VIII.
Vor fünfhundert Jahren
Angewidert drehte Bastian den Kopf weg. Er spürte, wie sich sein Mageninhalt den Weg in die Mundhöhle bahnte. So etwas hatte er noch nie gesehen. Vor ihm lag ein zerfetzter Leichnam. Der Kopf war vollkommen zertrümmert. Knochensplitter lagen herum und die Hirnmasse war überall verteilt. Vom Gesicht des Toten war nichts übriggeblieben außer einer blutigen breiigen Masse, die allenfalls erahnen ließ, worum es sich handelte. Der Körper des Mannes, soviel schloss Bastian aus den Resten der Kleidung, hatte ebenfalls einiges abbekommen. Der Brustkorb war eingetreten und einige Rippen ragten kahl aus dem mit Blut gefüllten Krater heraus. Die linke Körperhälfte war regelrecht in den Boden gestampft worden. Der Arm lag abgetrennt, aber dafür unversehrt einen guten halben Meter vom Rest des Körpers entfernt. Die Hand umklammerte den Gurt einer Ledertasche, die recht wertvoll aussah und ebenfalls unbeschädigt war.
Bastian zückte sein Notizbuch und skizzierte die Lage des Toten detailliert. Dies tat er immer, damit er sich im Nachhinein an alles erinnern konnte. Manchmal legte man zu Beginn eines Falles die falschen Schwerpunkte und ließ sich von irreführenden Spuren ablenken. Dann war Bastians Notizbuch ein neutraler Ratgeber, der die Fakten von Anfang an aufzeichnete und Bastian einen Schritt zurück in eine andere Richtung erlaubte.
Rundherum um den Leichenfund war das Erdreich aufgewühlt und zertrampelt. Bastian schnipste mit dem Finger und bedeutete Wernhart, parallel zu ihm die Spuren in Richtung Norden abzulaufen. Es war der Weg nach Stürzelberg. Je weiter sie sich von der Leiche entfernten, desto klarer waren die Radspuren einer Kutsche und die Hufe zweier Pferde zu erkennen.
»Er wurde von der Kutsche und den Zugpferden niedergetrampelt.« Bastian ging in die Knie, um die Spuren genauer zu betrachten.
»Seht, die Hufspuren sind sehr deutlich. Nur gut, dass es nicht geregnet hat.« Wernhart fuhr mit den Fingern den Rand der Abdrücke nach. »Das waren riesige Rösser. Warum ist der Mann der Kutsche nicht ausgewichen. Er hätte sie doch kommen sehen müssen?«
An Wernharts Frage war etwas Wahres dran. Bastian runzelte nachdenklich die Stirn. Der Weg zwischen Zons und Stürzelberg war stark bewandert. Ein Handelsreisender hatte sie in den frühen Morgenstunden alarmiert, als er genau auf dieser Strecke den Toten fand. Lange konnte die Leiche dort nicht gelegen haben. Es war abends schon lange hell und die Stadttore wurden erst mit Einbruch der Dämmerung geschlossen. Bastian konnte sich nicht vorstellen, dass jemand bei Licht an dem Leichnam vorbeikutschiert war. Das bedeutete, dass der Mann entweder mitten in der Nacht oder am frühen Morgen niedergetrampelt worden war. Doch warum war er unter die Räder der Kutsche geraten? Der Weg war breit genug und es wäre gerade an dieser Stelle kein Problem gewesen, auszuweichen. Bastian ging zu dem Punkt zurück, wo der Tote lag. Leider war der Boden nicht besonders weich und so konnte er keinerlei Fußabdrücke entdecken.
»Wisst Ihr schon, wer der Tote ist?« Die Stimme riss Bastian aus seinen Gedanken. Der Arzt Josef Hesemann, den Bastian hatte rufen lassen, beugte sich über den Leichnam und zupfte an den Resten der Kleidung herum.
