II.

Vor fünfhundert Jahren

 

 

Bastian war der jüngste und klügste von den sechs Söhnen des Zonser Müllers. Obwohl er groß und kräftig gebaut war und sich hervorragend als Müller geeignet hätte, unterrichtete der Pfarrer ihn schon früh im Lesen und Schreiben. Bastian erwies sich als gelehriger und kluger Schüler. Sowohl der Pfarrer als auch der Befehlshaber der Zonser Stadtwache waren begeistert von seiner Gabe, Rätsel zu lösen und so geschah es, dass Bastian Ende des 15. Jahrhunderts in die Stadtwache von Zons aufgenommen wurde und von Stund an für das kriminelle Gesindel sowie für Mord und Betrug verantwortlich war. Zons war ein friedliches, kleines Städtchen. Verschlafen lag es zwischen Köln und Düsseldorf am Rhein. Eigentlich geschah in diesem Örtchen nie etwas. Doch als der Erzbischof Friedrich von Saarwerden vor fast hundert Jahren, im Jahre 1372, den Rheinzoll aus der viel größeren Schwesterstadt Neuss nach Zons verlegte und bereits ein weiteres Jahr später diesem Ort die Stadtrechte verlieh, zogen auch allerlei Kriminelle hierher. Seitdem war es nicht mehr so sicher wie vorher und immer öfter kam es zu Überfällen und Diebstählen. Der Erzbischof ließ zum Schutze der Stadt eine riesige Mauer mit einem großen Zollturm und zahlreichen Wehrtürmen errichten. Die Mauer sah von hoch oben aus wie ein überdimensionales Trapez. Mindestens an jeder Ecke befand sich ein Wehrturm. Die Türme wurden von der Bevölkerung auch scherzhaft als Pfefferbüchsen bezeichnet, denn sie waren im oberen Teil mit kleinen Fensterchen versehen, aus denen man bei einem Überfall auf die Stadt allerlei Gestein und Pech auf die Angreifer hinunterwerfen oder »pfeffern« konnte. Die Mühle von Zons befand sich an der südwestlichen Ecke der Stadtmauer. Von hier aus hatte Bastian es nicht weit bis zum kleinen Marktplatz und zur Kirche, wo er sich beinahe wie zu Hause fühlte. Denn der Pfarrer war längst wie ein zweiter Vater für ihn geworden. Er gehörte mit seinen 23 Jahren jetzt zu den ehrbarsten Bürgern von Zons und bald würde er verheiratet sein.

Erst vor ein paar Wochen hatte er es endlich gewagt, seiner Marie einen Antrag zu machen. Sie war die Tochter des Bäckermeisters und wohnte im Haus direkt am Zollturm. Er kannte sie fast sein ganzes Leben lang und schon als kleiner Junge wusste er, dass sie die Frau an seiner Seite sein würde.

 

 

...

 

 

Ihr Kopf fühlte sich schwer an, fast so als hätte sie ein ganzes Fass Wein alleine ausgetrunken, doch sie konnte sich nicht erinnern, auch nur einen einzigen Becher getrunken zu haben. Warme Flüssigkeit lief über ihr Gesicht und über ihren Mund. Als sie ihre Zunge ausstreckte und sich die rauen Lippen ableckte, spürte sie einen metallischen Geschmack in ihrem Mund. Sie wollte die Hände bewegen, doch es ging nicht. Eine Welle der Panik durchfuhr ihren Körper und sie wollte schreien, doch stinkende klobige Hände schoben sich in Sekundenschnelle auf ihren Mund und erstickten jeden Laut im Keim. Wo war sie? Wer war dieser stinkende Kerl? Verwunderung waren die letzten Gedanken, die Elisabeth in ihrem jungen Leben hatte.

 

 

...

 

 

Bastian träumte von der Mühle seines Vaters. Laut rieben die Mahlsteine der Mühle aufeinander. Dröhnen und lautes Hämmern drangen an den Rand seines Bewusstseins. Tonnen reinen weißen Mehls kamen unten im ersten Geschoss der Mühle an und wurden dort direkt in die großen Leinensäcke gefüllt. Er hob einen der prall gefüllten Säcke auf seine kräftigen Schultern und lud ihn auf den Pferdewagen vor der Mühle. Das Dröhnen der Mahlwerke wurde immer lauter und plötzlich war dieses Hämmern wieder da. Irgendetwas stimmte nicht. Hoffentlich ging das Mahlwerk nicht kaputt. Mit einem Ruck fuhr er hoch und bemerkte, dass er gar nicht unten in der Mühle war. Es war dunkel und er lag in seinem Bett. Er hatte geträumt. Unten an der Tür hämmerte jemand wie verrückt und rief seinen Namen. Was war passiert? Mit einem Schlag war Bastian hellwach und lief nach unten zur Tür. Wernhart, sein Freund von der Stadtwache, stand völlig außer Atem vor der Tür. »Wir haben Elisabeth gefunden. Mein Gott, komm schnell Bastian. Sie ist tot. Ich habe sie kaum erkannt, so schlimm ist sie zugerichtet.«

