V.
Gegenwart
Anna erwartete Emily schon. Sie stand vor dem kleinen Häuschen am Zollturm, wo sich ihr Appartement im Obergeschoss befand. »Warum stehst du denn hier in der Kälte?«, wollte Emily wissen. »Mir ist die Decke auf den Kopf gefallen und ich brauchte unbedingt mal frische Luft. Nun schau mich nicht so sorgenvoll an. Ich sterbe nicht an kalter Luft!«, scherzte Anna. »Naja, wenigstens war der Schalk in ihre grünen Augen zurückgekehrt«, dachte Emily und hakte sich bei Anna unter. Lachend gingen sie die Rheinstraße Richtung Süden hinunter und bogen dann in die Schlossstraße ein. Dort machten sie es sich in dem kleinen Eckcafé gemütlich. Es war fast so wie früher und sie unterhielten sich köstlich. »Wie eigenartig«, dachte Emily, »dass Annas Traurigkeit nahezu verflogen war.«
Da erzählte Anna im selben Augenblick, dass sie vor ein paar Tagen spät abends am Rhein spazieren war und dabei fast auf einer Bank eingeschlafen wäre. »Als ich aufstand, waren meine Knochen echt schon total steif und bei den ersten Schritten dachte ich, ich würde barfuß über ein Nagelbrett laufen. Da stand plötzlich so ein Typ vor mir. Im ersten Moment habe ich mich richtig erschrocken und schon geglaubt, dass ich gleich überfallen werde. Aber dann hat er mich total nett angelächelt und mich ganz förmlich gefragt, ob er mich zu so später Stunde nach Hause begleiten dürfte. Stell dir vor, er nannte mich ‚edle Dame‘ oder so. Erst habe ich gedacht, der ist doch völlig durchgeknallt. Mach, dass du hier so schnell wie möglich wegkommst. Doch er hat so ernst und fürsorglich dabei geschaut, dass ich es nicht fertigbrachte, ›Nein‹ zu sagen.«
»Aha«, sagte Emily und grinste Anna dabei an, »und wie heißt deine neue Eroberung?«
Anna wurde rot im Gesicht. »Nein, es ist keine neue Eroberung. Es war einfach nur nett.«
»Komm schon Anna. Gib es wenigstens zu, dass er dein Typ war. Sah er gut aus? Beschreib ihn doch einfach mal!«
»Ehrlich gesagt habe ich so viel von ihm gar nicht sehen können. Es war ja schon ziemlich dunkel und er hatte auch eine Kapuze auf. Aber ich gebe zu, dass er gut aussah. Braune Augen, blonde Haare und ziemlich groß.«
Emily nickte langsam und bedächtig mit dem Kopf und grinste Anna weiter an. Annas Mundwinkel fingen an zu zucken und dann brachen sie beide in schallendes Gelächter aus. Emily war sich sicher, dass Anna schon ein bisschen verknallt war. Konnte doch gar nicht anders sein. Schließlich war sie puterrot im Gesicht geworden, als sie nachgehakt hatte. Es freute Emily. Endlich kam Anna mal auf andere Gedanken. Dieser blöde Martin war die ganze Traurigkeit doch auch gar nicht wert.
»Wie läuft es eigentlich im Job?«, wollte Emily wissen, »was macht der Kampf ums liebe Geld?«
»Ach, jetzt zieh mich nicht wieder auf!«, dachte Anna. Sie kannte Emilys Abneigung gegen alles, was mit Geld oder Kapitalismus zu tun hatte. Aber sie war nun mal mit Leib und Seele Bankerin. Und Emily konnte sich über die Gewinne, die sie mit ihren Investmenttipps gemacht hatte, schließlich auch nicht beschweren. Natürlich reizte Anna nicht nur das Geld, sondern vielmehr das, was man damit anstellen konnte. Sie wollte unbedingt einen eigenen Garten haben. Sie liebte Blumen und die wollte sie gerne auf ihrem eigenen Grund und Boden pflanzen; einen Platz haben, der nur ihr gehörte und an dem sie zu Hause war. Ihr Job bei einer großen Düsseldorfer Bank brachte ihr ein gutes Gehalt ein und bald würde sie genügend zusammengespart haben, um sich den Traum vom kleinen Garten erfüllen zu können.
»Der Job ist stressig, das weißt du doch? Sei froh, dass du ein zweites Studium angefangen hast. Da kannst du dein Leben noch frei von Zwängen genießen!«, neckte Anna und Emily wechselte lieber das Thema. Sie wusste, dass Anna ein liebenswerter Mensch war. Sie war halt praktischer als sie selbst veranlagt und ging immer zielstrebig auf Dinge zu, die sie im Leben erreichen wollte.
