X.
Vor fünfhundert Jahren
Bastian staunte nicht schlecht über den riesigen Bauernhof, den Dietrich Hellenbroich sein Eigen nannte. Zwei riesige Scheunen, mehrere Ställe sowie ein Haupt- und drei Nebenhäuser für die Angestellten befanden sich um einen riesigen Innenhof herum angeordnet. Der Hof machte einen gepflegten Eindruck, obwohl der Mörder Dietrich Hellenbroich jetzt schon seit mehreren Wochen nicht mehr zu Hause war. Er fragte sich, wer den Hof in seiner Abwesenheit führte und in diesem Moment trat, wie zu einer Antwort, ein stämmiger alter Mann aus einem der Ställe hinaus. »Seid gegrüßt Fremder, was kann ich für Euch tun?« Bastian sah den Alten an. Er war für sein Alter wirklich noch sehr kräftig, doch er war vollkommen blind. Seine Augen waren fast völlig weiß. Nur ein ganz leichter dunkler Schimmer ließ erkennen, dass diese Augen früher einmal braun gewesen sein müssen. Sein Haar auf dem Kopf war noch voll, aber komplett ergraut. Auch seine Augenbrauen waren hellgrau gefärbt und so wie er mit wehendem Haar und diesen blinden Augen, mit einem langen Knüppel in der rechten Hand, vor Bastian stand, erinnerte er ihn an einen Magier. Bastian hatte noch nie einen Magier aus der Nähe gesehen. Er kannte sie nur aus der Ferne von Gauklermärkten, wenn er sich als Knabe heimlich angeschlichen hatte, um etwas von der Zauberei mitzuerleben. Seine Mutter verbot ihm stets, sich auf Jahrmärkten herumzutreiben. Sie hielt alle Jahrmarktsgestalten für böse und teuflische Geschöpfe, die einen mit ihren Tränken und Zaubersprüchen vergiften und Flüche auf den Hals hetzen wollten. Tatsächlich kannte Bastian eine solche Gestalt aus Zons. Die Frau wohnte in der Nachbarschaft und war angeblich von einem Jahrmarktszauberer dazu verflucht worden, eine alte Jungfer zu werden. Und tatsächlich war sie uralt geworden, aber niemals hatte ein Freier um ihre Hand angehalten, obwohl sie in jungen Jahren eines der schönsten Mädchen von Zons gewesen sein muss. Seine Mutter hatte ihm die Geschichte dieser armen Jungfer jedenfalls fast jeden Abend erzählt und so hatte Bastian im Laufe seiner Kindheit eine unerklärliche Furcht vor Jahrmärkten, Hellsehern, Gauklern und Zauberern entwickelt. Und der Alte, der hier vor ihm stand, hätte ein echter Magier sein können, doch Bastian war auf einem Bauernhof und so beruhigte er seinen Herzschlag und grüßte den Alten freundlich zurück. »Mein Name ist Bastian Mühlenberg. Ich gehöre zur Stadtwache von Zons und bin auf der Suche nach dem Bauern und Mörder Dietrich Hellenbroich. Er ist auf seiner Gefangenenüberführung von Köln nach Neuss für eine Nacht in Zons gefangen gehalten worden. Leider konnte er aus dem Juddeturm entfliehen und ein Mädchen aus Zons ermorden. Ich bin auf der Suche nach Hinweisen, weil wir den Mörder unbedingt wieder einfangen müssen, bevor ihm ein weiteres Mädchen zum Opfer fällt. Könnt Ihr mir helfen?« Der Alte spürte, wie seine Knie weich wurden und schließlich nachgaben. Mit einem lauten Seufzer sank er, die Hände vor sein Gesicht haltend, in sich zusammen. »Oh nein, Dietrich. Nicht auch noch in Zons. Ich habe dir doch immer gesagt, dass dies eine heilige Stadt ist, die du nicht entweihen darfst.«
»Was hat das zu bedeuten? Heilige Stadt Zons?«, fragte Bastian den alten Mann, während er ihm unter die Arme griff und stützend ins Haupthaus begleitete. »Hat man Euch denn nicht erzählt, dass Dietrich Hellenbroich ein weiteres Mädchen auf dem Gewissen hat?«
»Nein. Die Wachsoldaten aus Köln haben alles durchsucht und hier fast jeden Stein umgedreht, aber von einem toten Mädchen aus Zons haben sie kein Sterbenswörtchen erzählt!«, antwortete der alte Mann, während er mühsam einen Becher Wasser an seine Lippen führte. »Puh!«, er spie das Wasser aus. »Marta! Ich brauche etwas Stärkeres! Bring mir einen Becher Wein. Von dem Guten und für meinen jungen Gast hier ebenfalls. Jetzt beeil Dich schon, Weib!«, krächzte er und die Magd sputete sich.