»Nein.« Bastian zuckte mit den Achseln. »Sein Gesicht ist völlig entstellt. Wenn ihn niemand sucht, werden wir es vielleicht nie herausfinden.«
Josef stocherte weiter in der breiigen Masse des zertrümmerten Schädels herum. »Die Pferdehufe haben ihn mehrfach getroffen. Wäre er einfach nur unter die Räder der Kutsche geraten, hätte er vielleicht ein oder zwei Tritte abbekommen. Aber sein Schädel ist komplett zermatscht.« Josef fuhr sich nachdenklich durch die Haare. »Wenn Ihr mich fragt, wurde er absichtlich mit den Hufen malträtiert.«
»Er hätte sich einfach in die Büsche flüchten können.« Wernhart deutete mit einem Kopfnicken auf den Wegesrand, der dicht mit Buschwerk bewachsen war. Josef nickte und zückte ein scharfes Messer. Behutsam und ohne die kleinste Gefühlsregung schnitt er die Körpermitte des Toten auf. Bastian brach bei diesem Anblick kalter Schweiß aus. Er beschloss, lieber die Ledertasche des Toten zu durchsuchen, statt Josef weiter beim Sezieren der Leiche zuzusehen. Der Mann trug Kleidung aus recht einfachem groben Stoff, wie es nur die Ärmsten taten. Die wertvoll gearbeitete Ledertasche passte nicht dazu. Mit einiger Mühe löste Bastian den Riemen aus der blutleeren, kalten Hand. Die Finger waren dick und von grober Hornhaut überzogen. Die Nägel waren krankhaft gelb verfärbt und keiner der Finger war beringt.
»Lassen sich die Finger leicht aufbiegen?« Josef unterbrach seine Arbeit und richtete die Augen auf Bastian.
»Nein, so gut wie gar nicht. Warum?«, gab dieser zurück.
»Rigor mortis oder auch die Totenstarre setzt ein paar Stunden nach dem Tod ein und verschwindet erst wieder nach gut einem Tag.« Josef fuhr damit fort, den Toten aufzuschneiden. »Demnach ist er noch keinen ganzen Tag tot, wohl aber schon mehrere Stunden.«
Bastian erinnerte sich an den blauen Stofffetzen, den Josef aus der Faust der toten Martha geborgen hatte. Der Arzt hatte einen ganzen Tag warten müssen, bis sich die Totenstarre löste und er die Faust öffnen konnte.
»Könnt Ihr genauer eingrenzen, ob er letzte Nacht oder im Morgengrauen gestorben ist?« Jetzt war es Bastian, der innehielt und Josef anblickte. Dieser schüttelte den Kopf.
»Das Blut ist trocken und braun verfärbt. Das bedeutet, dass er schon einige Stunden tot ist. Der Körper ist so zerfetzt, dass mir auch die Totenflecken keine Auskunft geben können. Normalerweise lassen sie sich wenige Stunden nach Eintritt des Todes noch mit dem Daumen wegdrücken. Aber die Haut ist fast überall verwundet, sodass ich nicht viel erkennen kann.« Josef schüttelte abermals den Kopf. »Nein, ich kann Euch leider nicht genauer sagen, wann es passiert ist.«
Bastian gab sich mit der Antwort zufrieden. Er würde ohnehin die Stadtwache noch genauestens befragen und herausfinden, wer seit letzter Nacht das Feldtor im Westen passiert hatte. Dieses Stadttor führte auf die Weggabelung nach Stürzelberg. An eine Kutsche mit zwei Pferden würde sich jeder Soldat erinnern können, denn solche Fuhrwerke gab es nicht alle Tage. Außerdem war heute Sonntag und somit konnte es nicht allzu viele Besucher geben.
Bastian öffnete die Ledertasche und wurde enttäuscht. Sie war vollkommen leer. Nichts, was Aufschluss über die Identität des Toten oder seine Absichten hätte geben können. Er hatte noch nicht einmal den Mord an Martha aufgeklärt und nun stand er bereits vor dem nächsten Rätsel. Während Martha mit Sicherheit ertränkt worden war, war jetzt nicht einmal klar, ob es sich um einen tödlichen Unfall oder um Mord handelte. Das Einzige, was bisher für Letzteres sprach, war der völlig zertrümmerte Schädel des Toten, der mehrere offenbar absichtlich platzierte Pferdetritte abbekommen hatte.
