IX.
Gegenwart
Die halb zerfallene Halle stand mitten auf einem Feld aus brüchigen Betonplatten. Hoch am Himmel stach die Frühlingssonne und staute die Hitze an den alten Mauern. Der Boden war so aufgeheizt, dass Oliver fast das Gummi unter seinen Schuhen schmelzen spürte. Zumindest fühlte er, wie die unerträgliche Hitze seine Füße, die immer noch in Boots und Socken steckten, zum Schwitzen brachte. Am liebsten wäre er sofort in seinen klimatisierten Dienstwagen zurückgekehrt. Klaus schienen die Temperaturen nichts auszumachen. Er hatte bereits den Eingang der Halle erreicht und wartete ungeduldig.
Oliver schob die Sonnenbrille den Nasenrücken hinauf und musterte die Halle. Das Dach war aus einfachem Wellblech und dürfte beim nächsten großen Sturm hinüber sein. Die Wände wirkten etwas solider. Sie waren immerhin aus Steinen gemauert und bestanden nicht aus den labilen Fertigteilen, die gerne für derartige Bauten genutzt wurden. Der Platz war von einem baufälligen Metallzaun umrandet. Ein altes Schild, das nur noch an einem Haken baumelte, hatte Oliver verraten, dass sie sich auf dem ehemaligen Gelände eines Logistikunternehmens befanden. Davon gab es viele in dieser Gegend und sie verschwanden häufig wieder genauso schnell, wie sie gekommen waren. Das Ergebnis waren riesige leerstehende Flächen, für die sich meist kein neuer Investor fand. Erst wenn die Städte große Subventionen anboten, ließ sich der eine oder andere auf ein finanzielles Wagnis ein.
Wer Müll oder gar einen Leichnam loswerden wollte, war an solchen Orten genau richtig. Ein rotes Band sperrte den Eingang der Halle ab. Der Polizist, der eigentlich hier hätte stehen sollen, kam gerade aus einer Nische hervor. Seine Finger fummelten am Reißverschluss der Hose herum und Oliver ignorierte die Tatsache, dass der Mann sich offenbar soeben erleichtert hatte. Ohne ihm die Hand zu reichen, begrüßte er ihn mit einem Kopfnicken.
»Ist die Spurensicherung schon eingetroffen?« Der Mann gähnte und schüttelte den Kopf.
»Nein, nur mein Partner ist in der Halle und passt auf, dass sich die Ratten nicht an den Überresten vergehen. Stinkt mächtig da drin.« Er verzog demonstrativ das Gesicht. Dann fischte er ein Aufnahmegerät aus seiner Tasche und reichte es Oliver. »Das soll ich Ihnen geben. Ist ein Mitschnitt des anonymen Anrufers, der die Leiche gemeldet hat.«
Oliver schaltete das Gerät an. Rauschen ertönte, gefolgt von einem langen Piepton. Eine tiefe Frauenstimme begrüßte den Anrufer, dann herrschte sekundenlang Stille. Eine verzerrte Roboterstimme erklang am anderen Ende der Leitung.
»Es liegt eine Leiche im Industriegebiet am Wahler Berg in der Nähe der B9 kurz vor Zons.« Ein lautes Klicken beendete die Aufnahme und das Gerät verstummte.
»Das ist alles?« Klaus‘ Stimme klang ungläubig. »Wer hat denn daraufhin ein Team hierher geschickt?«
Oliver nickte. Es gab täglich etliche Verrückte, die die Notrufzentrale belästigten und Verbrechen meldeten, die gar nicht geschehen waren.
»Die Stimmanalyse hat die Priorität auf rot gesetzt«, antwortete der Polizist. »Die haben ein Pilotprojekt gestartet und testen die Software einer niederländischen Firma. Das Programm analysiert die Stimme des Anrufers und kann erkennen, wie dringlich der Notruf ist. Gleichzeitig ermittelt es Wahrscheinlichkeiten für den Wahrheitsgehalt der Aussagen. Bisher hatten wir eine Trefferquote von über neunzig Prozent.« Obwohl dies ein großer Erfolg war, wischte sich der Mann genervt die Schweißperlen von der Stirn. »Allerdings haben wir jetzt viel mehr Einsätze als vorher«, fügte er erklärend hinzu, als er die fragenden Gesichter von Oliver und Klaus bemerkte. Dann hob er das Absperrband hoch und ließ die beiden eintreten.
