XIX.
Gegenwart
Es war sechs Uhr morgens und Oliver lag im Tiefschlaf. Er träumte von Emily Richter. Sie sah wunderbar aus. Es war Sommer und sie liefen beide an einem wunderschönen weißen Sandstrand entlang. Gerade drehte sie sich zu ihm um. Ihr lächelndes Gesicht kam immer näher auf ihn zu und in dem Moment, als er sie küssen wollte, riss ihn ein lautes Klingeln aus dem Schlaf. Oliver stöhnte. Nicht schon wieder. Es war doch noch mitten in der Nacht!
Mit geschlossenen Augen tastete er nach dem Telefon und drückte die Taste zur Annahme des Gespräches.
»Hallo Oliver, hier ist Klaus. Stell dir vor, es ist schon wieder ein Mord ins Zons passiert. Ich bin in fünf Minuten bei dir und dann fahren wir kurz ins Revier.«
...
Nach einem kurzen Abstecher ins Revier und einem ebenso kurzen Briefing von einem aufgebrachten Hans Steuermark, saßen sie im Auto auf dem Weg nach Zons.
»Gestern noch lacht uns dieser Alte aus dem Kreisarchiv aus und heute finden wir die nächste Leiche! Wir hätten ihn direkt in Untersuchungshaft nehmen sollen!«, brummte Klaus ärgerlich vor sich hin.
»Wir haben nicht genug in der Hand, außer einem schlechten Bauchgefühl. Lass uns die Leiche ansehen und dann schnappen wir uns diesen Mistkerl!«
Noch am gestrigen Tag hatten sie sich die fünf Namen auf der Liste vom Kreisarchiv näher angeschaut. Neben Emily Richter hatten sich noch zwei weitere Studenten die Unterlagen zum Zonser Puzzlemörder ausgeliehen. Die anderen beiden Namen gehörten zu Mitarbeitern der Staatsbibliothek Berlin. Da die Ausleihe bis auf wenige Male nicht persönlich erfolgte, sondern per Fernleihe, legten Oliver und Klaus auf ein Interview mit diesen beiden Mitarbeitern nicht die höchste Priorität. Der gesuchte Mörder musste aus der Region stammen. Berlin war viel zu weit weg.
Die beiden Studenten waren schon interessanter. Genauer gesagt handelte es sich um eine Frau namens Isabella Kirchner und einen Mann namens Martin Heuer. Bei der Brutalität der Morde gingen sie bisher von einem männlichen Einzeltäter aus. Deshalb hatten sie sich zunächst auf Martin Heuer konzentriert. Klaus sollte ihn interviewen, doch bisher hatte er Martin Heuer weder persönlich, noch telefonisch erreichen können.
Diesmal fuhren sie nicht auf den Schlossplatz von Zons, sondern an den Rhein, zur Anlegestelle der Fähre. Die Frauenleiche war heute Morgen von einer alten Frau gefunden worden, die mit ihrem Hund Gassi ging. Es war jetzt kurz nach sieben Uhr und die Kälte der Februarnacht lag noch in den Rheinauen. Das Wasser des Rheins konnte im Sommer wunderbar blau sein, doch zu dieser Jahreszeit floss es im trüben Grau, eingehüllt in einer leichten Dunsthaube, dahin. Das Gras der Rheinauen war mehr grau als grün. Trotz dieses winterlichen Flairs strahlte die Landschaft eine wohlige Ruhe aus.
Oliver holte den zweiten Teil der Reportage von Emily Richter hervor. Der Artikel sollte erst in der kommenden Woche in der Rheinischen Post veröffentlicht werden, doch Emily hatte ihm freundlicherweise einen Entwurf mitgegeben. In diesem Artikel hatte sie den Mord an Gertrud Minkenberg vor fünfhundert Jahren genauestens beschrieben. Gertrud Minkenbergs Leiche wurde damals an derselben Stelle am Rhein aufgefunden. Sie wurde gefoltert, geschändet und anschließend erwürgt. Der damalige Mörder Dietrich Hellenbroich hatte das Mädchen an ein großes Brett gefesselt und sie dann wie auf einer Bahre ins Rheinwasser geschoben, nachdem sie tot war. Bis heute wusste niemand, warum er die Leiche von Gertrud Minkenberg nicht, wie die erste Tote, an einem der Wehrtürme von Zons aufgehängt hatte. Es sprach eigentlich gegen die Disziplin, die Dietrich Hellenbroich bei seinen Taten an den Tag gelegt hatte. Mit großer Sorgfalt hatte er die Morde geplant und durchgeführt. Man vermutete seinerzeit, dass irgendjemand oder irgendetwas den Mörder daran gehindert haben musste, das Mädchen aufzuhängen.