»Hör zu. Ich habe dir doch von meiner Reportage erzählt. Ich brauche unbedingt noch Unterlagen aus dem Kreisarchiv und ich wollte dich fragen, ob du mich begleiten könntest? Ich kann echt deine Hilfe gebrauchen.«
Doch Anna sah sie gar nicht mehr an. Stattdessen war sie halb aufgesprungen und blickte aus dem Fenster. »Du Emily, ich glaube, da draußen ist gerade Christopher entlang gelaufen!«
»Quatsch, das kann doch gar nicht sein!«, maulte Emily, enttäuscht von dem abrupten Themenwechsel. Bloß nicht schon wieder diese Geschichte zum tausendsten Mal aufwärmen. Nicht heute. Nicht jetzt.
»Du weißt doch, dass die beiden längst in Berlin sind. Warum sollte Christopher alleine zurückkommen und dann auch noch durch Zons spazieren gehen? Das macht doch keinen Sinn. Du musst ihn verwechselt haben!«
»Hmm, wahrscheinlich hast du Recht«, erwiderte Anna jetzt doch verunsichert. Sie zuckte mit den Achseln. »Ich hätte fast schwören können, dass er es war. Aber es stimmt, es würde absolut keinen Sinn ergeben. Ich muss mich geirrt haben. Das sind wohl einfach meine Nerven. Da habe ich diese unglaubliche Geschichte zwischen Martin und Christopher jetzt endlich mit dem Verstand abgehakt, aber mein Unterbewusstsein gibt offensichtlich immer noch keine Ruhe und spielt mir Streiche!«, sie setzte sich wieder zu Emily und fragte: »Wolltest du nicht gerade etwas fragen? Ach ja, das Kreisarchiv. Klar, ich begleite dich. Lass uns sofort starten!«
Lächelnd sprang sie auf und legte schnell Geld auf den Tisch. »Du bist eingeladen, arme Studentin!«
...
Zehn Minuten später standen sie im Kreisarchiv. Es roch fürchterlich muffig und die Wände waren mit der Zeit von einem grauen Schmutzschleier belegt worden. In Teilen löste sich die alte Tapete bereits von den Wänden ab. Passend zu dieser Optik kam aus einem der hinteren Räume eine mittelgroße, humpelnde Gestalt auf sie zu. Der Archivar hatte dünnes, graues Haar. Seine dicke Hornbrille war so groß, dass sie fast sein ganzes Gesicht bedeckte. Er hatte seine dunklen, stumpfen und leblosen Augen starr auf sie gerichtet und fragte: »Was kann ich für die Damen tun?«
Dabei verzog ein hässliches Grinsen sein Gesicht zu einer Grimasse, der zumindest ein Schneidezahn fehlte.
»Wir suchen Unterlagen zu den Zonser Morden aus dem Jahr 1495.«
»Oh, Sie sind auf der Suche nach dem Puzzlemörder?«
Ohne sie noch eines weiteren Blickes zu würdigen, drehte er sich um und humpelte zurück in den hinteren Raum. Von dort war ein raschelndes Geräusch zu hören, so als ob er große Mengen an Papier durchwühlen würde. Anna und Emily schauten sich an. Beiden war nicht ganz wohl zumute, aufgrund dieser merkwürdigen Umgebung. »Ich bin froh, dass du mich begleitet hast«, flüsterte Emily. »Ich auch. Das ist echt ein schauriger Ort hier!«, hauchte Anna leise zurück in Emilys Ohr, damit dieser schräge Archivar bloß nichts von ihren Worten mitbekam.
Es dauerte nicht lange und er kam zurück zu Anna und Emily in den vorderen Raum des Kreisarchivs. Er war mit etlichen Unterlagen beladen und legte diese murmelnd vor ihnen auf dem Tisch ab. »Lassen Sie mich mal schauen«, brummte er in sich hinein. »Ah, hier ist es. Hier haben wir einmal die persönlichen Notizen von Bastian Mühlenberg und da haben wir auch die Aufzeichnungen des Arztes, der damals die Morduntersuchungen begleitet hat. Es gibt noch ein paar spätere Chroniken. Die von Josef Hugo könnte interessant sein. Zumindest war er mal Schöffe in Zons. Das muss so um 1760 gewesen sein. Könnte auch schon zu spät sein, für den Puzzlemörder. Sie müssen im Detail nachlesen, wer was über diese Morde geschrieben hat. Das war jedenfalls eine ganz schöne Aufregung damals für das kleine friedliche Zons! Man stelle sich nur vor, ein bekannter Meuchelmörder schafft die Flucht aus dem Juddeturm und fängt dann an, in Zons zu morden.«