Das Innere der Halle lag im Halbdunkel. Durch die Löcher im Dach und in den Wänden drang reichlich Sonnenlicht ein, welches den Flachdachbau aufheizte. Oliver schätzte die Temperatur auf mindestens dreißig Grad Celsius. Der Geruch war unerträglich. Instinktiv griff Oliver in die Tasche und zog ein Tuch hervor. Klaus, der geistesgegenwärtig Mentholsalbe eingesteckt hatte, reichte ihm die Dose. Der süßlich schwere Geruch des Todes strömte trotz der Schutzmaßnahmen weiter unaufhörlich in Olivers Nase und legte innerhalb weniger Sekunden sämtliche Geruchs- und Geschmacksnerven lahm. Oliver versuchte, so flach wie möglich zu atmen. Hitze und Gestank waren jedoch nichts im Vergleich zu dem Anblick, der sich ihnen am Ende der Halle, dort wo sowohl die Wände als auch das Dach noch intakt waren, bot.
Dieser Haufen aus undifferenziertem Fleisch und blutiger Haut sollte ein Mensch gewesen sein?
»Oh mein Gott, wie krank ist das denn?« Klaus‘ Stimme zitterte deutlich.
Oliver konnte den Blick kaum abwenden. Er bemerkte die zerrissene Jeans und die Turnschuhe des Opfers. Die Schuhe waren recht groß und maßen nach Olivers Schätzung ungefähr die Größe fünfundvierzig. Demnach handelte es sich wohl um eine männliche Leiche. Der Tote lag auf dem Rücken. Ein Arm war vollkommen abgetrennt und lag ein Stück von der Leiche entfernt. Spuren von Tierfraß waren bereits zu erkennen. Der Brustkorb war in der Mitte eingedrückt und zersplitterte Rippenknochen ragten hervor. Doch das Schlimmste war der Schädel oder das, was davon übrig war. Lediglich die Lage der breiigen Masse aus Knochen, Fleisch, Haut und Haaren deutete darauf hin, dass sich an dieser Stelle der Kopf befand.
Oliver musste seinen Magen beruhigen. So etwas hatte er noch nie gesehen. Ohne in die umliegenden Blutspritzer zu treten, brachte er einen halben Meter Abstand zwischen sich und die Leiche. Dann starrte er auf die Wand und atmete bewusst langsam. Ein erster Würgereiz drückte bereits Säure in seinen Rachen und er schluckte heftig. Jetzt nur nicht übergeben. Sein Chef Hans Steuermark hatte ihn zwar vorgewarnt, aber auf einen solchen Anblick war Oliver trotzdem nicht vorbereitet gewesen. Mit welcher abseitigen Grausamkeit musste der Täter vorgegangen sein? Es hatte ihm nicht genügt, den Mann zu töten. Er hatte sein Opfer regelrecht zerstampft.
Klaus, der sich ebenfalls vom Leichnam entfernt hatte, deutete mit dem Finger auf das Rad eines Wagens, das hinter einer Trennwand hervorlugte.
»Ich glaube, da ist Blut dran«, sagte er und schaltete seine Taschenlampe ein. Ein greller Lichtstrahl durchschnitt das Halbdunkel und gab den Blick auf verschiedene Holzwagen frei. Staub wirbelte in großen Flocken durch die Luft, als Klaus näher herantrat und sich so weit nach unten bückte, dass seine Nase fast das Rad berührte.
»Lass mich mal einen Blick darauf werfen.« Oliver wusste, dass Klaus nicht besonders gut sehen konnte. Seine Eitelkeit hinderte ihn jedoch daran, endlich eine Brille zu tragen. Olivers Sehkraft war hingegen hervorragend, und noch bevor er einen halben Meter an das Rad herangetreten war, entdeckte er dunkle Blutflecken, die überall auf dem Holzkarren versprenkelt waren. Das Gefährt wirkte antik, war jedoch stabil gebaut. Es musste Tonnen wiegen. Augenblicklich dämmerte es Oliver, wie der Mann so zugerichtet worden war. Der Karren musste mehrfach über ihn hinweggerollt sein. Das erklärte den abgetrennten Arm und den eingedrückten Oberkörper. Gerade als er sich die Frage stellte, was mit dem Kopf des Opfers passiert war, hielt Klaus einen riesigen Vorschlaghammer in die Luft. Der Hammer triefte vor Blut. Oliver wandte sich ab.
Sein Blick fiel auf einen massigen Wassertank, der gegenüber dem Holzkarren nur unweit der Leiche in einer Nische stand. Über dem Tank führten Wasserleitungen an der Wand entlang, die relativ neu aussahen. In Kopfhöhe war ein Fenster eingelassen, das mit einer dicken Schicht Silikon isoliert war. Der Tank selbst wirkte wie ein ausrangierter Behälter aus einem überdimensionalen Chemielabor. Die Außenhülle war verdreckt und rostig. Ein Flaschenzug mit einem großen Fleischerhaken diente offensichtlich als Hebevorrichtung, um den Deckel des Tanks zu erreichen, der auf der Oberseite des zwei Meter hohen Behälters eingelassen war. Interessiert trat Oliver näher und blickte durch das milchige Fenster. Wozu zum Teufel diente dieses Ding?