Oliver und Klaus gingen auf den Fundort der Leiche zu. Diesmal hatten die Kollegen von der Spurensicherung die Gegend direkt großzügig absperren lassen. Der Betreiber der Fähre hatte ihrem Chef Hans Steuermark heute Morgen eine riesige Szene hingelegt, weil er den Fährbetrieb den ganzen Tag lang aussetzen musste. Aber hunderte von Autos und Schaulustigen konnte die Kriminalpolizei keinesfalls gebrauchen. Am Ende landeten noch Fotos von neugierigen Reportern in der Zeitung oder gar im Fernsehen und verrieten dort wichtige Details, die dann den Verlauf der Ermittlungen weiter erschweren könnten. Bisher waren sie der Öffentlichkeit die Verhaftung des Mörders schuldig geblieben. Immer noch fehlte eine vielversprechende heiße Spur, wenn man von dem alten Archivar aus dem Kreisarchiv einmal absah. Vielleicht konnten sie heute etwas finden, was eine konkrete Verbindung zu dem Alten herstellen würde. Verrückt und kräftig genug war er jedenfalls. Außerdem ließ sich der Kreis der Verdächtigen auf Kenner der Materie zu den historischen Zonser Morden eingrenzen. Der erste Teil der Reportage von Emily Richter, welcher die Öffentlichkeit von den Morddetails in Kenntnis setzte, war erst weit nach dem ersten Mord erschienen und die Veröffentlichung des zweiten Artikels stand noch aus. Der Mörder musste also historische Kenntnisse über die Stadt Zons und den Verbrechen, die an diesem Ort in der Vergangenheit verübt worden waren, haben. Es war unwahrscheinlich, dass der Mörder aus einem anderen Bundesland stammte. Die meisten Morde passierten im Bekanntenkreis oder zumindest in der Region, aus welcher der Mörder stammte. Der Mörder steht häufig in einer konkreten Beziehung zu seinen Opfern. Oliver trat näher an die Frauenleiche heran. Sämtliche Details stimmten mit dem Mord vor fünfhundert Jahren überein. Ein Mitarbeiter der Spurensicherung kam auf ihn zu und gab ihm das Portemonnaie und den Personalausweis der Toten. Der Täter hatte sich diesmal nicht mehr die Mühe gemacht, die Identifizierung der Leiche zu verzögern. Die Leiche war, wie im ersten Fall von Michelle Peters, vollständig bekleidet. Die fehlenden Vergewaltigungen waren der einzige Unterschied zwischen den historischen und gegenwärtigen Morden. Oliver hatte keine Erklärung dafür. Sollte der Täter doch eine Frau sein? Dies könnte die fehlenden Vergewaltigungen erklären.
Der Polizeipsychologe hatte ihnen erklärt, dass ein Nachahmungstäter sowieso nicht dasselbe Ursprungsmotiv wie der damalige Mörder haben konnte. Während der damalige Mörder einem Gotteswahn verfallen war, wollte der Mörder aus der Gegenwart die damaligen Morde so detailgetreu wie möglich nachstellen. Doch dann gehörte die Vergewaltigung als wesentliches Merkmal der damaligen Morde eigentlich dazu. Warum wich der Mörder in diesem Punkt ab?
