VII.
Vor fünfhundert Jahren
Bastian Mühlenberg träumte erneut von dieser wunderschönen Frau. Er konnte sie durch ein Fenster beobachten. Ihr Name fiel ihm wieder ein: Anna. Sie hatte einen merkwürdigen weißen Kittel an und stand mit dem Rücken zu ihm gewandt. Ihre brünetten Locken waren kürzer als sonst. Dann drehte sie sich plötzlich um. Bastian war verwirrt. Diese Frau sah Anna zum Verwechseln ähnlich, aber sie war es nicht. Unruhig wälzte er sich im Bett hin und her. Träumte er von Anna als alte Frau? Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, begann es zu regnen. Er stand vor diesem merkwürdigen Haus und wurde nass. Er hörte, wie dicke Tropfen gegen die Wände prasselten.
Ohne Vorwarnung veränderte sich die Welt um ihn herum. Er befand sich jetzt in einem Gang. Er bestand nicht aus Mauersteinen, sondern aus einem glatten Material, welches sich im Licht spiegelte. Der Boden wirkte wie dunkles Wasser, doch er konnte darauf stehen. Die Wände waren glatt und makellos weiß. Bastian bestaunte diese herausragende Handwerkskunst. Plötzlich betrat Anna den Gang. Er rief ihren Namen, doch sie reagierte nicht, sondern ging immer weiter auf eine schmale Tür am Ende des Ganges zu. Er stand dicht hinter ihr, als ihm der Gedanke kam, dass dies Annas Mutter sein könnte. Das würde die Ähnlichkeit erklären. Bastian stöhnte im Schlaf leise auf. Warum träumte er von ihrer Mutter?
Durch die Tür vernahm er merkwürdige Geräusche. Es klang, als spräche jemand im immergleichen monotonen Singsang eine Formel vor sich hin, einen Zauberspruch oder einen Fluch. Bastians Herz raste. Er konnte die Gefahr beinahe körperlich spüren. Dann öffnete die Frau die Tür, und ein Mann fiel wie in irrer Raserei über sie her. Das Monstrum traf sie am Kopf und sie stürzte zu Boden. Gerade als Bastian sie auffangen wollte, lief ein weiterer Mann in den Raum und stieß den Irren zur Seite. Bevor Bastian sich von dem Schrecken erholen konnte, sah er Anna. Sie ging, begleitet von einem blonden Mann, auf die Tür zu.
Bastian schrie: »Bleib fort, Liebste!«
Doch sie hörte ihn nicht. Sie sah durch ihn hindurch, als wäre er Luft. Mit aller Kraft, die Bastian besaß, warf er sich vor die Tür. Anna durfte diesen Raum nicht betreten. Doch der blonde Mann schob Bastian achtlos beiseite. Ein greller Blitz schoss durch den Türspalt und Bastian wachte schweißgebadet auf.
Er atmete schwer. Der Vollmond schien durch die Fensteröffnung. Bastian blickte auf seine Hände. Im Mondlicht sahen sie blutleer aus. Fast, als hätte sie jemand verhext. Bastian gähnte und drehte sich auf die andere Seite. Er musste einen ruhigeren Traum finden. Vielleicht konnte er Anna am Rhein treffen, wenn er sich nur genug anstrengte. Mit diesem Gedanken verfiel er erneut in einen unruhigen Schlaf.
...
Pfarrer Johannes stand in der Schmiede und drehte eine goldene Münze zwischen seinen Fingern. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, die Inschrift zu entziffern.
»Mein Augenlicht trügt mich«, jammerte er vor sich hin. »In meinem Alter erlegt der Herr uns immer mehr Prüfungen auf. Wie soll ich mit solch schlechten Augen diese Münze erkennen?«
Bastian nahm ihm die Münze aus der Hand und betrachtete die Figur des stehenden St. Petrus, der in seiner rechten Hand die Schlüssel zum Himmelsreich hielt. Er trug einen Heiligenschein und mit der linken Hand umfasste er ein Buch, das Buch des Lebens. Den Schriftzug, der sich am Rand der Münze befand und der nur vom Heiligenschein des St. Petrus und seinem Wappen unterbrochen wurde, konnte Bastian nicht lesen.
»Die Münze ist abgegriffen. Die Buchstaben heben sich kaum mehr vom Grund ab.« Bastian gab Pfarrer Johannes das Geldstück zurück. Dieser runzelte nachdenklich die Stirn.