»Wisst Ihr«, begann der Alte an seinem Weinbecher nippend erneut, »Dietrich ist ein ganz besonderer Junge. Eigentlich ist er eine gute Seele, aber sein Vater hat den kleinen Engel, den er einst in seinem Herzen trug, aus ihm herausgeprügelt und seitdem lebt der Teufel in seinem Inneren und brennt alles Gute und jede Herzlichkeit aus ihm heraus. Ich fürchte, Dietrichs Seele ist nicht mehr zu retten. Sie ist längst fortgegangen. Schon vor sehr langer Zeit.« Der Alte sah Bastian mit seinen blinden Augen lange an und Bastian hatte plötzlich nicht mehr das Gefühl einem Blinden gegenüberzusitzen. Unsicher nahm er einen großen Schluck Wein. Der Alkohol brannte seine Kehle hinunter und ein sanfter Schleier von Benommenheit fing an, ihn ganz sachte einzuhüllen. »Woher kennt Ihr Dietrich?«, fragte er den Alten.
»Ich kenne ihn von klein auf. Damals hatte er sich als junger Bursche in meine Vorführung geschmuggelt. Ich bin schließlich einmal ein berühmter Hellseher gewesen und habe sogar Fürsten mit meinen Künsten beglücken dürfen. Doch als ich einmal einen von den hohen Herren die Wahrheit über seine angetraute Ehefrau verriet, ließ man mich blenden. Seitdem bin ich nicht mehr geeignet für das Jahrmarktsleben und das viele Herumreisen. Ich brauche einen festen Ort, an dem ich mich blind zurechtfinden kann. Und so kam es, dass Dietrich mich vor über zehn Jahren gefragt hat, ob ich sein erster Hofaufseher werden möchte und ich habe sein Angebot dankbar angenommen. Zwar wusste ich zuerst nicht, ob ich mit meiner Blindheit dem Hof dienlich sein könne, aber die Dinge haben sich hier gut eingespielt.«
»Kein Wunder, dass Dietrich einen blinden, alten Hellseher, vor dem sich die restliche Dienerschaft fürchtete, zu sich genommen hat!«, dachte Bastian. Sicher hatten alle Angst davor, verflucht zu werden, wenn sie Dietrichs brutale Machenschaften nicht blind und gehorsam duldeten. Als könnte der Alte seine Gedanken lesen, sprach er, »Wisst Ihr, Bastian Mühlenberg, Ihr habt eine reine Seele und Ihr seid voller Liebe. Deshalb werde ich Euch ein Geheimnis erzählen, wenn Ihr Euch als würdig erweist.«
»Was für ein Geheimnis ist das und was meintet Ihr vorhin mit der heiligen Stadt Zons?«, wollte Bastian wissen. »Ach, die heilige Stadt Zons, das kann ich Euch sagen«, flüsterte der Alte und beugte sich zu Bastian hinüber. Warmer und nach Alkohol stinkender Atem drang in Bastians Nase ein und er versuchte, den aufkommenden Ekel zu verscheuchen und nicht vor der Nähe des Alten zurück zu schrecken. »Seine Mutter stammte aus Zons. Deswegen ist es für ihn eine heilige Stadt!«, jetzt lachte der Alte lauthals und richtete sich wieder auf.
