III.

Gegenwart

 

 

März

 

Dr. Joachim Neuenhaus blätterte interessiert durch die Unterlagen. In den letzten Tagen hatte er zahlreiche Bewerbungen erhalten, doch die wenigsten taugten auch nur im Ansatz für seine Zwecke. Dabei hatte er in seiner Anzeige klar und deutlich das gewünschte Geschlecht, die notwendige Altersspanne und den erforderlichen Gesundheitszustand beschrieben. Er seufzte. Die Leute konnten heutzutage einfach nicht richtig lesen. Sobald man eine attraktive Summe in Aussicht stellte, probierte es jeder, der sich - aller offensichtlichen Schwachstellen zum Trotz - für geeignet hielt. Das war ein gesellschaftliches Phänomen der Neuzeit, die jedem Bürger suggerierte, dass alles möglich war. Der berühmte Sprung vom Tellerwäscher zum Millionär stachelte die Menschen an und nun bildeten sie sich ein, sie wären zu »Höherem« befähigt und müssten es einfach nur hartnäckig versuchen. Erst aus dem letzten Stapel von Bewerbungen hatte er mehrere Männer herausgefischt, dabei hatte er ausdrücklich nach weiblichen Probanden gesucht. Die vorletzte Bewerbung fing zwar, was das Geschlecht anging, gut an, endete jedoch mit dem völlig falschen Alter. Dr. Neuenhaus warf einen Blick auf seine Anzeige.

»Probanden für neue klinische Langzeitstudie gesucht! Geeignet sind gesunde Frauen im Alter von 18-35 Jahren. Sie erhalten eine attraktive Aufwandsentschädigung von bis zu fünfzehntausend Euro.« stand dort in fettgedruckten Buchstaben. Er schüttelte den Kopf. Wie konnte eine Bewerberin von neununddreißig Jahren davon ausgehen, für seine Studie geeignet zu sein? Sie hätte doch von vornherein wissen müssen, dass sie es niemals in die engere Wahl schaffen würde. Eine reine Papierverschwendung. Doch die angegebene Summe von fünfzehntausend Euro lockte alle möglichen Leute an, in der Hoffnung auf das schnelle Geld.

Sein Blick fiel zurück auf das Foto einer fünfundzwanzigjährigen Blondine. Ihr Name war Saskia Heinermann. Bereits auf dem Bild wirkte sie gestresst. Dr. Neuenhaus schob unbewusst die randlose Brille auf dem Nasenrücken hoch und las weiter. Eher kräftig gebaut und für eine Frau ziemlich groß. Immerhin brachte sie es auf 1,78 Meter Körpergröße. Zudem war sie Mutter eines kleinen Jungen, der bereits in den Kindergarten ging und somit völlig normal entwickelt schien. Dies deutete schon einmal daraufhin, dass es keine schwerwiegenden genetischen Defekte gab. Ihr abgebrochenes Studium ließ auf Intelligenz und gleichzeitig wenig Durchhaltevermögen schließen. Sie könnte genau die richtige Persönlichkeit für seine Studie sein. Aufgeregt nahm Dr. Neuenhaus den Telefonhörer in die Hand.

»Laden Sie bitte Frau Saskia Heinermann für die nächste Sprechstunde ein.«

 

 

...

 

 

Einen Monat später - April

 