»Das ist merkwürdig.« Josefs Stimme ließ Bastian aufhorchen. »Ich habe seinen Magen aufgeschnitten und dies hier gefunden.« Er hob seinen Zeigefinger in die Luft. Der Finger war schwarz.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Bastian aufgeregt.
»Das weiß ich auch noch nicht. Aber diese Substanz erinnert mich an etwas.« Der Arzt setzte ein nachdenkliches Gesicht auf. »Der Magen ist fast leer. Nur vergorene Weinreste und diese schwarze Substanz ...« Josef hielt den Zeigefinger unter die Nase und roch an der dunklen Masse, die ölig auf seiner Haut klebte.
»Modrig«, brummelte er in sich hinein. »Habt Ihr an dem unverletzten Arm blaue Flecken entdeckt? Irgendetwas, was darauf hindeutet, dass ihn jemand festgehalten oder vor die Kutsche gestoßen hat?«
Bastian betrachtete das abgetrennte Glied und schüttelte den Kopf. Die Haut wies keinerlei Gewaltspuren auf.
Der Arzt dachte angestrengt nach. Eine verheißungsvolle Stille trat ein, die weder Bastian noch Wernhart durchbrechen wollte. Josef war dabei, etwas Wichtiges herauszufinden. Bastian konnte es dem Arzt regelrecht ansehen. Und so hielt er inne und ließ die Frühlingssonne auf seine noch winterblasse Haut scheinen. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen. Eine Stimme drang in sein Ohr und flüsterte etwas. Bastian benötigte eine Weile, bis er begriff, was die Stimme sagte. Der Bote. Plötzlich fiel ihm wieder ein, dass August von einem Boten gesprochen hatte. In seinem Hirn blitzten die Verbindungen auf, die sich mit einem Mal zusammenfügten. Er starrte auf die leere Tasche. Wer führte schon eine leere Tasche mit sich? Jemand, der noch etwas abholen wollte oder bereits etwas abgegeben hatte. Nur ein Bote transportierte Dinge von einem Ort zum anderen. Aus diesem Grund war die Tasche des Mannes leer. Vor ihm könnte der Bote liegen, von dem August gesprochen hatte.
»Laudanum«, platzte Josef plötzlich heraus. »Ich erinnere mich wieder.« Er hielt seinen Zeigefinger abermals in die Luft. Vor langer Zeit hatte er in einem Kloster gelernt, wie dieses Mittel hergestellt wurde. Fast hatte er es vergessen, aber dieser einzigartige modrige Geruch hatte die Erinnerung wieder freigesetzt.
»Was ist das?, fragte Wernhart.
»Es stillt Schmerzen und ...«, Josef machte eine bedeutungsvolle Pause, »es trübt die Sinne.«
»Deshalb ist er der Kutsche nicht ausgewichen«, vollendete Bastian Josefs Satz. »Er war berauscht.«
...
Hugo von Spanheim kochte vor Wut. Mit hochrotem Kopf hielt er ein Säckchen mit Gulden in der rechten Hand. Das Gewicht war viel leichter als sonst. Schuld daran war sein Bote, der sich an der letzten Lieferung vergriffen hatte. Voller Wut warf er das Säckchen gegen die Wand. Klirrend rollten die Münzen über den Boden, doch Hugo schenkte ihnen keine Beachtung. Stattdessen drehte er sich um und kraulte dem schwarzen Gaul die buschige Mähne. Wenigstens auf ihn war Verlass. Es würde noch Tage dauern, bis das neue Elixier fertiggestellt war, und bis dahin musste er auf die Hälfte der ausgehandelten Gulden verzichten.
Hugo hatte den Verlust des Elixiers sofort bemerkt, als er die Tonrohre geleert hatte. Die Methode war einfach, der Bote steckte das Elixier auf der Innenseite der Stadtmauer in die Rohre und Hugo holte es von der anderen Seite wieder heraus. Ein in der Mauer verborgenes Fallrohr sorgte dafür, dass das Elixier weich und sicher in einem mit Stroh ausgefüllten Hohlraum landete, der sich ungefähr einen Meter über Kopfhöhe befand. Der Vorteil war, dass Hugo die Stadt auf diese Weise nicht betreten musste, um an das Elixier heranzukommen. Damit kein Verdacht auf ihn fiel, verbrachte er die Nächte, in denen Lieferungen fällig waren, im nahegelegenen Kloster Knechtsteden. Das Kloster war mit dem Pferd in einer halben Stunde gut erreichbar. Niemand würde auf die Idee kommen, dass er diese Strecke zurücklegte, nur um des Nachts nach Zons zurückzukehren.
