entfernten sich und Wernhart saß alleine mit schweißnassen Händen unter dem Fenster. Langsam erhob er sich und reckte seine von der Kälte steif gewordenen Beine. Ohne einen Laut zu machen, schlich er durch die engen Gassen von Zons zurück zu seiner Hütte. Gleich morgen früh würde er Bastian Mühlenberg berichten, was er soeben gehört hatte.

 

 

...

 

 

Josef Hesemann schüttelte traurig den Kopf. »Ich kann nicht mehr viel für ihn tun.« Bastian Mühlenberg stand im Türrahmen und blickte auf den zuckenden, ausgemergelten Leib von Jakob Honrath. Über Nacht hatte ihn der Wundbrand getroffen. Er lag kraftlos und schwitzend auf seinem Strohlager und war völlig von Sinnen. Sprechen konnte er ohnehin nicht mehr, aber beim kehligen Lallen, das Jakob seinem eingefallenen Leib abrang, lief eine Gänsehaut über Bastians Körper. Er hatte den Sohn des ermordeten Schmiedes an diesem Morgen eigentlich zu Reinhard Nolden führen wollen. Eine Gegenüberstellung hätte gezeigt, ob es der Bruderälteste gewesen war, der Jakob so brutal verstümmelt hatte. Aber das konnte er nun getrost vergessen.

So wie Josef Hesemann den von Wahnvorstellungen geschüttelten Körper des Jungen ansah, würde er den morgigen Tag nicht mehr überleben. Der Wundbrand fraß sich wie eine Horde hungriger Insekten in den Körper und hörte erst auf, wenn kein Leben mehr übrig war. Bastian hatte schon viele Männer am Fieber sterben sehen, er kannte die Symptome und wusste, ab welchem Zeitpunkt es kein Zurück mehr gab.

»Wir können sein Leiden lindern, aber ich kann ihn nicht mehr zu den Lebenden zurückholen.« Der Arzt warf ein Leinentuch in kaltes Wasser und presste es anschließend mit beiden Händen aus. Vorsichtig legte er es auf Jakobs Stirn.

»Es ist ein Jammer, dass in so kurzer Zeit die Familie des Schmiedes ausgerottet wird. Ihr müsst denjenigen finden, der dies getan hat!«

Bastian nickte. Das würde er tun. Er blickte nach draußen. Die Sonne stand schon hoch am Himmel. Wernhart würde am Hafen auf ihn warten.

»Danke, dass Ihr Euch um ihn kümmert. Ich werde Pfarrer Johannes schicken, damit er ihm die Letzte Ölung geben kann.« Mit diesen Worten verließ Bastian die Stube und richtete seine Schritte gen Süden. Hinter dem Schloss Friedstrom befand sich der kleine Hafen von Zons. Er wollte mit dem Kapitän des Schiffes sprechen, auf welchem er vor ein paar Tagen die Ladung mit den gefälschten Goldgulden entdeckt hatte.

Wernhart wartete bereits an der Hafenmauer auf ihn. Er hockte mit angezogenen Beinen auf einem Felsbrocken und warf Kieselsteine in das Wasser des Hafenbeckens. Als er Bastian sah, lächelte er und klopfte ihm zum Gruß auf die Schulter. »Ich habe gestern den hageren Mann gesehen!« Stolz reckte er die Brust empor.

»War er es wirklich?« Ein hoffnungsvolles Lächeln huschte über Bastians Gesicht.

»Ich habe eine große, schlanke Gestalt beobachtet und der Bruderälteste hat ihn als Bluthund des Erzbischofs bezeichnet.«

Bastian zuckte zusammen. Wenn wirklich der Erzbischof hinter den Münzfälschungen steckte, dann hatten sie schlechte Karten. Niemand durfte den Erzbischof eines solchen Vergehens bezichtigen.

»Aber du hast sein Gesicht nicht gesehen?«, hakte Bastian nach. Wernhart schüttelte den Kopf. »Nein, hab ich doch gesagt. Er war groß und hager, genauso, wie du es mir beschrieben hast!« Wernhart klang eingeschnappt.