Bastian zog sich in Windeseile an und lief Wernhart hinterher. Sie rannten die Mühlenstraße entlang, bogen dann rechts in die Schlossstraße ein und gelangten so an die Stadtmauer direkt hinter dem Schlossplatz. Dort unterhalb des ersten Wehrturms konnte Bastian eine hängende Gestalt erkennen. Im ersten Augenblick dachte er, es handle sich um einen übergroßen schlaffen Mehlsack, doch dann schob ein plötzlicher Windstoß die Kapuze der Gestalt herunter. Sie hatte keine Haare mehr. Ihr Körper war an nur einem Arm aufgehängt und die Schulter war ausgekugelt. Dadurch pendelte der Körper schlaff im Wind hin und her. Der zweite Arm war nicht zu sehen. Nur die gefesselten Füße lugten unter dem riesigen dunklen Stoffumhang, in den sie eingehüllt war, hervor. Die Stadtwache hatte bereits mehrere Fackeln aufgestellt, doch es war trotz des hellen Vollmondes sehr dunkel. »Nehmt sie doch von der Kette herunter!«, rief Bastian der Stadtwache zu. »Wernhart, lauf du hinüber zum Arzt. Sag ihm, dass wir Elisabeth gleich zu ihm bringen. Ich möchte wissen, was mit ihr passiert ist.« Er prägte sich den Tatort genau ein und zeichnete eine kleine Skizze vom Opfer und der Kette, an der sie hing, in sein Notizbuch. Es war seine erste Seite. Wieso musste so ein Unglück eigentlich in den ersten drei Monaten seiner Amtszeit geschehen? Seine Aufgabe war es doch, die Stadt sicher zu machen und genau solche scheußlichen Taten von vornherein zu verhindern. Die arme Elisabeth lag mittlerweile auf dem Karren. Bastian trat näher an sie heran. Genauer konnte er sie sicherlich erst bei Tageslicht untersuchen. Trotzdem leuchtete er ihren Körper mit einer Fackel ab. Ihre Hände und Füße waren schmutzig. Ihre Fingernägel waren schwarz vor Dreck. Die Haare waren ihr komplett vom Schädel geschoren und die Kopfhaut wies grässliche Verletzungen auf. Fast sah es so aus, als hätte jemand mit einem Messer ein blutiges Muster in ihre Kopfhaut geritzt.

Bundle Puzzlemörder Erntezeit Zwilling Flügel
COVER.xhtml
Section0001.html
Section0002.html
Section0003.html
Section0004.html
Section0005.html
Section0006.html
Section0007.html
Section0008.html
Section0009.html
Section0010.html
Section0011.html
Section0012.html
Section0013.html
Section0014.html
Section0015.html
Section0016.html
Section0017.html
Section0018.html
Section0019.html
Section0020.html
Section0021.html
Section0022.html
Section0023.html
Section0024.html
Section0025.html
Section0026.html
Section0027.html
Section0028.html
Section0029.html
Section0030.html
Section0031.html
Section0032.html
Section0033.html
Section0034.html
Section0035.html
Section0036.html
Section0037.html
Section0038.html
Section0039.html
Section0040.html
Section0041.html
Section0042.html
Section0043.html
Section0044.html
Section0045.html
Section0046.html
Section0047.html
Section0048.html
Section0049.html
Section0050.html
Section0051.html
Section0052.html
Section0053.html
Section0054.html
Section0055.html
Section0056.html
Section0057.html
Section0058.html
Section0059.html
Section0060.html
Section0061.html
Section0062.html
Section0063.html
Section0064.html
Section0065.html
Section0066.html
Section0067.html
Section0068.html
Section0069.html
Section0070.html
Section0071.html
Section0072.html
Section0073.html
Section0074.html
Section0075.html
Section0076.html
Section0077.html
Section0078.html
Section0079.html
Section0080.html
Section0081.html
Section0082.html
Section0083.html
Section0084.html
Section0085.html
Section0086.html
Section0087.html
Section0088.html
Section0089.html
Section0090.html
Section0091.html
Section0092.html
Section0093.html
Section0094.html
Section0095.html
Section0096.html
Section0097.html
Section0098.html
Section0099.html
Section0100.html
Section0101.html
Section0102.html
Section0103.html
Section0104.html
Section0105.html
Section0106.html
Section0107.html
Section0108.html
Section0109.html
Section0110.html
Section0111.html
impressum-tolino.xhtml