Die große schwarze Kutsche war neu. Hugo hatte sie erst vor kurzem gekauft, samt der wunderschönen schwarzen Pferde. Das Geschlecht der von Spanheims besaß in der Gegend einige Ländereien und so war es für Hugo kein Problem gewesen, das Gefährt auf dem Hof einer seiner Cousinen unterzubringen. Das Gehöft war nur einen Katzensprung vom Kloster entfernt und Hugo konnte es Tag und Nacht betreten. Dieses Recht gehörte zum Familienkodex und sollte die Macht und den Reichtum seiner Sippe bewahren. Familien, deren Mitglieder sich gegenseitig bekämpften, waren früher oder später dem Untergang geweiht. Die Geschichte hatte dies immer wieder bestätigt und die von Spanheims wollten einem solchen Schicksal um jeden Preis entgehen.
Als Hugo den Verlust des Elixiers bemerkte, war ihm klar geworden, dass der Bote sterben musste. Es schien nur eine Erklärung für die verlorenen Flaschen zu geben. Der Bote hatte sie getrunken. Mit der Suchtwirkung des Elixiers war jede Zuverlässigkeit dahin. Der Bote würde mit jeder neuen Lieferung in Versuchung geraten, denn das Mittel war viel stärker als Wein. Es löste einen so starken Rausch aus, dass die Abhängigkeit schon nach dem Genuss eines einzigen Fläschchens einsetzte. Nur gut betuchte Herrschaften konnten sich diese Sucht auf Dauer leisten. Hugo schüttelte den Kopf. Er hätte den Boten für klüger gehalten. Abermals streichelte er über den langen, glänzenden Hals des massigen schwarzen Pferdes. Der Gaul schnaubte genüsslich und blähte die Nüstern.
Hugo hatte dem Boten außer sich vor Wut an der Weggabelung nach Stürzelberg aufgelauert. Es gehörte zu seinen Stärken, immer einen Schritt voraus zu sein. Bevor er den Mann mit Botendiensten für sich beauftragte, hatte er ihn wochenlang beobachtet. Er kannte jede seiner Gewohnheiten und so wusste von Spanheim auch, welchen Heimweg der Bote wählen würde. Die Morgendämmerung war bereits angebrochen, als sein Opfer an der Weggabelung auftauchte. Der Mann war anscheinend völlig im Rausch und ließ sich einfach überfahren. Viel zu einfach. Es hatte Hugos Wut nicht befriedigt und so hatte er den Schädel des Boten mit seinem Gaul so lange malträtiert, bis nichts als blutiger Brei übrig geblieben war. Erst dann konnte von Spanheim aufatmen.
Doch jetzt kam die Wut zurück. Ihm fehlte die Hälfte des Elixiers und einen neuen Boten musste er auch besorgen. Verzweifelt rieb er sich über das stoppelige Kinn. Eigentlich hätte der Bote bei der Menge an Rauschmittel auf der Stelle tot sein müssen. Er konnte nicht alles getrunken haben. Hugo hatte die Leiche gründlich durchsucht, aber die Ledertasche war leer gewesen. Ein Schauer fuhr ihm über den Rücken. Hatte der Mann ihn etwa betrogen? Er musste dem verschwundenen Elixier auf den Grund gehen.
»Komm Schwarzer, wir müssen zurück.« Aufmunternd klopfte er dem Pferd auf den Rücken und löste die Riemen von der Kutsche. Das Gefährt war jetzt zu auffällig. Er würde auf dem Rücken des schwarzen Rosses zurück nach Zons reiten und die Kutsche zurücklassen.
...