»Bereitet mir die Ehre, Bastian Mühlenberg, und bleibt über Nacht. Heute ist Vollmond im Januar und ich möchte Euch gerne etwas zeigen«, mit diesen Worten erhob er sich abrupt und ließ Bastian alleine in der Stube sitzen. »Was für ein merkwürdiger Alter«, dachte Bastian. Jedenfalls hatte sein erster Eindruck ihn nicht getrübt, tatsächlich war er leibhaftig einem Magier oder Hellseher begegnet. Auf den ersten Blick wirkte der Mann sehr unheimlich, aber bisher konnte Bastian nicht behaupten, dass er in irgendeiner Weise von ihm bedroht oder gar verflucht worden wäre. Sollte er tatsächlich über Nacht bleiben? Wenn seine selige Mutter dies wüsste, sie würde sich im Grabe umdrehen. Er glaubte nicht, dass der Alte ihm wirklich weiterhelfen konnte, doch Bastian war sehr neugierig darauf, jenes Geheimnis, von dem der Alte vorhin sprach, zu erfahren. Was meinte er überhaupt damit, dass Bastian sich als würdig erweisen müsse? Er war weder ein Ritter, noch von edler Geburt und musste sich somit auch nicht im üblichen Sinne als würdig erweisen. Wenn er über Nacht bliebe, würde der Alte versuchen, ihn zu ermorden? Das hätte er schon mit dem Becher Wein tun können. Bastian hatte ihn ganz ausgetrunken, doch er fühlte sich angenehm entspannt. »Nein«, überlegte er, »wenn der Alte mich umbringen wollte, hätte er bereits eine gute Gelegenheit dazu gehabt.«
Er schüttelte langsam den Kopf. »Also, was soll es«, dachte Bastian, »bleibe ich also über Nacht!«
Ein paar Minuten später kam Marta, die Magd, herein und fragte Bastian, ob sie ihm sein Zimmer zeigen könne. Er ging mit ihr hinüber in das linke Nebenhaus und ließ sich dankbar auf sein Bett fallen, als sie das Zimmer wieder verlassen hatte.
...
»He, wacht auf. Es ist so weit!«, rief der alte Hellseher und klopfte dabei laut an Bastians Zimmertür. Bastian rieb sich noch etwas benommen die Augen und sprang dann aus dem Bett. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er eingeschlafen war. Sein Magen knurrte. Es war schon dunkel draußen und er hatte wohl das Abendmahl verpasst. Er öffnete die Tür und der Alte hielt ihm Brot mit Butter und Käse und einen Becher Wein hin. »Hier, nehmt das zur Stärkung!«, sagte der Alte und drückte ihm das Essen in die Hand. »Ihr habt so tief und fest geschlafen, dass ich Euch nicht eher wecken wollte. Aber jetzt ist es an der Zeit, sonst verpassen wir ein großartiges Schauspiel heute Nacht.«
Dankbar nahm Bastian das Essen und den Wein an und verschlang es gierig und mit Heißhunger. Der Alte klopfte ihm auf den Rücken.
»Guter Junge, wenn ich gewusst hätte, wie hungrig Ihr seid, hätte ich Euch vielleicht lieber doch zum Abendmahl wecken sollen!«
»Woher wisst Ihr, dass ich bereits alles gegessen habe, wenn Ihr doch blind seid?«, fragte Bastian verwundert.
»Ehrlich gesagt muss man bei Eurem Geschmatze nicht sehen, sondern nur hören können, um zu wissen, dass der Teller leer ist!«, antwortete der Alte und lächelte dabei.
»Kommt jetzt. Wir gehen hinüber zu der Wiese hinter dem Hof und ich zeige Euch mein magisches Rechteck. Wenn Ihr anschließend noch hungrig seid, könnt Ihr in die Küche gehen. Dort gibt es noch allerlei Brot und Wein.« Mit diesen Worten schob er Bastian zur Tür hinaus und hakte sich bei ihm unter. Sie gingen schnellen Schrittes über den Innenhof und gelangten durch eine kleine Pforte hindurch, hinaus auf eine große Wiese. Dort waren bereits vier große Fackeln in einem Rechteck oder besser in einem rechtwinkligen Trapez aufgestellt. Jede Fackel steckte ungefähr fünf bis sieben Fuß von der anderen entfernt im gefrorenen Gras. Es war eiskalt. Die Wiese war von einer leichten Schneeschicht bedeckt und reflektierte das Licht des Vollmondes. Es war beinahe taghell. Jedenfalls hätte man leicht glauben können, dass es nicht mitten in der Nacht war, sondern sich um einen trüben und bewölkten Herbsttag handelte. Bastian rieb sich fröstelnd die Hände und sah zu dem Alten hinüber. Dieser kramte in seinem Umhang und holte nach einigem Suchen zwei Feuersteine und Zunder hervor. »Hier, schlagt mir einen Funken und zündet die vier Fackeln an.«
Bastian gehorchte und schlug die beiden Steine so lange aufeinander, bis die Funken sprühten und der Zunder anfing zu glühen. Er hielt ein Stückchen Reisig in die Glut und wartete, bis ein Flämmchen entstand. Dann zündete er die erste Fackel an und zog sie aus dem Boden, um die drei anderen Fackeln an der Ersten zu entzünden. Als er alle Fackeln angezündet hatte, steckte er die erste Fackel wieder an die Stelle, aus der er sie herausgezogen hatte.