Seit mittlerweile vier Wochen, die ihr schier ewig erschienen, hatte Saskia ein ungutes Gefühl. Doch sie wollte keinesfalls auf das Geld verzichten. Außerdem hoffte sie, durch die Behandlung ihre Angstzustände loszuwerden. Sie war furchtbar nervös. Das Wartezimmer von Dr. Joachim Neuenhaus war wie immer gut gefüllt. Im Gegensatz zu ihr wirkten die anderen Probandinnen allesamt völlig gelassen. Saskia spürte ein Kribbeln auf den Handflächen und schlug diese reflexartig auf die Oberschenkel. Das musste endlich aufhören. Dr. Neuenhaus faselte jedes Mal etwas von harmlosen Nebenwirkungen, aber Saskia konnte es langsam nicht mehr aushalten. Das ständige Kribbeln verursachte eine große Unruhe in ihrem Inneren, die sie längst nicht mehr kontrollieren konnte. Mit weit aufgerissenen Augen dachte sie an die letzte Nacht, die so wunderbar begonnen hatte. Ihre gutaussehende Eroberung hatte sich nicht nur als großzügiger Trinkgeldspender, sondern auch als exzellenter Liebhaber herausgestellt. Aber wie so oft in letzter Zeit war sie am Morgen allein und in ihrem eigenen Bett aufgewacht. Sie hatte keine Ahnung, wie sie überhaupt dorthin gelangt war. Ganz offensichtlich hatte sie einen Filmriss. Die entscheidende Stelle zwischen den Szenen war gelöscht. Sie konnte sich gut daran erinnern, dass sie in seiner Wohnung gelandet waren. Ebenso hatte Saskia keinerlei Zweifel an dem, was dort in seinem Schlafzimmer passiert war. Noch immer konnte sie eine wohlige Wärme zwischen ihren Oberschenkeln spüren. Dann endete die Erinnerung abrupt. Der nächste Filmschnipsel, der sich vor ihrem inneren Auge abspielte, fand in ihrem eigenen Bett statt. Mit einem weinenden Nils, der an ihrem Ärmel zupfte und sie unsanft aus dem Schlaf riss. Warum war sie aus diesem fremden großzügigen Schlafzimmer eines gutaussehenden wohlhabenden Mannes verschwunden, der ihr vielleicht eine Zukunft hätte bieten können? Was war passiert, dass sie gegangen war?

Saskia seufzte. Sie würde es wohl nie herausfinden. Entweder er tauchte wieder in der Kneipe auf, in der sie kellnerte, oder es blieb bei einem One-Night-Stand. Auf keinen Fall würde sie ihm hinterherlaufen oder gar zu ihm nach Hause fahren. Schließlich musste es einen triftigen Grund für das Verlassen seiner Wohnung gegeben haben. Das Kribbeln auf Saskias Handflächen verstärkte sich wieder und für einen kurzen Moment tauchte ein mittelalterlicher Burggraben vor ihrem inneren Auge auf. Wellen schlugen klatschend gegen die Mauern. Dann öffnete sich die Wartezimmertür und ihr Name wurde aufgerufen. Die Vision war so schnell weg, wie sie gekommen war. Entschlossenen Schrittes betrat Saskia das Sprechzimmer von Dr. Neuenhaus. Sie hatte einiges mit ihm zu bereden.

 

 

...

 

 

Kommissar Oliver Bergmann traute seinen Augen nicht. Vor ihm lag eine vollkommen durchnässte männliche Leiche, die ihm irgendwie bekannt vorkam. Krampfhaft versuchte er sich daran zu erinnern, woher er diesen Mann kannte.

»Wie war der Name des Toten noch einmal?«

»Torsten Schniewald. Wie oft fragst du das noch?« Klaus schüttelte genervt den Kopf.