»Wisst Ihr eigentlich noch, was man sich über den Erzbischof Dietrich von Moers erzählte?« Bastian schüttelte den Kopf.
»Er hat vor ungefähr vierzig Jahren Goldgulden nachgeprägt.« Bastian sah Johannes erstaunt an. »Meint Ihr damit, er hat Goldgulden gefälscht?«
Pfarrer Johannes nickte. »Ja, genau das meine ich. Er hat das Gold mit minderwertigen Substanzen gemischt und dann versucht, es in Köln unter die Bevölkerung zu bringen. Die Stadt Köln hat den Betrug jedoch entdeckt und die Münzen abgewertet. Sie waren nur noch 14 Weißpfennige wert. Für einen echten Goldgulden bekam man damals 24 Weißpfennige.« Pfarrer Johannes blinzelte. »Und genau, wie bei dieser Münze hier, konnte man den Schriftzug nicht entziffern. Der Schnitt der Nachprägung war viel zu roh.«
»Das würde bedeuten, dass diese Münze nicht alt und abgenutzt, sondern neu und schlecht geprägt ist?« Bastians Gedanken ratterten. Er hatte den buckligen Gilig mit einem Säckchen Münzen an der Stadtmauer erwischt und der ermordete Schmied, Matthias Honrath, hatte diesen falschen Goldgulden dabei. Eine Stimme in Bastians Inneren meldete sich zu Wort: »Und das Leinentuch, in welchem die Goldmünze versteckt war, war voll von schwarzem Ruß.«
»Es muss hier noch weitere Münzen geben. Wernhart, hast du dort hinten in der Ecke nachgeschaut?«
Wernhart hatte jeden Zentimeter der Schmiede durchsucht. Er zuckte mit den Schultern. »Hier gibt es keine Münzen.«
Bastian schüttelte den Kopf. »Nein, wenn Pfarrer Johannes recht hat und dieser Gulden eine Fälschung ist, muss es noch andere Münzen geben.« Bastian sprang auf. »Ich weiß, was wir als Nächstes tun. Wir statten dem buckligen Gilig einen Besuch ab und diesmal kommt er nicht so einfach davon!«
...
»Ist das dein Ernst?« Christan konnte es nicht glauben. August hielt ein flauschiges Wollknäuel in den Armen. Der Welpe leckte inbrünstig seinen Hals und August kicherte. Er konnte es selbst kaum glauben, aber er mochte diesen kleinen Köter. Er wollte Christan eine Freude bereiten, deshalb hatte er den Welpen besorgt. Gut, er war der Einzige aus dem ganzen Wurf, der überlebt hatte, aber das musste Christan ja nicht wissen. Einen Besitzer hatte dieser Welpe auch nicht mehr. Niemand konnte den Diebstahl anzeigen. August hatte alles ganz genau geplant. Amüsiert beobachtete er seinen Zwillingsbruder, wie dieser mit großen Augen den winzigen Rüden in die Arme nahm. August wusste, dass sie beide sich so wenig ähnelten wie Tag und Nacht. Trotzdem war Christan sein Bruder und manchmal konnte er fühlen, dass er ihn liebte. Zumindest war Christan von seinem Blut. Dies alleine genügte, um ihn zu schonen.
August würde niemals seinen Blutrausch an ihm auslassen. So nannte er das Gefühl, welches ihn beschlich, wenn er töten musste. Es war der Fluch. Eine alte Frau aus Stürzelberg hatte August davon erzählt. Seine Mutter war verflucht worden und ihn hatte es getroffen. Er war der kalte Zwilling, in dessen Inneren das Böse gedieh. Während Christan voller Liebe war, konnte er nichts als Leere empfinden. Das Einzige, was ihm Befriedigung verschaffte, war Macht. Er bewunderte Bastian Mühlenberg mit seinem breiten Schwert. Niemand stellte sich ihm in den Weg. Er war groß und kräftig. Er besaß Macht in Zons. Auch Pfarrer Johannes war ein mächtiger Mann. Mit seinen Predigten zog er die Menschen in seinen Bann. Dies war eine andere Art von Macht, aber dafür eine sehr wirkungsvolle. Nun, und dann gab es eine weitere Macht, die über Leben und Tod. Ein Dieb und Nichtsnutz von der anderen Rheinseite hatte ihn gelehrt, wie man diese Macht ausüben konnte. Als er erwischt und gehängt wurde, war August gerade einmal neun Jahre alt gewesen. Nie würde er die Erregung vergessen, die er gespürt hatte, als das Leben aus dem Körper des Mannes wich. Wie das Licht in seinen Augen erlosch, während der Körper immer noch verzweifelt zuckte und nach Luft schnappte. Der Henker entschied, ob das Opfer starb oder überlebte. Nicht selten wurde ein Taugenichts ohne gebrochenes Genick vom Galgen geschnitten, um am nächsten Tag wieder unter den Lebenden zu weilen.