»Wozu braucht Ihr Licht, wenn Ihr sowieso nicht sehen könnt? Außerdem ist der Vollmond so hell, dass man alles ohne zusätzliche Fackeln wunderbar erkennen kann.«
»Ihr werdet für mich sehen, Bastian Mühlenberg. Sagt mir genau, wie viele Fuß die Fackeln voneinander entfernt sind.«
Bastian schritt den Abstand zwischen der ersten und zweiten Fackel ab und kam genau auf sechs Fuß Abstand. Er drehte sich im rechten Winkel nach links und schritt den Abstand zwischen der zweiten und dritten Fackel ab. Der Abstand betrug sieben Fuß. Wieder drehte er sich nach links und kam auf acht Fuß Abstand zwischen der dritten und vierten Fackel. Dann wiederholte er abermals die Linksdrehung und schritt zurück zur ersten Fackel. Diesmal kam er auf neun Fuß Abstand.
»Sehr gut!«
Der Alte klatschte begeistert in die Hände.
»Und jetzt führt mich zu der ersten Fackel!«
Bastian nahm den Alten an seine Seite und brachte ihn zur ersten Fackel. Der Alte forderte ihn auf, sich mit ihm neben die Fackel auf die Wiese zu legen. »Was seht Ihr, Bastian Mühlenberg? Was sehen Eure jungen Augen?«
Bastian blinzelte, vom hellen Schein der Fackel geblendet. »Ich sehe nur das Feuer der Fackel. Was sonst soll ich sehen?«, fragte er den Alten fröstelnd.
»Konzentriert Euch. Ignoriert den Schein des Feuers und lasst Eure Augen durch ihn hindurchblicken. Was seht Ihr am Himmel?« Bastian konzentrierte sich, doch er konnte nichts sehen. Seine Augen begannen zu tränen. Doch bereits einen kurzen Moment später gewöhnten sie sich an die Helligkeit der Fackel, sodass er plötzlich den Nachthimmel über sich wahrnehmen konnte.
»Ich sehe die Sterne über mir am Himmel«, sagte Bastian zu dem Alten, ohne dabei seinen Blick vom Sternenhimmel abzuwenden. Der Alte nickte.
»Habt Ihr das Gefühl, dass der hellste Stern direkt über Euch ist?«
»Ja, er scheint direkt über der Fackel zu sein.«
»Sehr gut, dann legt Euch jetzt neben die anderen Fackeln und wiederholt alles, was wir gerade getan haben. Sagt mir, ob der hellste Stern direkt über der Fackel schwebt.«
Bastian tat, wie ihm geheißen und tatsächlich hatte er wieder das Gefühl, dass einer der vielen Sterne sich plötzlich aus dem Sternenhaufen über ihm hervorhob und direkt über der Fackel schwebte. Er wusste am Ende gar nicht mehr, ob es wirklich so war oder nur eine Täuschung, weil seine Augen die Helligkeit der Fackeln überwinden mussten. Jedenfalls schien über jeder Fackel ein großer heller Stern und Bastian konnte letztendlich am Sternenhimmel ein Trapez aus vier hellen Sternen erkennen. Es sah genauso aus, wie die Fackeln am Boden, welche ebenfalls ein rechtwinkliges Trapez bildeten. »Dies ist mein magisches Viereck!«, sprach der Alte heiser und blickte Bastian mit seinen blinden Augen an. »Dies ist das Geheimnis der Orientierung. Bastian Mühlenberg, Ihr werdet Euch nie wieder bei Nacht verlaufen, egal ob Ihr auf der Erde weilt oder auf See. Dieses Viereck ist immer bei Vollmond sichtbar und es entspricht immer dem Abstand der Fackeln. Wenn Ihr diese Punkte als Orientierung nutzt, findet Ihr immer wieder zurück.«
»Interessant«, sagte Bastian, der immer noch nicht ganz verstand, worauf der Alte eigentlich hinaus wollte.
»Wie sind die Mauern von Zons gebaut? Denkt nach!«, sagte der Alte immer noch zu Bastian blickend. Da fiel es Bastian ein. Die Mauern von Zons bildeten ebenfalls ein rechtwinkliges Trapez. Und in diesem Moment fiel es ihm schlagartig wie Schuppen von den Augen.