Er hatte keine Antwort auf diese Frage. Klaus, der ihm gefolgt war, schien ebenfalls ahnungslos.
»Sieht nicht so aus, als ob das Ding vor kurzem noch benutzt worden wäre.«
»Es erinnert mich an das Tauchtraining bei der NASA vor zwanzig Jahren. Damals wurde die Bewegung in Schwerelosigkeit in solchen Tanks trainiert.«
Oliver schüttelte den Kopf. »Es könnte ebenso ein Behälter aus der Pharmaindustrie oder der Landwirtschaft sein.«
Klaus zuckte mit den Schultern. »Lass uns probieren, ob das Ding noch funktioniert.« Mit diesen Worten drehte er den roten Wasserhahn auf, der hinter dem Tank an der Wand angebracht war. Zunächst war nur das Rauschen in der Leitung zu hören. Gespannt stellte Oliver sich auf die Zehenspitzen und beobachtete das Innere des Tanks. Nichts. Es war keine Veränderung zu erkennen. Gerade als er sich wegdrehen wollte, sah er den sich kräuselnden Wasserrand, der sich langsam am Rand des Tanks in die Höhe schob. Das Wasser drang nicht von oben in den Tank ein, wie Oliver es erwartet hatte, sondern es strömte glucksend durch ein dünnes Rohr von unten in den Tank. Olivers Augen weiteten sich. Das Ding funktionierte also noch!
...
Saskia saß in einer Gartenlaube außerhalb von Zons und schluchzte sich die Seele aus dem Leib. Mit Mühe hatte sie Nils in den Kindergarten gebracht und sich dann in die alte Holzhütte ihres Großvaters geflüchtet. Es war ein einfacher Schrebergarten, nichts Besonderes, doch Saskia liebte diesen Ort. Schon als kleines Mädchen hatte sie hier zwischen den duftenden Rosenfeldern inmitten des Chaos Ruhe und Frieden gefunden. Ihr Großvater war einer der wenigen Menschen gewesen, die sie wirklich verstanden hatten. Leider war er schon vor etlichen Jahren gestorben und dieser Ort war bis auf ein paar alte Fotos alles, was Saskia von ihm geblieben war. Sie war lange nicht mehr hier gewesen. Doch nachdem sie die ganze Nacht von den immer gleichen grausamen Bildern verfolgt worden war, die sie einfach nicht aus ihrem Kopf bekam, hatte sie es nicht länger ausgehalten und war an diesen Ort geflüchtet.
Sie hatte die Hypnosestunde bei Dr. Neuenhaus sausen lassen und war direkt vom Kindergarten hierher gefahren. Dicke Tränen liefen ihr über das Gesicht und der Brustkorb hob und senkte sich, als hätte sie gerade einen Tausend-Meter-Lauf hingelegt. Torsten Schniewald verfolgte sie auf Schritt und Tritt. Sobald sie die Augen schloss, schaute er sie an. Vorwurfsvoll, so, als ob sie die Schuld an seinem Tod trug. Schluchzend griff sie in den Rucksack, den sie immer bei sich trug, und warf einen Blick auf die letzten Seiten ihres Tagesbuches. Sie wollte sich noch einmal vergewissern, dass sie nichts mit seinem Tod zu tun hatte, doch die Zeilen konnten ihr Gewissen nicht erleichtern, im Gegenteil. Dort stand: »Er starb, weil ich mich selbst retten wollte.«
Die Erinnerung überrollte sie mit voller Wucht. Schon spürte sie wieder den nassen, zuckenden Körper des Mannes unter sich, mit dem sie gerade noch geschlafen hatte. Sekunden später verschwand Schniewalds Gesicht und an seine Stelle trat ein weiterer Mann. Der Mann ohne Kopf. Zitternd öffnete Saskia die Augen, um den grauenvollen Anblick des Todes zu verscheuchen, der hoch oben auf einer Kutsche saß und den Schädel des Mannes mit den Hufen seiner Pferde zermalmte. Hatte sie diesen Mann in den Tod gestoßen? Saskias Finger kribbelten. Ihr Verstand versuchte, die Wahrheit zu kaschieren, doch ihr Herz log nicht. Sie konnte den warmen Körper spüren, kurz bevor sie ihn auf die Straße stieß. Ihre Augen spiegelten seinen letzten Blick wider, der tot in den Frühlingshimmel starrte, kurz bevor der Kopf von den Hufen zerschmettert wurde.
Wieder und wieder spulten sich die Bilder in einer Endlosschleife ab und Saskia war einfach nicht in der Lage, sie anzuhalten. Sie riss das Fenster auf und atmete tief ein. Lieblicher Rosenduft drang in ihre Nase und für einen winzigen Moment sprang ihr zermarterter Geist zurück in die Vergangenheit, als ihr Großvater noch lebte. Er war seit dem frühen Krebstod ihrer Mutter zur wichtigsten Bezugsperson in ihrem Leben geworden.