»Seid gegrüßt!« Hugo von Spanheim drosselte sein Pferd und ließ es auf der Stelle tanzen. Es war erschöpft von dem schnellen, pausenlosen Ritt. Zunächst hatte Hugo gehofft, dass der tote Bote noch unentdeckt geblieben war und er ihn noch einmal gründlich durchsuchen konnte. Schließlich war heute Sonntag und es dürften nicht viele Besucher auf dem Weg nach Zons sein. Doch als er an der Weggablung ankam, an der er dem Boten aufgelauert hatte, wurde er enttäuscht. Bastian Mühlenberg hatte die Hälfte des Weges bereits mit Reisigzweigen abgesperrt. Die Überreste des Boten waren längst auf einen Holzkarren geladen. Der Arzt Josef Hesemann stand über die Leiche gebeugt und machte sich an den Beinkleidern zu schaffen. Wernhart Tilmanns stand neben ihm und setzte ein grimmiges Gesicht auf, als er Hugo erblickte.
»Was ist geschehen?«, fragte Hugo scheinheilig.
Bastian Mühlenberg richtete sich zu voller Größe auf. Er war ein beeindruckender Hüne mit klugen braunen Augen, die nun auf ihn gerichtet waren und scheinbar direkt in sein Innerstes blickten. Unmerklich zuckte Hugo zusammen.
»Ein Unfall.« Bastian räusperte sich. »Woher des Weges?«
»Ich komme direkt aus dem Kloster Knechtsteden. Ihr wisst doch, dass ich mich ab und zu dorthin zurückziehe, um unserem Herrn näher zu sein.« Hugo bemühte sich um eine feste, arglose Stimme. Doch ein leichtes Zittern konnte er nicht verhindern. Schnell biss er die Zähne zusammen.
Eine unangenehme Pause entstand. Bastians Augen musterten ihn und blieben schließlich an seinem Pferd hängen.
»Euer Ross scheint erschöpft für eine so kurze Strecke.« Er trat näher und tätschelte den Hals des Tieres. Dann schwieg er und blickte Hugo an.
»Ich hatte es eilig und wollte die Morgenmesse von Pfarrer Johannes nicht verpassen«, log Hugo. Er spürte, wie ihm die Hitze in die Wangen schoss.
»Gibt es im Kloster keine Morgenmessen?« Bastian ließ nicht locker.
»Ich hatte es Pfarrer Johannes versprochen. Er ist ein alter Mann und für jede Hilfe dankbar.« Bei der Erwähnung des Pfarrers huschte ein warmer Ausdruck über Bastians Gesicht. Die Antwort schien ihm zu genügen.
»Ist Euch auf Eurem Weg eine Kutsche mit zwei Pferden begegnet?«
Hugos Augen weiteten sich entsetzt. Wie kam Bastian nur auf diese Frage? Hatte ihn etwa jemand beobachtet? Nervös kratzte er sich am Ohr.
»Nein. Heute ist Sonntag. Ich bin auf meinem Weg niemandem begegnet.« Dies war noch nicht einmal eine Lüge, trotzdem spürte Hugo, wie die Unsicherheit immer mehr in ihm hochstieg. Er umklammerte die Zügel seines Pferdes so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Erst als er Bastians Blick bemerkte, der seine Körperreaktionen genau zu beobachten schien, ließ er locker.
»Ich habe etwas gefunden.« Die Stimme des Arztes unterbrach die eingetretene Stille. Bevor Josef weiterreden konnte, schnitt Bastian ihm das Wort ab. »Darüber können wir gleich reden.«
Der Arzt hob verdutzt den Kopf und hielt inne. Dann nickte er und arbeitete schweigend weiter. Hugo stöhnte innerlich auf. Was auch immer der Arzt gefunden hatte, er konnte es nicht erkennen. Unmerklich drückte er seine Knie in die Seite des Pferdes und wollte ein paar Schritte näher an den Leichnam herankommen, doch Bastian ergriff die Zügel und führte sein Pferd weit um die Fundstelle herum.