Außer seinem Zwillingsbruder kannte niemand seine wahre Natur. August besaß die seltene Gabe, sich vollkommen an die Umwelt anzupassen. Selbst Martha, seine Tante und Stiefmutter, hielt ihn für einen wohlgeratenen Burschen. Obwohl sie den Fluch genau kannte, konnte August sie glauben machen, dass er genauso gutherzig war wie sein Zwillingsbruder Christan.
Der Welpe bellte. Ein erstaunlich tiefes »Wuff« ertönte aus dem schmalen Körper. August betrachtete ihn interessiert. Der Kleine hatte Überlebenswillen bewiesen. Deshalb hatte er entschieden, ihn nicht zu töten.
Wieder sah er die finstere Nacht vor sich. Stundenlang hatte er vor dem Haus der alten Witwe gelauert. Er hatte so lange gewartet, bis sie sich auf das ärmliche Strohlager niederließ, welches sie notdürftig errichtet hatte. Die dumme Gans fühlte sich sicher in der zerfallenen und verlassenen Bauernhütte, doch sie irrte sich.
August selbst hatte dem Bettelweib diesen Unterschlupf empfohlen. Wie dankbar sie ihm gewesen war. Er grinste. Es bereitete ihm Vergnügen, das Schicksal von Menschen zu bestimmen. Er hatte kein Mitleid mit ihr. Sie führte ein sinnloses Leben. Niemand würde sie vermissen. August erinnerte sich genau, wie er sie an einen Holzbalken gefesselt hatte. Sie hatte ihn angefleht, Mitleid zu zeigen. Doch dieses Gefühl war ihm vollkommen fremd.
Nachdem er sie festgezurrt hatte, nahm er sich die Hunde vor. Zuerst wollte er die Hündin erdrosseln, doch im letzten Moment überlegte er es sich anders. Er wollte sie leiden sehen und er bekam, was er begehrte. Die Hündin verteidigte ihre Welpen bis zum letzten Atemzug, während das Bettelweib so laut jammerte, dass er ihr schließlich einen Knebel in den Mund steckte.
Mit den Welpen hatte er leichtes Spiel. Einer nach dem anderen hauchte sein Leben aus, ohne sich großartig zu wehren. Nur ein kleiner Rüde biss ihm in die Finger und ließ nicht mehr los. Mit erstaunlicher Kraft hatte er sich so festgebissen, dass August ihn mehrfach mit aller Wucht auf den Boden dreschen musste, bis er ohnmächtig aufgab. Aber selbst dann knurrte er noch. Dies war der Moment, in dem August entschied, den kleinen Kämpfer am Leben zu lassen. Seine Blutgier war nach diesem Akt in höchstem Maße gestillt. Er empfand keine Lust mehr, die Alte zu erdrosseln. Also machte August es sich einfach und legte stattdessen ein Feuer zu ihren Füßen. Mit wohligem Schaudern sah er dabei zu, wie sie im giftigen Qualm erstickte.
Ein erneutes »Wuff« riss August aus seinen Gedanken. Christan tollte ausgelassen mit dem Welpen herum. Doch diesmal konnte die Freude seines Zwillingsbruders die Leere in ihm nicht ausfüllen. Mit kaltem Blick betrachtete August das Spiel der beiden. Dann hatte er genug. Er würde sich sein eigenes Vergnügen suchen.
...
Gilig Ückerhoven humpelte durch die Mauerstraße. Es war helllichter Tag und das Laub fiel in dieser Jahreszeit bereits zu Boden. In der Nacht zuvor hatte es stark geregnet und Gilig musste Acht geben, um nicht auf den glitschigen Blättern auszurutschen. Er war vorgestern mit dem Knöchel umgeknickt, und obwohl der Arzt Josef Hesemann ihm eine übelriechende Salbe verabreicht hatte, ließ das dumpfe Stechen nicht nach. Gilig blickte in den Himmel. Die Sonne hatte ihren Zenit fast erreicht. Er musste sich beeilen.