»Ich kenne ihn irgendwo her. Mir fällt nur nicht mehr ein, wo ich ihn schon einmal gesehen habe.« Oliver rieb sich das stopplige Kinn. Sie waren fast mitten in der Nacht zu diesem Fall gerufen worden und für eine Rasur war keine Zeit mehr geblieben. Seine schwarzen Haare standen strubbelig von allen Seiten des Kopfes ab und unter den blauen Augen befanden sich dunkle Ringe, die von einer schlaflosen Nacht herrührten. Oliver lächelte verträumt. In letzter Zeit hatte er oft schlaflose Nächte. Dies lag allerdings nicht am Stress, sondern vielmehr an seiner Freundin Emily. Sie schafften es, erst stundenlang zu reden und sich anschließend die ganze Nacht zu lieben. Allein der Gedanke an Emilys weiche Haut trieb Oliver einen wohligen Schauer über den Rücken. Er begehrte sie mehr als jede andere Frau zuvor, und obwohl sie ihm mit ihrem kratzbürstigen, italienischen Temperament das Leben oft schwer machte, liebte er sie aus tiefstem Herzen. Oliver seufzte und schob die Gedanken an Emily erst einmal beiseite. Er musste sich auf diesen neuen Mordfall konzentrieren. Es war nicht der erste Mord in Zons und sein Chef Hans Steuermark war bereits hochgradig nervös. Zons war eine kleine Stadt, die direkt am Rhein in der Mitte zwischen den beiden Großstädten Düsseldorf und Köln lag. Sie war ein Touristenmagnet, da sie im Rheinland die einzige so gut erhaltene mittelalterliche Stadt war. Jährlich kamen über eine halbe Million Touristen nach Zons und die Stadtverwaltung konnte kein schlechtes Marketing gebrauchen. Jeder Mord war eine Katastrophe für den friedlichen Ruf des Städtchens. Solche Nachrichten verschreckten nicht nur Touristen, insbesondere die Familien, sondern zogen auch eine ganz bestimmte Art von Schaulustigen an, die aus Sicht der Stadtverwaltung nicht zur Zielgruppe für Zons gehörten.

Oliver konzentrierte sich auf den Toten. Er lag auf dem Rücken ausgestreckt auf seinem Bett. Laken und Bettwäsche waren klitschnass, genauso wie der Leichnam. Das Haar klebte wie Brei am Kopf des Toten. Die Augen waren halb geöffnet und Oliver fühlte sich unangenehm beobachtet von den starren Pupillen, die unter den Lidern zum Vorschein kamen. Torsten Schniewald war ohne Zweifel ein attraktiver Mann. Sein kantiges Kinn kam trotz des Todes, der die Muskeln am Hals erschlaffen und den Kiefer kraftlos nach unten hängen ließ, noch deutlich zum Vorschein. Die gerade, recht zierliche Nase und die hohen symmetrischen Wangenknochen vollendeten sein ansehnliches Gesicht. Darüber konnten auch die jetzt verzerrten Gesichtszüge nicht hinwegtäuschen.

Auf dem Boden um das Bett herum befanden sich zahlreiche Wasserlachen, wobei eine Spur bis ins Badezimmer führte. Oliver folgte der Spur und achtete darauf, möglichst nichts zu verändern. Für die Forensiker konnte jeder Fleck Aufschluss über den Tathergang geben, und Oliver war jetzt schon auf die Ergebnisse gespannt.

»Er wurde in der Badewanne ertränkt.«

Die Stimme von Ingrid Scholten, der Leiterin der Spurensicherung, riss Oliver aus seinen Gedanken. Erstaunt schaute er hoch. Scholten sah wie aus dem Ei gepellt aus. Wie schaffte sie das nur um diese Uhrzeit, dachte Oliver neidisch, während er ihre perfekt frisierten Haare bewunderte. Nicht eine einzige Strähne saß an der falschen Stelle. Scholtens aufrechte Körperhaltung und ihr fester Blick signalisierten Erfahrung und Stärke. Sie war die graue Eminenz der Spurensicherung, der seit über zwanzig Jahren, so schien es zumindest, kein einziger Hinweis entging. Oliver arbeitete gerne mit ihr zusammen.

»Das Wasser ist übergelaufen.« Ingrid Scholten zeigte auf die Wasserlachen, die sich rund um die Badewanne gebildet hatten.

»Im Abfluss und am Rand der Wanne habe ich Haare des Opfers gefunden.« Sie griff nach einer Plastiktüte und hielt sie Oliver direkt vors Gesicht. »Und hier sind noch ein paar abgebrochene Nägel des Toten. Leider ist die Emaille der Badewanne von zu guter Qualität, sodass sich dort keinerlei Kratzspuren nachweisen lassen. Die Kratzer sind im Grunde auch nicht so wichtig, denn ich bin mir sicher, dass er sich kaum gewehrt hat. Zumindest bis zu einem bestimmten Punkt.« Ingrid Scholten steckte die Plastiktüte zurück in die Box, in der alle Beweismaterialien für die spätere Laboruntersuchung gesammelt wurden.