»Du hast zu viele dunkle Fantasien, mein Kleines. Hüte dich vor den Flügeln der Angst. Auf ihnen lauert das Verderben. Wende Dich doch auch einmal den schönen Dingen des Lebens zu.« Das waren seine Worte zu jedem der kindlichen Bilder, die sie für ihn malte. Ihre düsteren Kunstwerke waren gezeichnet von Verlustängsten und der Hoffnungslosigkeit, die der Tod ihrer Mutter in Saskias Leben gebracht hatte. Geblieben war eine tiefe Leere, die weder ihr Großvater noch Pascal zu füllen vermochten. Von ihrem Vater ganz zu schweigen. Alles, was ihn interessierte, war das Familienimperium. Deshalb war Pascal adoptiert worden. Zur Sicherheit, weil Saskia das einzige Kind war und noch dazu ein Mädchen. Sollte ihr etwas zustoßen, konnte Pascal ihren Platz einnehmen. Warum ihr Vater sie nach der unehelichen Geburt von Nils nicht enterbt hatte, war Saskia bis zum heutigen Tag ein Rätsel. Wahrscheinlich war er irgendwann trotz allem zu der Überzeugung gelangt, dass Blut am Ende doch dicker war als das Band zu einem adoptierten Kind. Oder der unstete Lebenswandel Pascals hatte ihren Vater zur Besinnung gebracht. Saskia wusste es nicht. Wahrscheinlich würde sie es nie erfahren. Die Wirkung des Rosenduftes verblasste und die schrecklichen Bilder kämpften sich erneut in Saskias Bewusstsein. Sie waren hartnäckig wie Hyänen, die einen Kadaver rochen. Saskia schloss das Fenster und ließ sich aufs Bett fallen. Vielleicht hätte sie die Hypnosestunde nicht ausfallen lassen dürfen. In letzter Zeit taten ihr die Stunden mit Dr. Neuenhaus und dem Hypnotiseur Markus Schweigstein gut. Dr. Neuenhaus hatte sicher auf sie gewartet und war jetzt enttäuscht von ihr. Vielleicht hätte er es geschafft, den schrecklichen Bildern in ihrem Kopf ein Ende zu bereiten. Oder er hätte dich durchschaut und entdeckt, dass du eine Mörderin bist!, fügte eine garstige Stimme in ihrem Inneren hinzu. Saskia schrie laut auf und fiel erneut in einen heftigen Weinkrampf.
Das Knarren der verzogenen alten Holztür ließ sie hochschrecken. Da war jemand! Jemand, der sie beobachtete, der die Wahrheit kannte. Starr vor Schreck hielt sie die Luft an. Schritte bewegten sich durch den Flur auf ihr Zimmer zu. Saskia ballte die Hände zu Fäusten und wagte nicht, sich zu rühren. Die Zimmertür öffnete sich mit einem gehässigen Ratschen und von Angst überwältigt schloss sie die Augen. Die Schritte kamen nicht näher. Eine unheilvolle Stille trat ein. Saskia war unfähig, die Augen zu öffnen, und verharrte in stummer Erwartung vor dem Grauen an der Tür.
»Ich wollte dich nicht erschrecken.« Pascals Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Langsam und unsicher öffnete Saskia die Augen einen Spalt. Stand dort wirklich Pascal oder war dies eine neue Sinnestäuschung?
»Pascal?«
»Ja, ich bin es.« Schnell kam er ein paar Schritte näher und legte schützend den Arm um sie.
»Was machst du hier?« Die Erleichterung trieb Saskia erneut die Tränen in die Augen.
Pascal zuckte mit den Schultern. »Ich war in der Nähe und habe das offene Fenster gesehen.«
Pascal lebte in Köln. Was ihn bis hierher in den kleinen Garten ihres Großvaters getrieben hatte, war Saskia zwar nicht klar, aber sie war froh über seine Anwesenheit. Er war ihr großer Bruder und Beschützer, den sie in ihrer momentanen Gefühlslage mehr denn je brauchte. Saskias Handy vibrierte auf dem Fensterbrett. Sie warf einen kurzen Blick auf das Display und beschloss, den Anruf nicht anzunehmen. Sie würde Dr. Neuenhaus später zurückrufen.
»Sag mir, was mit dir los ist in letzter Zeit. Du wirkst ziemlich durcheinander.«
Saskia schüttelte den Kopf. »Nichts, nur diese furchtbaren Albträume.«
»Albträume? Was für Albträume denn?« Pascals fürsorgliche Stimme brachte Saskia fast zum Reden, aber eine innere Stimme hielt sie dennoch davon ab, ihm die ganze Wahrheit zu sagen.