Bastian ließ es dabei bewenden und wandte sich den Schiffen zu. Am Anfang des Hafenbeckens lag die »Johanna«, das Handelsschiff, in dem Bastian die Gulden gefunden hatte. Drei Schiffsjungen schrubbten das Deck, doch der Kapitän war nirgends zu sehen. Bastian fragte einen der jungen Burschen nach dem Kapitän. Dieser zeigte kurz auf die Kajüte, ohne dabei seine Arbeit zu unterbrechen. Bastian sprang mit Wernhart auf das Deck und lief in die angezeigte Richtung. Er klopfte an die ausgeblichene Holztür und wartete. Aus dem Inneren ertönte ein lautes Poltern. Dann öffnete sich die Tür einen Spaltbreit und ein vernarbtes Gesicht kam zum Vorschein.

»Was wollt Ihr?«

Der Atem des Mannes stank verfault und nach Alkohol. Bastian rümpfte die Nase und drückte gegen die Tür. »Seid Ihr der Kapitän dieses Schiffes?« Der Mann zeigte ein hässliches Lachen. Die wenigen verbliebenen Zahnstümpfe in seinem Mund waren schwarz.

»Ja, das bin ich. Was wollt Ihr?«

»Mein Name ist Bastian Mühlenberg von der Zonser Stadtwache und dies hier ist Wernhart Tillmanns.« Bastian nickte kurz in Wernharts Richtung. »Wir wollen wissen, was Ihr auf Eurem Schiff lagert und wer Eure Auftraggeber sind.«

»Warum? Es ist doch alles zollfrei! Was sollte ich denn zu verbergen haben?« Der Seemann starrte Bastian feindselig an.

»Nun, es gibt Waren, die zwar zollfrei, aber trotzdem nicht erlaubt sind. Ihr wisst sicher, wovon ich spreche!« Bastian baute sich zu voller Größe auf und der Mann zuckte zurück. Er machte eine abfällige Handbewegung. »Dann geht doch unter Deck in die Lagerräume und seht selbst nach!« Er trat einen Schritt zurück und ließ Bastian und Wernhart in die Kajüte eintreten.

»Nun, zuerst möchte ich von Euch wissen, warum Ihr schon wieder hier seid.« Bastian holte sein Notizbuch hervor. »Laut den Aufzeichnungen habt Ihr erst vor drei Tagen abgelegt. Also, was hat Euch so schnell nach Zons zurückgebracht?«

Der Kapitän spuckte auf die Holzdielen. Sein Gesicht verzog sich zu einer hässlichen Grimasse. »Wenn Ihr doch alles so genau wisst, warum befragt Ihr mich dann noch?«

»Weil ich wissen will, zu wem Ihr diese Gulden hier gebracht habt!« Bastian schlug mit der Faust auf den Holztisch auf. Ein paar Goldgulden, die er in der Hand verborgen hatte, klirrten auf der Tischplatte. Der Kapitän riss die Augen auf.

»Woher habt Ihr die?«

Bastian trat jetzt ganz dicht an den stinkenden Mann heran und sah ihm tief in die Augen. »Die Gulden auf dem Tisch gehören Euch, wenn Ihr mir verratet, wohin Ihr sie gebracht habt und wer Euch für den Transport bezahlt hat.«

Die Augen des Kapitäns starrten gebannt auf die Goldgulden. Er bleckte die Zähne oder vielmehr das, was in seinem fauligen Mund noch davon übrig war. Dann schüttelte er den Kopf.

»Nein, sie werden mir die Kehle durchschneiden, wenn sie erkennen, dass etwas fehlt!«

Bastian schüttelte den Kopf. »Die Stadtwache von Zons hat mehrere Säcke davon beschlagnahmt. Niemand wird das Fehlen einer Handvoll Münzen bemerken!« Mit leiser Stimme fügte er hinzu: »Es sei denn, Ihr könnt Euer stinkendes Mundwerk nicht halten!«

In den Augen des Kapitäns konnte Bastian die Gier sehen. Er wusste, dass dieser Kerl für Gold reden würde.