»Was heißt bis zu einem bestimmten Punkt?« Oliver grübelte über ihren letzten Satz nach.

»Sagt Ihnen der Name Sir Henry Spilsbury etwas?«

Oliver schüttelte den Kopf.

»Dann vielleicht George Smith?«

»Nein, wieso?«

»George Smith wurde 1915 in England als Badewannenmörder bekannt. Der Gerichtsmediziner Henry Spilsbury konnte ihm den Mord an seinen drei Ehefrauen nachweisen. Er ließ mitten im Gerichtssaal während der Hauptverhandlung ein für damalige Verhältnisse gewagtes Experiment durchführen. Sir Henry Spilsbury ließ mehrere trainierte Schwimmerinnen in eine mit Wasser gefüllte Badewanne steigen. Die Wanne war viel kürzer als die Körpergröße der Schwimmerinnen und alle glaubten, man könnte unmöglich darin ertrinken. Doch Henry Spilsbury zog einfach nur die Füße der Frauen vom Fußende der Badewanne her in die Höhe, sodass der Kopf unter Wasser gelangte. Alle Frauen verloren augenblicklich das Bewusstsein, ohne sich zu wehren, und das, obwohl sie auf den Angriff vorbereitet waren. Das ist der Punkt, den ich meine.« Frau Scholten hielt kurz inne und ließ die Worte auf Oliver wirken.

»Der plötzliche Wassereinfall durch Mund und Nase führt über einen reflektorisch ausgelösten Blutdruckabfall zu sofortiger Bewusstlosigkeit. Unser Mörder muss diesen Trick gekannt haben, denn ein großer Mann wie unser Toter wäre sonst niemals in einer so kleinen Badewanne ertrunken.«

Oliver dachte über Ingrid Scholtens letzten Satz nach und ging zurück ins Schlafzimmer. Tatsächlich konnte er an der Leiche kaum Spuren von Gewalt entdecken. Der Hals wies nur leichte bläuliche Flecken auf, die auch durch den beginnenden Verwesungsprozess im Wasser entstanden sein konnten. Oliver schlüpfte in seine Gummihandschuhe und hob den rechten Arm des Toten an. An der Unterseite befanden sich blaue Streifen. Die stammten mit Sicherheit nicht nur vom Wasser. Ingrid Scholten, die ihm gefolgt war, beugte sich hinunter und begutachtete die Stellen.

»Das könnten Druckstellen vom Badewannenrand sein.« Ihre behandschuhten Finger fuhren hinunter zur Hand. »Auch hier sind leichte Druckstellen zu erkennen. Wahrscheinlich hat er sich am Wannenrand festgehalten oder abgestützt.« Sie richtete sich auf und betrachtete den großen Mann auf dem Bett. »Ich frage mich, wie er hierher ins Schlafzimmer gelangt ist. Zu diesem Zeitpunkt war er mit Sicherheit bereits tot.«

Oliver nickte. »Der Mörder muss sehr kräftig gewesen sein. Selbst für einen durchtrainierten Mann war es ein fast unmöglicher Kraftakt, die Leiche alleine zu tragen.«

»Vielleicht wurde er nicht getragen, sondern irgendwie anders transportiert«, warf Klaus ein, der immer noch mit der Beweisaufnahme im Schlafzimmer beschäftigt war. Er deutete auf einen Sessel in der Ecke.

»Der Sessel dort ist zwar aus Leder und konnte sich deshalb nicht mit Wasser vollsaugen, aber trotzdem kann man diverse Stellen erkennen, an denen Wasser eingedrungen ist.« Er hielt kurz inne. »Der Sessel hat übrigens Rollen«, fügte er dann bedeutungsvoll hinzu.