Das Metall in dem Leinensack lastete schwer auf seinem Rücken, doch Reinhard Nolden hatte ihm verboten, einen Karren zu benutzen. Das wäre zu auffällig, hatte er Gilig vorgehalten. Mit dem Karren hätte er die ganze Last mit einer einzigen Fahrt transportiert. Nur mit seiner Muskelkraft würde er den Weg mindestens fünf Mal zurücklegen müssen. Gilig wusste, dass er nicht besonders hell im Kopf war. Trotzdem fragte er sich, ob es nicht viel auffälliger war, so oft von einem Ende der Stadt zum anderen zu laufen. Er war mit seinem Buckel unschwer zu erkennen. Wenn er an die Alte beim Krötschenturm dachte, konnte sich Gilig lebhaft vorstellen, wie sie mit ihrem Gezeter die ganze Stadtwache auf ihn hetzte. Bastian Mühlenberg war ein anständiger Mann. Aber wenn er diesem Wernhart erneut in die Hände fiel, würde er wenig zu lachen haben.
Gilig stöhnte unter der Last. Noch ein paar Meter, dann hatte er die erste Tour geschafft. Der Zollturm erhob sich vor ihm wie ein riesiger Wächter. Kurz vor dem Turm bog er ab. Geschwind verschwand er im Schatten eines Hauses und trat ein. Laute Stimmen waren zu hören. Sie stritten sich.
»Mehr als zehn Weißpfennige zahle ich Euch nicht für Eure Dienste!«, dröhnte ein tiefer Bass.
»Aber die Münzstätte in Deutz nimmt zwölf Weißpfennige. Wie könnt Ihr von mir erwarten, dass ich diesen Dienst für zehn Weißpfennige verrichte. Ich habe hohe Kosten.«
Der Bass ertönte erneut: «Ihr seid aber nicht die Münzstätte in Deutz und was ich bisher von Euch gesehen habe, war nicht besonders überzeugend. Seht doch selbst. Die Inschrift ist kaum lesbar. Was glaubt Ihr, was es mich kostet, wenn diese Münzen hier keinen Abnehmer finden?«
Die andere Stimme murmelte etwas Unverständliches.
»Zehn Weißpfennige. Das ist mein letztes Wort. Schlagt ein oder ich suche mir einen anderen Münzmeister.« Der Bass hatte einen drohenden Unterton angenommen.
»Also gut.« Die andere Stimme klang aufgebracht. »Dann bestehe ich darauf, dass Ihr mir die Hälfte im Voraus zahlt.«
»So sei es!«, erwiderte der Bass.
Die Stubentür wurde aufgestoßen und ein großer, hagerer Mann in einem prachtvoll bestickten Umhang stieß Gilig grob zur Seite.
»So gebt doch acht!«, dröhnte seine tiefe Stimme, als er schnellen Schrittes das Haus verließ.
»Ach Gilig, da seid Ihr ja.« Die Stimme von Reinhard Nolden klang immer noch unwirsch. »Stellt den Sack hier drüben ab und verschließt die Tür. Ich will nicht, dass uns jemand belauscht.«
Gilig tat wie ihm geheißen und entledigte sich mit einem tiefen Seufzer seiner Last. Sein Rücken schmerzte. Schnell rechnete er nach. Wenn Reinhard zehn Weißpfennige für die Münzprägung bekam, wieso fiel für ihn dann nicht einmal ein Zehntel davon ab? Er mochte seinen Auftraggeber nicht besonders. Bisher hatte er noch nie über seinen mageren Lohn nachgedacht. Er hatte nicht die geringste Ahnung gehabt, wie viel Reinhard Nolden für die Münzen erhielt. Mit zehn Weißpfennigen könnte Gilig einen ganzen Winter ohne Not überstehen.
Gilig verließ ohne ein weiteres Wort das Haus. Seinen Lohn würde er ein anderes Mal mit Reinhard besprechen. Jetzt musste er erst einmal die nächste Ladung transportieren. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und schlich so unauffällig wie möglich zurück zum Krötschenturm. Dort befand sich das Lager für den Schmied. Arglos näherte sich Gilig seinem Ziel, ohne zu bemerken, dass Bastian Mühlenberg und sein Freund Wernhart ihn bereits im Visier hatten. Gerade als Gilig das Lager betreten wollte, bauten sie sich vor ihm auf.