»Ich weiß auch nicht«, log sie. »Wahrscheinlich ist es nur mein entwürdigender Kontostand und die anstehenden Abbuchungen, die mich so fertig machen.«
Pascal legte die Stirn in Falten und erwiderte einen Augenblick lang nichts. Dann fuhr er sich nervös übers Haar und biss sich auf die Unterlippe, bevor er wieder den hypnotisierenden Blick aufsetzte, den Saskia nur allzu gut kannte. »Hast du denn noch kein Geld für die Teilnahme an dieser klinischen Studie bekommen?«
»Nein, das Geld gibt es erst am Ende, wenn alles abgeschlossen ist. Das habe ich dir doch schon erzählt.«
»Ach ja, stimmt.« Pascals bohrender Blick verstärkte sich. »Dann ruf unseren Vater doch endlich mal wieder an. Für dich ist es einfacher. Mit mir will er anscheinend gar nichts mehr zu tun haben.«
Saskia machte eine abwehrende Geste. »Für mich soll das leicht sein? Was soll ich ihm denn sagen? Und aus welchem Grund sollte er mir helfen?«
»Du bist seine einzige leibliche Tochter. Ist das nicht Grund genug?« Pascal schnurrte wie ein Kater und versuchte, die greifbar schlechte Stimmung in der Luft zu verscheuchen. Doch es war bereits zu spät. Saskia sah rot. Sie wollte nicht immer und immer wieder dasselbe Thema mit ihm diskutieren. Sie kannte seine Geldnöte, doch die waren nicht ihr Problem. Sie hatte ihm mehr als genügend Geld geliehen und saß mittlerweile selbst in der Patsche. Sie warf Pascal einen harten Blick zu, der ihn sichtbar zusammenzucken ließ.
»Hör zu, Pascal. Ich kenne deine Probleme nicht. Aber ich hatte dir versprochen, Emily deine Geschichte zu geben, damit sie diese der Zeitung anbieten kann. Das habe ich getan.«
»Und?« Die plötzliche Spannung in seinen Augen brachte Saskia fast zum Lachen.
»Sie hat ihr gefallen«, erwiderte sie schlicht und machte eine Pause. »Du sollst sie anrufen und ...«, sie beugte sich zu Pascal vor. »Du bekommst einen Vorschuss von zweihundert Euro.«
»Zweihundert Euro? Das ist nicht besonders viel.« Die Hoffnung in Pascals Augen erlosch wie eine Kerze, die ausgeblasen wurde, noch bevor sie richtig gebrannt hatte. Er biss sich auf die Lippen und setzte ein zermürbtes Lächeln auf.
»Danke, Schwesterherz. Aber ...«
Saskias Handy vibrierte erneut. Die Nummer wurde nicht angezeigt, da es sich um einen anonymen Anrufer handelte. Heimlich musterte sie Pascal, der bereits zu einem neuen Redeschwall anhob. Nein, das konnte sie jetzt nicht ertragen. Dann lieber ein Telefonat mit wem auch immer. Ohne Pascal zu Wort kommen zu lassen, hob sie ab.
...
»Es ist eine wirklich gute Geschichte.«
Anna nahm einen großen Schluck Kaffee und blickte Emily ungläubig an.
»Bist du sicher?«
»Ja, absolut. Sieh doch selbst.« Mit diesen Worten legte sie einen Stapel Papier auf den Tisch. Anna überflog die ersten Zeilen. Sie kannte Saskias Stiefbruder nur aus Erzählungen und das genügte ihr vollkommen. Er war eine labile Spielerpersönlichkeit, auf die man sich nicht verlassen konnte. Ständig jagte er dem großen Geld hinterher, ohne jemals zum Erfolg zu kommen. Saskia konnte bei ihm einfach nicht »Nein« sagen und half ihm permanent aus der Klemme. Emily hatte Saskia mehrfach Geld leihen müssen, weil ihr Pascal die letzten Ersparnisse abgeschwatzt hatte. Anna konnte sich noch gut an die langen Abende erinnern, an denen sie und Emily versucht hatten, Saskia zur Vernunft zu bringen. Anna schüttelte den Kopf. Sie war Bankerin und sie kannte diese Persönlichkeiten zur Genüge. Das Beste war, man hielt sich von ihnen fern.
Dass ausgerechnet Emily ihm jetzt auch auf den Leim zu gehen drohte, machte Anna fassungslos. Gut, sie musste zugestehen, dass die erste Seite nicht schlecht geschrieben war. Trotzdem gab es einfach Menschen, mit denen man nicht zusammenarbeiten sollte. Früher oder später endete sonst alles im Chaos.
»Es klingt nicht uninteressant. Aber du suchst dir besser jemanden, auf den du dich verlassen kannst, Emily.« Anna zupfte sich nervös am Ohrläppchen, als sie Emilys Widerstand bemerkte.