Oliver wusste sofort, was sein Partner Klaus meinte.

»Also gut. Der Mörder hat ihn mit Hilfe des Sessels aus dem Badezimmer ins Schlafzimmer geschoben, aber wie ist er überhaupt aus der Badewanne herausgekommen? Die Wanne ist ganz schön tief und es bedarf einer Menge Kraft, um den schweren Körper herauszuheben.«

»Nun«, mischte sich Ingrid Scholten ein, »solange die Wanne mit Wasser gefüllt war, ließ sich der Körper bis zur Wasseroberfläche recht leicht anheben. Aber das letzte Stück vom Rand bis in den Sessel muss extrem schwer gewesen sein. Ich werde mir im Labor die Druckspuren an der Leiche genauer ansehen. Vielleicht hat er eine Hebevorrichtung benutzt.«

»Dann war der Mörder sehr gut vorbereitet.«

Ingrid Scholten nickte. »Ja, aus meiner Sicht handelt es sich hier um einen wohlgeplanten Mord. Das war kein Affekt. Sonst wäre der Mörder geflüchtet und hätte das Opfer in der Badewanne liegen lassen.«

»Ich frage mich sowieso, warum der Täter sein Opfer auf das Bett gelegt hat.« Oliver kniff die Augen zusammen. »Es sieht auch nicht so aus, als hätte er eine Art Ritual durchgeführt.« Zumindest konnte Oliver auf den ersten Blick weder Kerzen noch Symbole erkennen, die darauf hingedeutet hätten. In der ganzen Wohnung gab es keinerlei Kampfspuren. Selbst die Wohnungstür war nicht gewaltsam aufgebrochen worden. Dieser Mord gab Oliver eine Menge Rätsel auf. Zunächst wollte er jedoch herausfinden, woher er den Toten kannte.

 

 

...

 

 

Saskia rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Dr. Neuenhaus war noch immer nicht aufgetaucht. Die Schwester hatte sie vom Wartezimmer ins Sprechzimmer befördert, aber jetzt saß sie hier alleine und wartete erneut. Genervt starrte sie auf die Armbanduhr. Dabei fiel ihr das Meerjungfrauentattoo ins Auge, welches sie seit vielen Jahren begleitete. Noch immer waren die Farben kräftig. Besonders gut gefiel Saskia der smaragdgrün schillernde Schwanz. Er war so detailliert tätowiert, dass er fast echt wirkte. Fokussierte sie nur lange genug die Augen auf den Schwanz, verschwammen die Konturen und die Meerjungfrau begann, sich schlängelnd zu bewegen. Schnell kniff Saskia die Augen zusammen. Jetzt war es genug mit den Sinnestäuschungen. Sie würde diese klinische Studie abbrechen. Ganz egal, ob sie das Geld nun bekam oder nicht. Seit sie mit den Nahrungsergänzungsmitteln begonnen hatte, die eigentlich Stress reduzieren sollten, hatte sie ihr inneres Gleichgewicht verloren. Es war eigentümlich und sie konnte sich die Veränderungen in ihrem Körper nicht wirklich erklären, aber irgendetwas ging in ihr vor. Etwas, das sie nervös machte.

Die Tür ging auf und Dr. Joachim Neuenhaus trat ein. Wie immer sah er perfekt aus. Seine hellblauen Augen blickten sie freundlich durch die randlose Brille an, die seinem Gesicht Weisheit und Kompetenz verlieh. Das blonde, schüttere Haar war kurzgeschoren. Darunter lugte sonnengebräunte Kopfhaut hervor. Überhaupt wirkte er braungebrannt und erholt.