»Ich möchte Euch nicht länger aufhalten, mein Freund.« Bastians Stimme hatte einen versöhnlichen Klang angenommen. »Bestellt Pfarrer Johannes die herzlichsten Grüße von mir.« Mit diesen Worten gab er dem Gaul einen Klaps auf das Hinterteil, worauf dieser in leichten Trab verfiel. Hugo hatte keine Gelegenheit, auch nur einen Blick auf den Fund des Arztes zu werfen. Sein Herz pochte bis zum Hals. Wenigstens ging Bastian Mühlenberg offenbar von einem Unfall aus. Wenn er ihm jedoch auf die Schliche kam, würde Hugo den Rest seines Daseins im Juddeturm fristen müssen. Wenn es ein Beweisstück gab, das ihn belastete, musste er es in die Hände bekommen und er wusste auch schon wie.
...
Verwundert blickte Bastian Hugo von Spanheim hinterher. Pfarrer Johannes hielt große Stücke auf ihn, doch Bastian mochte den Kerl nicht. Er stank nach Eitelkeit und Reichtum. Und so, wie er jetzt davonstob, hatte Bastian das Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht mit ihm stimmte. Er konnte es nicht beschreiben, doch eine innere Stimme sagte Bastian, dass von Spanheim log. Deshalb wollte Bastian ihn in dem Glauben lassen, dass der Tote durch einen Unfall umgekommen war. Von Spanheims Pferd schien völlig erschöpft, genau wie er selbst. Und erst die Neugier in seinem Blick, als Josef etwas an der Leiche entdeckt hatte.
»Was habt Ihr gefunden, Josef?« Bastian richtete seine Konzentration wieder auf den unbekannten Toten.
»Einen Ring.« Der Arzt hielt einen zierlichen Silberring in die Luft. »Ich habe ihn in seiner Tasche gefunden.«
Bastian nahm den Ring in die Hand und betrachtete ihn. Er war nicht besonders wertvoll. Die grob gehauene Inschrift war kaum zu entziffern. Bastian kniff die Augen zusammen und versuchte, die Buchstaben zu entschlüsseln. Mehr als ein großes M konnte er nicht erkennen. Da der Ring sehr zierlich und von geringem Durchmesser war, musste er einer Frau gehören. Die abgenutzte Inschrift sprach dafür, dass der Ring lange Zeit am Finger seiner Besitzerin gesteckt hatte.
»Ist das alles, was er bei sich trug?« Die Frage war im Grunde überflüssig, da Bastian die Antwort längst kannte.
Der Arzt nickte und deckte den Leichnam mit einem groben Leinentuch ab. Die Untersuchung war abgeschlossen und Bastian hatte mehrere wichtige Punkte, die er weiterverfolgen musste. Zunächst musste er herausfinden, wer dieser Mann überhaupt war. Dann stellte sich die Frage, woher das Rauschmittel in seinem Magen stammte. Was hatte der Mann in seiner leeren Ledertasche transportiert und wer hatte ihn mit einer Kutsche und zwei Pferden niedergetrampelt? Der letzte Punkt auf Bastians Liste war der zierliche Silberring. Wer war die Besitzerin? Er würde Pfarrer Johannes danach fragen.
...
Pfarrer Johannes hatte sein Sonntagsgewand übergeworfen. Es war wertvoller als die übliche Kleidung, die er in der Woche trug. Die zahlreichen Verzierungen auf der hellen Seide verliehen dem Gewand einen überirdischen, warmen Glanz. Diese Wirkung spiegelte sich in den andächtigen Gesichtern der Zonser Bürger, die gerade die Kirche verließen, als Bastian eintrat. Geduldig wartete er, bis sich die schwere Kirchentür hinter dem letzten Besucher schloss. Als Johannes ihn erblickte, erhellte ein strahlendes Lächeln sein Gesicht. Der Pfarrer war ein kleiner, rundlicher Mann, der trotz seines Gewichtes und erheblichen Alters immer noch flink auf den Beinen war. Bastian bewunderte die Kraft, die er ausstrahlte. Er liebte Johannes wie einen Vater. Der Pfarrer hatte ihm viel beigebracht und ihm manchen wertvollen Hinweis bei seinen Ermittlungen gegeben. Sie teilten einige Geheimnisse, die der Erzbischof von Saarwerden tief im Herzen von Zons verborgen hatte und die nie das Tageslicht erblicken durften. Es erfüllte Bastian mit Stolz, dass Johannes ihm so viel Vertrauen schenkte.