Oliver sah sich den Personalausweis der Toten an. Ihr Name war Christiane Stockhaus, sie wohnte in der Wendestraße und war 48 Jahre alt. Oliver überlegte kurz, wo genau in Zons diese Straße lag. Tatsächlich führte die Wendestraße direkt auf den alten Zonser Mühlenturm zu, welcher sich an der südwestlichen Ecke der Stadtmauer befand. Damals wählte der Mörder seine Opfer vermutlich nach dem Nachnamen aus, das hatte Emily ihm erzählt. Oliver kratzte sich am Kinn und dachte weiter nach. Die erste Tote vor fünfhundert Jahren hieß Elisabeth Kreuzer, die zweite Tote Gertrud Minkenberg. Die vor vier Wochen ermordete Frau hieß Michelle Peters. Ihr Nachname passte nicht zu der damaligen Auswahl der Opfer. Dasselbe galt für Christiane Stockhaus. Ihr Nachname hätte mit einem »M« beginnen müssen, wenn der Mörder dem damaligen Prinzip gefolgt wäre. Dies war der zweite abweichende Punkt zu den historischen Morden. Oliver runzelte die Stirn. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass es sich um einen Nachahmungstäter handelte. Doch wie ließen sich dann die Abweichungen erklären? Er musste unbedingt noch einmal mit Emily Richter sprechen. Das hatte er ohnehin vorgehabt. Er wollte sie auf jeden Fall wiedersehen. Ihr Name auf der Liste des Kreisarchivs und ihre Kenntnisse über das historische Zons boten Oliver einen perfekten Anlass, sie unauffällig näher kennenzulernen. Der Gedanke an ein Wiedersehen mit ihr zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht.
»Wo bist du nur mit deinen Gedanken?«, fuhr Klaus ihn an.
Oliver blickte erschrocken hoch. Während er in seinen Gedanken versunken war, hatte Klaus die Leiche näher untersucht. Die Mitarbeiter der Rechtsmedizin waren bereits dabei, die Tote in den Leichensack zu heben.
»Herr Lorenz von der Spurensuche ist sich übrigens sicher, dass er wieder dieselben Fasern auf dem Leinensack, wie bei der ersten Leiche, gefunden hat«, erklärte ihm Klaus.
»Ich hatte das Labor gebeten, zu untersuchen, ob die Fasern mit denen aus dem Fall ‚Waldleiche‘ übereinstimmen. Hat er dir dazu schon was gesagt? Ich warte auf die Ergebnisse«, erwiderte Oliver, während er seinen Blick auf der Toten verharren ließ. »Nein, sie haben noch kein Ergebnis. Sie mussten die Fasern ins Zentrallabor schicken, weil sie auf Nummer sicher gehen wollten. Die haben einfach die moderneren Geräte und in diesem Fall will sich niemand einen Fehler leisten.«
»In Ordnung. Lass uns zurückfahren und einen Abstecher in die Wendestraße 26 machen. Ich will sehen, wo genau die Tote gewohnt hat.«
...
Anna knallte wütend die Tür der Polizeidienststelle hinter sich zu. So eine Unverschämtheit. Dieser fettleibige Beamte mit seiner schmierigen siebziger Jahre Haartolle hatte sie die ganze Zeit dämlich angegrinst und ihr dann erzählt, dass geistig und körperlich gesunde Erwachsene das Recht haben, ihren Aufenthaltsort selbst zu bestimmen, und zwar ohne diesen ihren Freunden oder Angehörigen mitteilen zu müssen. Das war eine schöne Belehrung! Der Polizeibeamte hatte ihr unmissverständlich das Gefühl gegeben, dass insbesondere abgelegte Ex-Freundinnen nicht zu den Personen gehörten, die der Aufenthaltsort von Martin im Entferntesten etwas anging. Darüber hinaus leitet die Polizei erst dann die Fahndung ein, wenn tatsächlich eine begründete Gefahr für Leib und Leben vermutet werden kann.
Anna verstand nicht, warum niemand verstehen wollte, dass Martin niemals ohne Handy und Portemonnaie verschwinden würde. Dieser dämliche Polizeibeamte hatte ihr doch tatsächlich geraten, noch einmal drei Wochen abzuwarten. In den meisten Fällen würden sich solche Dinge dann von alleine klären. Sie konnte es nicht fassen!
Mit schnellen Schritten ging sie zurück zu ihrem Auto. In einer halben Stunde wollte sie sich mit Emily treffen. Sie hatte es eilig.
...
Zehn Minuten später standen Oliver und Klaus vor dem Haus der Toten in der Wendestraße, Nummer 26. Es war ein kleines uraltes, aber gut erhaltenes Häuschen. Von hier aus hatte man einen wunderschönen Blick auf den alten Zonser Mühlenturm, der sich keine zehn Meter von ihnen entfernt aus dem Boden erhob. Sie blickten auf das Klingelschild. Die Tote hatte hier ganz alleine gelebt. »Wollen wir einen Blick hineinwerfen?«, fragte Klaus.