»Guten Morgen, Frau Heinermann. Wie geht es Ihnen?«

Eine Reihe weißer, makelloser Zähne wurde von seinen lächelnden Lippen entblößt. Saskias Entschlusskraft schwand bei seinem Anblick von Sekunde zu Sekunde. Eigentlich wollte sie sich über die schlimmen Nebenwirkungen beschweren, doch stattdessen antwortete sie: »Ganz gut, danke.«

»Das freut mich.« Dr. Neuenhaus strahlte sie an und blätterte in ihrer Akte. »Sie waren das letzte Mal vor drei Tagen hier und klagten über eine leichte Unruhe. Hat sich das verbessert?«

Saskia rutschte auf dem Stuhl herum und rieb sich zerstreut die Hände.

»Also um ehrlich zu sein, ist es noch schlimmer geworden.«

Dr. Neuenhaus hob die Augenbrauen und sah sie mit einem durchdringenden, besorgten Blick an.

»Haben Sie das Beruhigungsmittel eingenommen, das ich Ihnen mitgegeben habe? Sie wissen, dass es äußerst wichtig für mich ist, dass sie die Studie bis zum Ende mitmachen. Mein neuentwickeltes Medikament könnte eine Revolution bei der Behandlung von Stresserkrankungen auslösen und sie sind eine so hervorragend geeignete Probandin.«

»Ich habe es vergessen«, stammelte Saskia mit gesenktem Blick. Das war eine Lüge. Sie hatte sich vor der Einnahme die Nebenwirkungen durchgelesen und die Tabletten anschließend in die Toilette geworfen. Nur das für die Studie wichtige Nahrungsergänzungsmittel nahm sie regelmäßig ein.

»Aber das war doch nur ein leichtes Beruhigungsmittel. Nichts Schlimmes. Es würde Ihnen einfach nur ein wenig Ruhe verschaffen und das eigentliche Medikament wird dadurch nicht beeinflusst.«

Saskia blickte erschrocken auf. Wie konnte er nur ihre Gedanken lesen? Dr. Neuenhaus nickte verständnisvoll und öffnete eine Schreibtischschublade.

»Hier ist noch eine Packung. Am besten, Sie nehmen direkt eine Tablette ein.« Schon hielt er ihr ein Wasserglas hin.

Saskia schluckte. Was sollte sie jetzt tun? Mit einem verkrampften Lächeln nahm sie Dr. Neuenhaus das Wasserglas ab und schob die kleine weiße Pille zwischen die Lippen. Vielleicht sollte sie die Tablette in der Innentasche ihrer Wange verstecken und nur vortäuschen, sie zu schlucken.

Dr. Neuenhaus holte währenddessen den Beipackzettel aus der Schachtel und las laut vor: »Nebenwirkungen bei der Einnahme von Johanniskraut: Selten können allergische Hautreaktionen, Magen-Darm-Beschwerden, Müdigkeit oder Unruhe auftreten. Selten kann es - vor allem bei hellhäutigen Personen - durch erhöhte Empfindlichkeit der Haut gegenüber intensiver UV-Bestrahlung (Sonnenbäder, Höhensonne, Solarium) zu Missempfindungen (Kribbeln, Schmerz- und Kälteempfindlichkeit, Brennen) auf der Haut kommen.« Er legte den Zettel vor Saskia hin.

»Sind es diese Nebenwirkungen, die sie beunruhigen? Selten bedeutet, dass weniger als einer von tausend behandelten Patienten davon betroffen ist.«

Saskia wich Dr. Neuenhaus‘ Blick aus. Sie kannte die Beschreibung auf dem Beipackzettel. Schließlich hatte sie ihn mehrfach gelesen. Plötzlich entschlossen öffnete sie die Lippen und ließ die Tablette auf die flache Hand fallen.

»Ich fühle mich doch schon so unruhig. Sie haben diese Nebenwirkung gerade selbst vorgelesen.« Herausfordernd starrte sie den Arzt an, der sie mit seinem Blick durchbohrte.