»Schön, Euch zu sehen, mein Sohn.« Johannes schloss Bastian in die Arme und drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Bastian erwiderte die Geste und genoss die wohlige Geborgenheit, die von der Berührung ausging. Obwohl er mittlerweile ein gestandener Mann war, fühlte er sich jedes Mal wieder wie ein kleiner Junge, sobald er den Geruch und die Nähe des Pfarrers spürte. Es waren uralte und schöne Kindheitsbilder, die in ihm hochkamen und ihn daran erinnerten, wie nah sich die beiden standen.
Pfarrer Johannes führte ihn in die verborgene kleine Kammer am Ende der Kirche. Bastian wusste genau, was sich hinter diesen harmlos aussehenden Wänden verbarg. Deutlich leuchteten die drei Schlüssel der St.-Sebastianus-Schützenbruderschaft vor seinem inneren Auge auf. Doch das war bereits Geschichte und der Sichelmörder stellte längst keine Gefahr mehr für Zons dar. Bastian kramte in seiner Tasche nach dem zierlichen Silberring, den er bei der unbekannten zertrampelten Leiche gefunden hatte.
»Kennt Ihr diesen Ring?« Bastian wusste, dass Johannes ein hervorragendes Gedächtnis hatte. Er konnte noch Tage später aufzählen, was die Leute zu seinen Predigten für Gewänder trugen. Als Bastian noch klein war, hatte Johannes manchmal ein Spiel daraus gemacht. Stundenlang schwelgten die beiden in Erinnerungen und ordneten haargenau die Kleidung den einzelnen Kirchgängern zu. Wenn jemand wusste, wem dieser Ring gehörte, dann Pfarrer Johannes.
Der alte Pfarrer setzte sich an den kargen Holztisch, der an der rechten Wand der kleinen Kammer stand. Auf dem Tisch lag ein rundes Glas, so gebogen, dass es Gegenstände vergrößern konnte. Johannes hielt das Glas direkt über den Ring und betrachtete ihn. Dann schloss er die Augen. Bastian gab keinen Mucks von sich. Er kannte die Spielregeln und wusste, dass der andere jetzt einige Augenblicke Zeit brauchte, in denen er nicht gestört werden durfte. Vorsichtig atmete er ein, bemüht, Johannes nicht zu stören. Sein Herz pochte laut gegen den Brustkorb. Wenn er wüsste, zu wem dieser Ring gehörte, wäre er einen ganzen Schritt weiter.
Ohne Vorwarnung sagte Johannes plötzlich: »Martha«. Seine Worte hallten an der hohen Decke wider und ließen Bastians Anspannung ins Unermessliche steigen. Es gab drei Frauen mit dem Vornamen Martha in Zons.
»Meint Ihr Martha Hatzfeld?«
»Ja, woher habt Ihr den Ring? Sie trug ihn jeden Tag.« Der Pfarrer gab Bastian das Schmuckstück zurück. Aufgeregt verstaute dieser den Ring in seiner Tasche. Er gehörte also Martha Hatzfeld, jener Martha, die im Burggraben ertränkt worden war. Vielleicht war das die Spur zu ihrem Mörder.
»Ich habe ihn im Wams eines toten Mannes gefunden.«
Johannes hob erstaunt die Augenbrauen. »Lieber Bastian, wovon sprecht Ihr?«
»Auf dem Feldweg nach Stürzelberg ist ein Mann von einer Kutsche mit zwei Pferden zu Tode getrampelt worden. Wernhart, der Arzt und ich waren schon am frühen Morgen bei der Leiche.« Bastian schilderte Johannes ausführlich die Geschehnisse. Nur die Sache mit August und dem Boten ließ er vorerst weg. August war zu gefährlich und Bastian wollte ihn nicht unnötig reizen. Außerdem würde Pfarrer Johannes sicher mit August sprechen wollen. Für ihn war er ein verlorenes Schaf, das zurück in die Herde gehörte.
»Also könnte der Mann Marthas Mörder sein?« Glasklar, wie Bastian es von Johannes gewohnt war, zog dieser den richtigen Schluss.