Oliver überlegte kurz. Reizen würde es ihn schon, sich kurz in ihrer Wohnung umzusehen. Aber wahrscheinlich war es besser, auf die Spurensicherung zu warten. Hans Steuermark würde ihnen den Hals umdrehen, wenn sie auf eigene Faust die Tür aufbrechen würden. Stattdessen schlug Oliver vor, kurz über den Zaun zu klettern, um in den kleinen Garten hinter dem Haus zu gelangen. Das entsprach zwar auch nicht den Dienstvorschriften, aber Oliver dachte sich, dass es jedenfalls nicht so schlimm sei, wie die Haustür aufzubrechen.
Vorsichtig stiegen die beiden über den Zaun und schlichen leise auf dem schmalen Pfad hinter das Haus. Nur gut, dass es noch so früh am Tag war, sonst hätte ein neugieriger Nachbar sie sicherlich beobachtet. Hinter dem Häuschen befand sich ein kleiner, von alten Pflanzen umgebener Garten. Er war praktisch nicht einsehbar, selbst um diese Jahreszeit nicht, wo die Bäume kein Laub mehr trugen.
Es roch nach Verwesung. Oliver hielt die Nase in die Luft und versuchte herauszufinden, aus welcher Richtung der Geruch kam. Er ging in Richtung der kleinen Terrasse und spürte, wie der Geruch immer intensiver wurde. Er blickte zur Terrassentür und bemerkte, dass sie einen kleinen Spalt offen stand.
»Klaus, komm mal hier herüber. Ich habe was entdeckt.«
Klaus, der sich gerade an dem kleinen Gartenhäuschen im hinteren Teil des Gartens zu schaffen machte, hielt kurz inne und kam dann mit ein paar schnellen Schritten zu Oliver herüber. »Riechst du das auch?«
»Ja, stinkt nach Müll, der seit Tagen nicht rausgebracht wurde.« »Sieht so aus, als wäre unsere Tote schon seit ein paar Tagen nicht mehr in ihrem Haus gewesen.«
»Ja, entweder hat der Mörder sie schon Tage zuvor entführt und irgendwo anders eingesperrt oder wir haben sie erst so spät gefunden. Es kann doch sein, dass sie schon länger als einen Tag im Rhein gelegen hat. Das wäre auch nicht unwahrscheinlich.«
Oliver nickte. Klaus hatte Recht. Um diese Jahreszeit war die Fähre am Rhein nicht gut besucht, außerdem verlangsamte sich die Verwesung bei diesen niedrigen Temperaturen stark. Die Leiche war vom Wasser stark aufgequollen. Ihnen blieb nur übrig, die Ergebnisse der Autopsie abzuwarten. Eines war in jedem Fall klar, die Tote hatte ihr Haus nicht freiwillig verlassen. Der Mörder war über die Terrassentür eingedrungen und hatte die schon etwas in die Jahre gekommene Christiane Stockhaus für immer von hier fortgeholt.
...
Eine Woche später hatten Oliver und Klaus den Studenten Martin Heuer, der sich die Unterlagen zu dem Zonser Puzzlemörder aus dem Kreisarchiv ausgeliehen hatte, immer noch nicht erreicht. Weder in der Universität noch in seiner Wohnung war er bisher angetroffen worden. Es war zwar etwas ungewöhnlich, aber in Anbetracht der Umstände hatte Hans Steuermark vor einer Stunde beschlossen, die Fahndung nach Martin Heuer einzuleiten. An der Universität war sich das Studentensekretariat nicht sicher, ob und wann ein von Martin Heuer beantragtes Auslandssemester stattfinden würde. Zwar lag der genehmigte Antrag vor, aber es fehlten die konkreten Zeitangaben. Neben dem alten Archivar aus dem Kreisarchiv war Martin Heuer bisher der einzige Verdächtige, der für die Mordtaten in Frage kam. Die andere Studentin namens Isabella Kirchner wurde vorgestern von Oliver und Klaus befragt und hatte ein handfestes Alibi vorzuweisen.