Der Kapitän rieb sich seinen Bart und zögerte noch einige Augenblicke, wobei er seinen Blick nicht von den Münzen abwenden konnte. »Also gut, der Bucklige liefert die Münzen. Sie kommen direkt aus der Schmiede. Der Schmied war es auch, der für die Verschiffung bezahlt hat.« Der Mann rollte mit den Augen und ließ seine Worte durch eine kleine Pause wirken, dann fuhr er fort. »Da der Schmied tot ist, sollte sein Sohn einspringen. Deshalb bin ich wieder hier! Aber wie Ihr selbst seht, ist etwas schiefgegangen, denn mein Lagerraum ist so leer wie der Magen eines Bettlers am Morgen! Reicht Euch das?«

Bastian schüttelte den Kopf. »Wer bekommt Eure Fracht?«

Der Mann stöhnte. »Ich bringe die Fracht nach Köln. Ich weiß nicht, wer der Abnehmer ist. Meist ist es ein großer, hagerer Kerl in einer dunklen Kutte. Sein Gesicht hält er verdeckt. Ich habe es noch nie gesehen!« Er hielt inne und überlegte. »Einmal trug er ein goldenes Kreuz. Wenn Ihr mich fragt, ist er ein Kirchenmann.«

Der Kapitän nahm einen Goldgulden in die Hand und biss prüfend darauf herum. »Gehören die Münzen jetzt mir?« Er blickte Bastian aus funkelnden Augen an. Dieser nickte und verließ, ohne ein weiteres Wort an den stinkenden Trunkenbold zu verschwenden, gemeinsam mit Wernhart das Schiff. Eines war ihm klar geworden: Reinhard Nolden, der Bruderälteste, ging sehr geschickt vor. Er trat nirgendwo persönlich in Erscheinung. Alle Schuld lastete auf dem Buckligen oder dem toten Schmied. Niemand konnte ihn mit der Münzfälschung in Verbindung bringen und das, was Wernhart heute Nacht gehört hatte, reichte bei Weitem nicht aus, um ihn dingfest zu machen. Dafür war er in Zons ein viel zu angesehener Bürger. Bastian brauchte etwas Handfestes.

 

 

...

 

 

»Und Ihr seid Euch ganz sicher, dass es der blonde Bursche von der Stadtwache war?« Die Augen des hageren Mannes blitzten böse. Er warf dem Schiffsjungen ein paar Weißpfennige vor die Füße und wartete auf eine Antwort.

»Ja, Herr. Es war Bastian Mühlenberg. Er hat sich lange mit dem Kapitän unterhalten. Ich bin mir ganz sicher.«

Der hagere Mann schnalzte bei dieser Antwort mit der Zunge. Dieser Stadtsoldat war ihm dicht auf den Fersen. Er hatte den Ehrgeiz der Stadtwache offenbar unterschätzt. Bastian Mühlenberg war klüger, als gedacht. Die Möglichkeit einer Gegenüberstellung von Angesicht zu Angesicht hatte er nicht ins Kalkül gezogen, sondern gedacht, es sei damit getan, dem Sohn des Schmiedes die Sprache zu nehmen. Umso besser, dass Jakob Honrath bald tot war.

Er dachte kurz nach, ob der Bruderälteste dichthalten würde. Er wusste es nicht. Letztendlich war es auch egal. Er musste Bastian Mühlenberg zum Schweigen bringen. Dieser Kerl sollte aufhören, wegen ein paar gefälschter Münzen die ganze Stadt in Aufruhr zu versetzen. Der Erzbischof hatte sich Zons extra wegen der ruhigen Lage ausgesucht. Eine Münzstätte in einer der größeren Schwesterstädte wäre viel zu auffällig gewesen. Der Ruf des Erzbischofs durfte auf keinen Fall in den Schmutz gezogen werden.

Der hagere Mann nahm einen großen Schluck Rotwein und überlegte, wie er am geschicktesten vorgehen könnte. Nach einer Weile warf er den Schiffsjungen hinaus und ließ einen kräftigen Mann in schwarzer Kleidung eintreten.

»Ihr sagtet, dass das Weib von Bastian Mühlenberg guter Hoffnung ist. Seid Ihr sicher?«

Sein Gegenüber nickte.

»Also gut, dann sprecht Ihr mit dem Bruderältesten und sorgt dafür, dass er schweigt. Ich kümmere mich um unseren ehrgeizigen Freund!« Ein hässliches Grinsen huschte über sein hageres Gesicht, während er diese Worte aussprach.

Bundle Puzzlemörder Erntezeit Zwilling Flügel
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