»Wusstest du, wie Laudanum hergestellt wird?« In Emilys Stimme schwang Faszination. Mit dem Zeigefinger tippte sie auf einen schwarz eingerahmten Exkurs. »Ich habe es nicht gewusst und dass, obwohl ich in meinem letzten Artikel über Spiele und Rauschsucht im Mittelalter berichtet hatte.« Versonnen fuhr sie sich mit der Zunge über die Unterlippe. »Weißt du, Anna, mir fehlte der medizinische Aspekt bisher vollkommen. Ich kann weder zur Herstellung noch zu den chemischen und biologischen Reaktionen im menschlichen Körper allzu viel beitragen und genau diese Lücke könnte Pascal Heinermann schließen.«
»Er hat sein Medizinstudium doch noch nicht einmal abgeschlossen. Wie willst du wissen, ob seine Ausführungen fachlich überhaupt korrekt sind?«, konterte Anna. Doch Emily schien ihre Worte nicht mehr zu hören. Ihr Blick war in die Ferne geschweift und in diesem Augenblick begriff Anna, dass sie sich längst entschieden hatte.
...
Die Apparaturen stießen heißen Dampf aus. Ein Piepen ertönte, danach erfüllte ein surrendes Geräusch das weiß geflieste Labor, das sich im unteren Geschoss des Klinikums befand. Dr. Neuenhaus spürte, wie sein Hemd am Körper klebte. Markus Schweigstein stand direkt neben ihm. Er wischte sich Schweißtropfen von der Stirn. Ihm schien es nicht viel besser zu gehen. Das Surren schwoll zu einem unheilvollen Kreischen an. Der Zeiger auf dem Gerät schlug voll aus, und gerade als er den roten Bereich erreichte, erklang ein weiterer Piepton und die Schleuder stand mit einem Mal still.
»So, das sollte reichen.« Die Männerstimme klang brüchig. Ein molliger Mittvierziger mit strähnigen langen Haaren, die zu einem Zopf zusammengebunden waren, öffnete die Zentrifuge und holte einen Korb mit Laborröhrchen heraus.
»Ich habe Ihnen drei Rezepturen gemischt.« Der Laborant deutete mit dem Kopf auf drei Tabletts, die sorgsam nebeneinander aufgereiht waren. Dr. Neuenhaus trat näher heran. Auf jedem Tablett befanden sich Boxen mit runden, weißen Tabletten. Sie waren nicht größer als eine Aspirin, nur ohne Kerbe in der Mitte. Fein säuberlich beschriftete Aufkleber kennzeichneten die unterschiedlichen Sorten. Auf dem linken Tablett befanden sich die Placebos, in der Mitte das Originalmedikament und rechts die Abwandlung. Die Boxen auf dem rechten Tablett waren mit roten Aufklebern versehen. Das Originial-Nahrungsergänzungsmittel, welches im Mittelpunkt der klinischen Stress-Studie stand, trug gelbe Etiketten und die Placebos schlichte weiße Aufkleber. Nur anhand der Farbe waren die Medikamente zu unterscheiden.
»Die mit der roten Markierung musste ich zweimal herstellen. Im ersten Versuch haben die Bindestoffe nicht funktioniert. Ich musste die Konzentration fast verdoppeln.« Der Laborant warf Neuenhaus einen vielsagenden Blick zu. Neuenhaus legte die Stirn in Falten. Er selbst hatte die Mischung zwar noch nicht ausprobiert, aber die Rezeptur sollte eigentlich mit den vorgeschriebenen Mischungsverhältnissen funktionieren.
»Haben Sie das Pulver fein genug gerieben?« Seine Frage produzierte einen beleidigten Ausdruck auf dem Gesicht des Laboranten.
»Ich mache diesen Job seit mehr als zwanzig Jahren, Dr. Neuenhaus. Sie können sich auf mich verlassen.« Er drückte ihm einen Computerausdruck mit der neuen Mischung in die Hand. »Hier können Sie die Abwandlungen genau erkennen.« Mit diesen Worten wandte er sich wieder der Zentrifuge zu und füllte sie mit neuen Röhrchen, die diesmal eine bräunliche Flüssigkeit enthielten. Als er das Gerät anschaltete, erfüllte wieder ein Surren den ganzen Raum. Der Laborant nahm davon keine Notiz und ging, ohne Dr. Neuenhaus oder seinem Begleiter weitere Beachtung zu schenken, in einen kleinen Nebenraum. Mit einem leisen Klicken fiel die Tür ins Schloss.