»Wohin des Weges?«, fragte Wernhart mit unfreundlicher Stimme. Er konnte den Buckligen nicht besonders gut leiden und die Reaktion auf seine Frage verriet ihm eindeutig, dass dieser etwas zu verbergen hatte.
Gilig brauchte einen Augenblick, bis er sich von dieser Überraschung erholt hatte. Er blickte ausdruckslos auf seine Schuhspitzen und hob schließlich an: »Ich erledige Botendienste.« Er wartete kurz und fügte schließlich hinzu: »Für die Bruderschaft.«
»Für wen genau erledigt Ihr diese Dienste?« Wernhart baute sich drohend vor Gilig auf. Dieser zuckte unmerklich zusammen.
»Für Reinhard Nolden«, erwiderte er unsicher.
»Und was genau verbirgt sich hinter diesen Botengängen? Schleppt Ihr wieder Münzen durch die Gegend?«
Gilig biss sich auf die Zunge. Was sollte er nur antworten? Er stotterte etwas Unverständliches.
»Sprecht gefälligst so, dass wir Euch verstehen können!« Wernhart packte Gilig grob am Kragen.
»Lasst ihn los!« Die Stimme klang zornig. Erstaunt drehten Bastian und Wernhart sich um.
Reinhard Nolden stand hinter ihnen und funkelte sie böse an. »Was fällt Euch ein, meinen Boten aufzuhalten? Ich gebe heute Abend ein Fest und brauche noch vier weitere Fässer Rotwein.« Reinhard blickte in den Himmel. »Die Sonne hat den Zenit lange überschritten und uns bleibt nicht mehr viel Zeit für die Vorbereitung. Wenn Ihr uns also entschuldigen wollt.« Mit diesen Worten schloss Reinhard das Lager auf. Gilig bemerkte verdutzt, dass er die linke Tür öffnete. Hinter der rechten Pforte verbarg sich das Metall.
Knarrend drückte Reinhard Nolden die schwere Holztür beiseite und ging voran. Bastian und Wernhart folgten ihm auf den Fuß. In diesem Teil des Lagers befand sich nichts außer übereinandergestapelte Holzfässer. Der saure Weingeruch, der ihnen entgegenschlug, ließ keinen Zweifel am Inhalt der Gefäße.
»Nun steht hier nicht so unnütz herum«, fauchte Reinhard den Buckligen an. »Jetzt nehmt schon das nächste Fass und sputet Euch!«
Mit der flachen Hand versetzte er Gilig einen Schlag auf den Hinterkopf. Verwirrt hob Gilig eines der schweren Weinfässer an und lud es auf seinen Rücken. Er zögerte noch einen Moment, weil er nicht so recht wusste, wo er den Wein hinbringen sollte. Doch als Reinhard ihn wütend anzischte, machte er sich hurtig auf den Weg in das Haus seines Auftraggebers.
Bastian und Wernhart blieben unverrichteter Dinge vor dem Lager stehen. Bastian konnte es nicht fassen. Dieser arrogante Reinhard Nolden wollte ihnen einen Bären aufbinden. Er hatte schon Huppertz Helpenstein, den vorherigen Bruderältesten der St.-Sebastianus-Bruderschaft nicht ausstehen können, aber Reinhard übertraf alles. In seinem Innersten spürte Bastian genau, dass er an der Nase herumgeführt wurde. Irgendetwas hatte er übersehen! Doch bevor er seine Gedanken fortführen konnte, ließ eine aufgeregte Stimme ihn aufhorchen.
»Bastian Mühlenberg!«
Die Alte vom Krötschenturm streckte hektisch die Arme in die Luft. »Da seid Ihr ja. Ihr müsst sofort zum Feldtor kommen. Davor haben sie eine verbrannte Leiche gefunden.« Sie schnappte nach Luft. »Die alte Hütte vom Bauern Friedrichs ist abgebrannt. Er wollte die Reste wegschaffen, als ihm verkohlte Knochen in die Hände fielen.«
Bastian musterte die alte Frau zweifelnd. Sicher übertrieb sie ihre Entdeckung maßlos. Wahrscheinlich handelte es sich um Tierknochen. Er sah zu Wernhart hinüber. Dieser verdrehte die Augen. »Wir werden es uns wohl anschauen müssen.«
Lustlos trotteten sie der alten Jonata Heusenstamm hinterher.