»Ihr meint, auch die Mauern von Zons sind im Verhältnis 6 zu 7 zu 8 zu 9 errichtet worden?«
»Richtig«, flüsterte der Alte.
»Ich habe es Dietrich gezeigt. Schon vor sehr langer Zeit. Er war immer ganz verrückt danach, insbesondere nachdem er herausgefunden hatte, dass seine Mutter aus Zons stammte. Er wollte sich dort bei Vollmond auf einen der Türme stellen und den hellsten Stern beobachten. Er glaubte, dann könnte er noch etwas von seiner Mutter spüren, die bei seiner Geburt verstorben war. Ich selbst habe ihm gesagt, dass bei Vollmond nichts unmöglich sei, wenn man nur genug Opfer bringen würde.«
»Und Ihr meint, solch ein Opfer könnte ein Mädchen aus Zons sein?«, fragte Bastian mit bebender Stimme.
»Ich habe immer versucht, Dietrich auf den richtigen Pfad zurückzubringen. Aber es war bereits zu spät. Ich befürchte, Ihr habt Recht, Bastian. Ich denke, er hat erst das Mädchen ermordet und sich dann auf einen Eckpunkt auf die Zonser Mauer gestellt. Ich hoffe nur, dass er bekommen hat, was er wollte. Nur dann könnt Ihr sicher sein, dass er weiter zieht und kein neues Unheil in Eurer kleinen Stadt anrichtet.«
»Aber dann wäre er sicher nach Hause zurückgekehrt und Ihr hättet ihn längst wieder gesehen. Habe ich Recht?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte der Alte nachdenklich. »Ich hoffe, dass Ihr falsch liegt. Doch ich kann es wirklich nicht sagen. Dietrich ist ein zu komplizierter Kopf.«
Mit diesen Worten erhob sich der Alte und forderte Bastian nickend auf, es ihm nachzutun. Mittlerweile war es tiefste Nacht und der kalte Frost hatte sich tief in ihre Körper gefressen. Das lange Liegen auf der Wiese hatte ihre Muskeln steif gemacht und so bereitete es den beiden einige Mühe, zum Hof zurückzukehren. Bastian spürte bei dieser Kälte keinerlei Hunger mehr und so ging er direkt auf sein Zimmer zurück und verfiel in einen tiefen Schlaf.
...
Am nächsten Morgen machte Bastian sich in aller Frühe auf den Rückweg nach Zons. Der Weg würde ihn einen halben Tag kosten. Er verabschiedete sich höflich von dem alten Hellseher und bedankte sich für die Dinge, die er ihm gezeigt hatte. Bastian war sich noch nicht ganz sicher, ob ihm das magische Sternentrapez, welches der Alte ihm enthüllt hatte, auch wirklich weiterhelfen konnte. Gewiss, er konnte jetzt bei Vollmond auf jedem der vier Zonser Türme die Wachen verstärken und hoffen, dass Dietrich Hellenbroich dort auftauchen würde. Aber er konnte sich nicht vorstellen, dass der Mörder sich so leicht fangen ließ. Einen Versuch war es sicher wert, denn schließlich konnte Dietrich nicht ahnen, dass Bastian sich die Mühe machen würde, den alten Hellseher aufzusuchen. Und er rechnete wahrscheinlich auch nicht damit, dass der Alte ihm das Geheimnis über das Sternentrapez offenbart hatte. Bastian erinnerte sich an die Zeichen, die der armen Elisabeth in die Kopfhaut geritzt wurden. Es waren eine »1« und eine »6« und der Buchstabe »K«. Dies waren auch genau die ersten drei Zeichen, die der Mörder in die Holztür des Juddeturms eingeritzt hatte. Der alte Hellseher hatte ihm zwar den Zusammenhang zwischen den Zahlen »6-7-8-9« aufzeigen können, jedoch keinerlei Verbindung zu dem Buchstaben »K«. Das Gleiche galt für die Ziffer »1«. Im Sternentrapez kamen weder Buchstaben noch die »1« vor. Nein, so richtig schlau wurde er aus diesen ganzen Zeichen nicht. Aber Bastian nahm sich vor, direkt in der nächsten Nacht auf jeden einzelnen der Zonser Türme zu steigen und in den Sternenhimmel zu blicken. Außerdem würde er sich einen genauen Stadtplan von Zons besorgen und die Wachen würden ebenfalls verstärkt werden. Mit diesen Gedanken im Kopf ritt er schnurstracks zurück nach Zons.