»Frau Heinermann, wir haben das doch schon mehrfach besprochen. Sie nehmen freiwillig an meiner klinischen Studie teil. Niemand zwingt Sie dazu.« Dr. Neuenhaus sprach betont ruhig und lehnte sich dabei vor. »Ich habe ein Nahrungsergänzungsmittel entwickelt, welches durch eine vollkommen neuartige Zusammensetzung die Stressresistenz des menschlichen Körpers erheblich verbessern könnte. Der Hauptbestandteil ist eine Kombination aus Vitaminen der B-Gruppe und einem Granatapfelextrakt. Wir wollen ein Mittel entwickeln, welches sich praktisch durch das komplette Fehlen von Nebenwirkungen auszeichnet und dadurch einer breiten Masse der Bevölkerung zugänglich gemacht werden kann. Wenn diese Studie Erfolg zeigt, könnte mein Medikament bald in jeder Apotheke erhältlich sein. Aber dafür brauche ich Ihre Unterstützung. Frau Heinermann, haben Sie doch etwas Geduld mit sich selbst. Geben Sie dem Mittel etwas mehr Zeit und Sie werden sich bald besser fühlen. Der Körper benötigt mehrere Wochen, um die leeren Vitamindepots aufzufüllen.« Er hielt inne und blickte Saskia freundlich an.

»Wollen Sie mir denn nicht ein wenig vertrauen?« Seine Lippen zogen sich zu einem breiten, wohlwollenden Grinsen auseinander. Saskias Mundwinkel zuckten. Dr. Neuenhaus war ein attraktiver Mann und seine mitfühlende Art ließ ihr Herz für einen Moment schneller schlagen. Sie war hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, sich einfach wieder normal zu fühlen und dem Wunsch, ihm zu helfen. Beflissene Stimmen in ihrem Kopf plapperten wild durcheinander und sie hatte Schwierigkeiten, sich auf eine von ihnen zu konzentrieren. Während eine Stimme, die wie ihre Mutter klang, ihr dringend dazu riet, die Studie abzubrechen, plädierte eine andere dafür, dieses harmlose Nahrungsergänzungsmittel weiterzutesten. Auch ihr Herz sprach eine eindeutige Sprache. Sie mochte Dr. Joachim Neuenhaus weit mehr, als sie sich selbst eingestehen wollte. Saskia blickte hinab auf die Tablette, die immer noch auf ihrer Handfläche lag, und traf eine Entscheidung. Mit einer schnellen Bewegung führte sie die Hand zum Mund und nahm anschließend einen kräftigen Schluck Wasser, mit dem sie das Johanniskraut hinunterspülte.

Dr. Neuenhaus nickte ihr aufmunternd zu.

»Wir sehen uns übermorgen wieder.« Zum Abschied reichte er ihr die Hand und Saskia verließ das Sprechzimmer.

Nachdem die Tür zugeschlagen war, sank Dr. Neuenhaus in sich zusammen. Dort draußen saßen noch zwanzig weitere Probandinnen, die alle unterschiedlichste Beschwerden aufwiesen. Monatelang hatte er für die Durchführung der Studie gekämpft, sich mit den Sponsoren und den Tücken der Arzneimittelgesetzgebung auseinandergesetzt, und jetzt drohte seine Studie zu scheitern. Nach seinen Berechnungen hätte längst eine deutlich sichtbare Stressresistenz bei allen Probandinnen eintreten müssen. Doch die meisten der Frauen spürten keinen Unterschied. Dabei hatte er sie so gründlich ausgewählt. Er biss sich auf die Unterlippe und öffnete sein Statistikprogramm auf dem Computer. Akribisch protokollierte er die von Saskia Heinermann beschriebenen Symptome und drückte anschließend die Entertaste. Der Computer begann surrend zu arbeiten. Eine Sanduhr zeigte Dr. Neuenhaus an, dass die Auswertung noch Zeit benötigte. Ungeduldig pochte er mit dem Zeigefinger auf die Schreibtischplatte. Die Sanduhr verschwand und er schob die Brille hoch. Hatte er es doch geahnt: Saskia Heinermann stand immer noch auf Platz eins der am besten geeigneten Probanden. Er musste sie unbedingt im Studienprogramm behalten.

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