...
Die Hütte war nur teilweise abgebrannt. Der Gestank nach verbranntem Fleisch hing in der Luft und verursachte ein flaues Gefühl in Bastians Magen. Der Anblick, welcher sich ihm im Inneren der Hütte bot, ließ Bastian den Geruch auf der Stelle vergessen. Eine halbverkohlte Leiche saß zusammengesunken an einem Holzbalken. Dieser war sichtlich verbrannt, aber offenbar war das Feuer nicht stark genug gewesen, um ihn zusammenbrechen zu lassen. Der untere Teil der Leiche war zu einem Haufen aus Knochen, Fleisch und Asche verschmolzen. Erst von der Hüfte an aufwärts konnte Bastian eine menschliche Gestalt erkennen. Sein Blick blieb auf der Brust der Leiche hängen. Es war eine Frau!
Haare und Gesicht waren bis zur Unkenntlichkeit verkohlt, aber die Wölbungen auf der Brust verrieten ihr Geschlecht deutlich. Statt Augen stierten ihn leere Höhlen an. Der Mund war zu einem letzten Schrei verzerrt. Fünf tote Hundewelpen lagen mit verdrehtem Genick um die Leiche verstreut. Auch ihre Körper waren nur teilweise vom Feuer verbrannt. Bastian hob ein verkohltes Holzbrett an und entdeckte darunter einen weiteren Kadaver, wahrscheinlich die Mutter dieser armen Welpen.
Wernhart, der gerade die Tote untersuchte, schüttelte den Kopf. »Ich kenne diese Frau nicht. Aus Zons wird doch zurzeit niemand vermisst?«
Bastian deutete ein Kopfschütteln an. Er kannte keine Frau aus Zons, die vermisst wurde. Das Städtchen war so klein, dass sich das Verschwinden eines Menschen wie ein Lauffeuer herumsprechen würde. Diese Frau hier war eine Fremde. Er betrachtete die Überreste ihrer Kleidung. Der Stoff wirkte einfach und derb. Wahrscheinlich eine Bettlerin, fuhr es Bastian durch den Kopf, die hier Unterschlupf gesucht hatte. Diese Tote hatte ihm gerade noch gefehlt. Bei der Suche nach dem Mörder des Schmiedes Matthias Honrath war er keinen Schritt weitergekommen und jetzt tat sich schon das nächste Ungemach vor seinen Augen auf. Wenn er nicht völlig den Überblick verlieren wollte, mussten sie sich aufteilen. Zu Wernhart gewandt, sagte er: »Du solltest die Stadtwache befragen. Vielleicht kann sich jemand an ein Bettelweib erinnern, welches in den letzten Tagen in Zons um Almosen gebeten hat. Ich werde noch einmal in die Schmiede gehen. Wir haben irgendetwas übersehen.«
...
Er konnte sich kaum an dem Jungen sattsehen. Sein braunes Haar wehte im Wind und sein Gesicht strahlte eine solche jugendliche Schönheit aus, dass es ihm den Atem verschlug. Gebannt duckte er sich im Dickicht und zog seine Kapuze tiefer ins Gesicht. Die Lichtung lag in warmem Sonnenlicht. Ein kleiner Bachlauf plätscherte munter vor sich hin. Dieser Ort erschien Gilig fast wie das Paradies. Ein Ast knackte und er blickte in die andere Richtung. Da war der zweite Junge. Die Ähnlichkeit war umwerfend. Sie unterschieden sich kaum. Ihre schlanken, drahtigen Jungenkörper faszinierten ihn. Er sog jede Bewegung in sich auf und versuchte, sich diesen Augenblick fest ins Gedächtnis einzuprägen, damit er sich später auf seinem Strohbett daran erinnern konnte. Instinktiv legte er die Hand in den Schritt und bewegte sie hektisch auf und ab. Für einen Moment schloss er die Augen. Nein! Er ließ von sich ab. Später. Er musste wachsam sein. Wenn sie ihn entdeckten, wäre es für immer vorbei. Das würde sein Herz brechen. Also zog er sich weiter in das Dickicht zurück und genoss ihren Anblick, erregt von der Vorfreude über den nahenden Abend und die Nacht, in der er seine Fantasie ausleben konnte.