Dr. Neuenhaus kannte diesen Raum. Dort war es noch heißer, weil es kein Fenster gab. Er verspürte keinen Drang, dem Laboranten zu folgen. Zwar hatte er einen kurzen Moment darüber nachgedacht, sich zu entschuldigen. Aber dort war es eindeutig zu heiß. Beim nächsten Besuch würde er sicher noch genug Gelegenheiten haben.
»Nehmen Sie die beiden Tabletts dort?« Er deutete auf die weißen und gelben Aufkleber. Der Hypnotiseur Markus Schweigstein nickte. Gerade als Neuenhaus das Tablett mit den roten Markierungen hochheben wollte, klingelte sein Handy. Auf dem Display leuchtete Saskias Heinermanns Nummer auf. Sie war nicht zur letzten Sitzung erschienen und er war besorgt, dass sie die Studie abrechen wollte. Ihr Anruf ließ ihn hoffen, dass es nicht so war. Endlich, dachte er erleichtert und hob ab.
...
Oliver Bergmann stand vor der Gaststätte »Altes Zollhaus«, als sein Telefon klingelte. Es war die Nummer der Zentrale. Er drückte auf die grüne Taste.
»Bergmann.«
»Ja, Meier hier aus dem Rechercheteam. Ich habe Neuigkeiten im Fall Torsten Schniewald.«
Oliver hob die Augenbrauen und machte einen Schritt zurück. Ihm steckte immer noch der Anblick des Mannes mit dem zertrümmerten Schädel in den Knochen. Der scheußliche Geruch klebte an seinen Schleimhäuten und jedes Mal, wenn seine Gedanken abschweiften, sah er plötzlich den Toten vor sich. Hoffentlich hörte er jetzt ein paar gute Neuigkeiten. Sein Chef Hans Steuermark saß ihm längst im Nacken. Die nächste Pressekonferenz stand kurz bevor und bisher hatten sie keine wirklichen Fortschritte gemacht. Steuermark war ein herzensguter Mensch mit scharfem Verstand, aber für seine Geduld war er nicht gerade bekannt. Er verlangte sich selbst und seinem Team Höchstleistungen ab und eine Ermittlung, in der mehrere Tage Stillstand herrschte, war für ihn undenkbar. Der Druck war derweil so groß, dass Oliver und Klaus sich aufgeteilt hatten. Klaus wartete auf die Ergebnisse der Obduktion und fasste die bisherigen Fakten in einem Bericht zusammen, während Oliver sich auf den Weg gemacht hatte, um mit Saskia Heinermann zu sprechen. Sie war vermutlich eine der Letzten - vielleicht sogar die letzte Person - die Torsten Schniewald lebendig gesehen hatte.
Mit tiefer Stimme fragte Oliver: »Ja, was sind das denn für Neuigkeiten?«
»Die angebliche Geliebte von Torsten Schniewald hat sich gemeldet. Sie behauptet, dass in seiner Wohnung Geld fehlt.«
Oliver notierte sich den Namen und die Adresse. Wie vom Donner gerührt legte er auf.
...
Saskia Heinermann war viel größer, als Oliver sie in Erinnerung hatte. Sie brachte es auf gute 1,80 Meter. Wie bei seinem letzten Besuch war sie damit beschäftigt, Tische abzuwischen und die Kneipe auf den bevorstehenden Abend vorzubereiten, als Oliver eintrat. Obwohl er am liebsten das Gespräch mit der plötzlich aufgetauchten Geliebten von Torsten Schniewald vorgezogen hätte, war er bei seinem ursprünglichen Plan geblieben. Er musste seine Neugier zügeln und zunächst die wesentlichen Spuren abarbeiten. Das war das A und O der Polizeiarbeit - die Priorisierung der Vorgehensweise und die Konzentration auf die wichtigsten Aspekte. Wer hinter jedem Hinweis mit der gleichen Energie hinterherlief, ohne sauber die entscheidenden Spuren abgeschlossen zu haben, der hatte am Ende nur eine riesige Liste mit offenen Punkten zustande gebracht. Allerdings ohne wirklich einen Schritt vorangekommen zu sein.
Saskia Heinermann hatte ihn bemerkt und lächelte ihn an. Obwohl sie das eine oder andere Kilo zu viel auf den Hüften hatte, war sie ohne Zweifel attraktiv. Sie wirkte müde und abgekämpft. Oliver hatte sich zuvor über sie erkundigt. Sie war alleinerziehende Mutter eines kleinen Jungen und die Spuren dieser Herkulesaufgabe sah man ihr deutlich an.
»Was kann ich für Sie tun?« Ihre leicht rauchige, fast sinnlich anmutende Stimme erfüllte den Raum.
Oliver zückte seine Marke und wies sich aus. Saskia Heinermanns Augen weiteten sich einen Augenblick zu lange und Oliver hatte plötzlich das Gefühl, dass diese Frau eine entscheidende Rolle im Fall Torsten Schniewald spielen könnte. Er beschloss, seine Taktik anzupassen.