...
Ihre Augen blickten hinauf zum Mond. Es war Vollmond. Eigentlich war er wunderschön anzusehen, mit dieser satten, gelben Farbe und den kleinen, dunklen Flecken, die sich zu einem lächelnden Gesicht formten, sobald man die Augen nur lange genug darauf fixierte. Doch Gertrud konnte die Schönheit dieser hellen und winterklaren Nacht nicht wahrnehmen. Ihre Körperhülle war mittlerweile fast so eiskalt wie das dunkle Rheinwasser, welches an ihrem Körper bis hin zu ihrer Kehle in kleinen regelmäßigen Abständen hoch schwappte. Schmatzend eroberte sich der Rhein mit jeder neuen Welle ein Stückchen mehr von ihrem Körper. Ein paar Mal schon hatte sie sich verschluckt, weil eine Welle ihren Mund erreichte und sie den Kopf nicht nach oben drehen konnte. Sie wusste schon in dem Moment, als er sie überwältigte, dass es dieser Dietrich Hellenbroich sein musste. Er war Stadtgespräch in den letzten Wochen gewesen und hatte vor einem Monat Elisabeth Kreuzer geschändet und ermordet. Alle glaubten, dass er längst auf Nimmerwiedersehen aus Zons verschwunden war, auch sie selbst. Außerdem wohnte sie am anderen Ende der Stadt, direkt vor dem Mühlenturm. Das Feldtor, eine große Doppeltoranlage mit Zugbrücke, war nur wenige Meter entfernt und rund um die Uhr von der Stadtwache besetzt, da dies der einzige Zugang zu Zons vom Westen her war. Und so fing sie nach ein paar Wochen der Vorsicht wieder an, die Tür zum Haus offen stehen zu lassen. Bis vor zwei Tagen hatte sie immer den großen Riegel davor geschoben. Doch irgendwann war sie es einfach leid, das schwere Ding jedes Mal hochzuheben. Der Mord an Elisabeth war langsam aus ihrem Gedächtnis gewichen und eine scheinbare Sicherheit legte sich wie ein Schleier über ihre Angstinstinkte und so sah sie die Gefahr nicht kommen. Er hatte sich mitten am Tag in ihr Haus geschlichen und ihr aufgelauert, als sie in der Speisekammer die Zutaten für das Mittagsmahl auswählen wollte. Er fesselte sie und rammte ihr ein raues Stück Stoff so tief in die Kehle hinein, dass sie schon hoffte, daran zu ersticken, bevor er sich an ihr vergehen konnte. Doch er bemerkte, dass sie kaum Luft bekam, und lockerte den Knebel so, dass sie gerade noch atmen konnte. Dann rasierte er ihr in der Speisekammer die Haare ab und von diesem Moment an war sie sich sicher, dass ihr dasselbe Schicksal wie Elisabeth bevorstand. Nachdem sie ihre wunderschönen langen blonden Locken verloren hatte, flößte er ihr literweise Rotwein ein. Anfangs musste sie sich übergeben, aber jedes Mal schlug er sie so brutal, dass sie sich schließlich fügte und den Brechreiz unterdrückte. Irgendwann verlor sie das Bewusstsein und erst im kalten Rheinwasser kam sie wieder zu sich. Wieder erreichte eine Welle schmatzend ihren Mund und sie versuchte gerade wieder verzweifelt den Kopf nach oben wegzudrehen, als sie plötzlich ein Stückchen aus dem Wasser gezogen wurde. Eine schreckliche Vorahnung verdunkelte ihr Herz. Er blickte sie aus schwarzen und unerbittlichen Augen an. Sie konnte sich nicht bewegen und hatte nicht die geringste Chance, sich zu wehren. Angst und Panik sorgten dafür, dass ihr Körper vor Adrenalin zu sprengen drohte. Ihr Körper war halb erfroren und so bemerkte sie dankbar, dass sie fast nichts spürte, als er brutal in sie eindrang und mit widerlichen, grunzenden Geräuschen seinen Höhepunkt erreichte. Sie spürte nur noch, wie er ihr dabei die Luft an der Kehle abschnürte. Zuerst reagierte sie panisch, doch dann wurde ihr bewusst, dass ihr Leiden jede Sekunde zu Ende war und so versuchte sie sich in den letzten Momenten ihres Lebens daran zu klammern, dass Gott sie gleich zu sich ins Paradies holen würde.