»Wissen Sie, warum ich hier bin?«
Die Blondine errötete auf der Stelle.
»Nein. Ähm, wieso sollte ich das wissen?« Die Lüge sprang Oliver förmlich ins Gesicht.
»Nun ja, Sie lesen doch die Zeitung, oder?« Er zwinkerte ihr zu und versuchte, sie mit seiner tiefen, beruhigenden Stimme zu locken.
Saskia kratzte sich nervös am Hinterkopf. Ihr Blick wanderte hektisch von einer Seite zu anderen. Oliver musste unwillkürlich lächeln. Sie war keine gute Lügnerin.
»Ja«, hob sie schließlich zögerlich an. »Ich vermute mal, dass sie wegen des toten Stadtrates hier sind.«
Oliver fragte sich, ob sie den Namen des Mannes bewusst vermied. Die Situation war ihr jedenfalls sichtlich unangenehm. Er lächelte breit.
»Ja, das ist richtig. Wann haben Sie ihn denn zuletzt gesehen?« Er zückte seinen Notizblock und blickte sie erwartungsvoll an.
Sie ließ den Lappen fallen, mit dem sie gerade noch die Tische abgewischt hatte, und nahm auf einem Hocker am Tresen Platz.
»Nun ja, da muss ich nachdenken.« Sie sah Oliver jetzt direkt an. »Ich war in letzter Zeit recht oft hier.« Saskia reckte sich mit einem Mal hoch und griff hinter den Tresen. Geschickt holte sie einen Tischkalender hervor und begann, angestrengt darin zu blättern.
»Hier muss es gewesen sein.« Sie tippte mit dem Finger auf den Mittwoch in der letzten Woche. Oliver spürte, wie sein Herz einen Takt schneller schlug. Hatte er es doch gewusst. Schniewald war nach seiner Ankunft am Flughafen Düsseldorf weder in seine Wohnung noch in sein Büro zurückgekehrt, sondern direkt ins »Alte Zollhaus« gefahren.
»War er öfter hier?«
»Nein, ich habe ihn zum ersten Mal hier gesehen. Ich bin natürlich nicht jeden Abend hier. Da müssten Sie mit meinen Kollegen sprechen.«
Oliver kritzelte es etwas in sein Notizbuch.
»Wie lange war er an dem besagten Mittwoch hier?«
»Er kam so gegen acht Uhr abends und ist bis kurz nach Mitternacht geblieben.«
»Waren noch andere Gäste hier?«
»Anfangs ja ...«, Saskia zögerte. »Aber er war der letzte Gast. Ist mit mir zusammen raus, als ich geschlossen habe.«
Das wollte Oliver genauer wissen. »Waren Sie zum Schluss mit ihm allein? Keine anderen Kollegen mehr oder Gäste?«
Saskia nickte.
»Und wie sind sie beide auseinandergegangen?«
Saskia lief rot an und zögerte abermals. »Ich habe die Tür abgeschlossen und bin nach Hause gegangen, genau wie er auch. Vor der Tür haben wir uns getrennt.« Oliver traute ihrer Aussage nicht. Sie wirkte fürchterlich angespannt. Wieder kritzelte er in sein Notizbuch. »Entsinnen Sie sich, ob er nervös war an jenem Abend?«
Saskia schüttelte den Kopf.
»Hat er mit jemandem gesprochen oder telefoniert?«
Abermals erntete Oliver ein Kopfschütteln.
»Sind Ihnen ansonsten irgendwelche Besonderheiten aufgefallen?« Oliver erahnte die Antwort schon, bevor sie kam. Abermals schüttelte Saskia Heinermann den Kopf. Er stellte noch ein paar weitere harmlose Fragen über Torsten Schniewald und beobachtete dabei genau Saskias Körpersprache. Stumm registrierte er, wie sie nervös von einem Fuß auf den anderen trat und dabei unaufhörlich an ihrem Ringfinger herum spielte. Sie hatte etwas zu verbergen, da war Oliver sich ganz sicher. Einen kurzen Moment überlegte er, sie stärker unter Druck zu setzen und vielleicht zu einem Gespräch ins Polizeirevier einzuladen, doch dann entschied er sich anders. Er würde sie observieren lassen. Die Sachlage sollte für einen richterlichen Beschluss ausreichen. Mit etwas Glück gelangte er so schneller zu neuen Erkenntnissen. Oliver klappte sein Notizbuch zu und verabschiedete sich. Saskia Heinermann war die Erleichterung über das Ende des Gespräches deutlich anzusehen. Als Nächstes würde Oliver mit der plötzlich aufgetauchten Geliebten Schniewalds sprechen. Und dann war da noch der zweite Leichenfund, der unbedingt identifiziert werden musste. Oliver hatte alle Hände voll zu tun.