X.
Gegenwart
Hans Steuermark saß ungewöhnlich ruhig an seinem Schreibtisch. Er hielt den Kopf gesenkt, stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Schreibtisch ab und massierte dabei seine Schläfen. Die Bilanz der letzten Wochen sah katastrophal aus. Seine beiden besten Ermittler musste er wegen groben Fehlverhaltens suspendieren oder versetzen. Seine neue Ermittlerin hatte im Team fast keine Akzeptanz und seit heute Morgen hatte er einen neuen Leichenfund auf dem Tisch. Steuermark spürte ein dumpfes Ziehen im Kopf, das den Druck auf seine Schläfen noch erhöhte. Kopfschmerzen konnte er jetzt gar nicht gebrauchen. Er wusste, dass Petra Ludwig eine hervorragende Ermittlerin war. Seine Mannschaft tat sich einfach schwer damit, eine Frau als leitende Kriminalbeamtin zu akzeptieren. Die Tatsache, dass sie ohne Partner ermittelte, erschwerte die Lage weiter. Dies entsprach nicht Steuermarks Vorstellungen von guter Polizeiarbeit.
Der neue Mord wies ganz klar auf einen Serientäter hin. Die Abstände zwischen den Morden wurden immer kürzer und Steuermark konnte den Blutdurst des Täters regelrecht spüren. Er würde nicht aufhören.
Erneut nahm sich Steuermark das Blatt Papier mit dem vorläufigen Untersuchungsergebnis des Ermittlungsverfahrens gegen die beiden Kriminalbeamten Oliver Bergmann und Klaus Gruber vor. Eigentlich ging Steuermark lieber auf Nummer sicher, aber diesmal würde das wohl nicht funktionieren. Mit einem Seufzer wählte er eine Telefonnummer und wartete. Der leitende Polizeidirektor hob sofort ab.
»Steuermark! Auf Ihren Anruf habe ich schon gewartet.« Die Stimme des Polizeidirektors schnurrte nervös am anderen Ende der Leitung. »Bitte sagen Sie mir, dass Sie kurz davor sind, dieses Monster zu verhaften!«
Hans Steuermark ließ zwei Sekunden verstreichen, ehe er antwortete: »Ich brauche Bergmann und Gruber zurück. Dringend!«
...
Kevin blickte auf die Uhr und sprang auf sein Mountainbike. Er war verdammt spät dran. In fünfzehn Minuten fuhr seine Bahn vom Dormagener Hauptbahnhof in Richtung Köln ab. Seine Mutter hatte ihn den ganzen Morgen mit ihren Sorgen genervt. Warum nur konnte er nicht einfach ausziehen und das Studentenleben in Köln genießen. Stattdessen lebte er in diesem mittelalterlichen Städtchen Zons, welches für seine Generation wenig zu bieten hatte. Mit hoher Geschwindigkeit bretterte Kevin über die Schloßstraße, die ihn auf direktem Weg am früheren Feldtor vorbei auf die Aldenhovenstraße führte. Der Hauptbahnhof Dormagen war eine einzige Baustelle. Seit Monaten wurde hier gebaggert und abgerissen. Natürlich gab es Verzögerungen beim Bau des neuen Bahnhofsgebäudes und Kevin musste einen großen Bogen fahren, um auf den Bahnsteig zu gelangen.
Er musste heute zu einem Seminar mit Anwesenheitspflicht. Molekularbiologie interessierte ihn zwar überhaupt nicht, aber ohne die Teilnahme an diesem Kurs würde Kevin seinen Schein nicht bekommen und ein ganzes Semester seines Medizinstudiums verlieren. Glücklicherweise hatte Kevin sich eine Methode erarbeitet, wie er seiner Anwesenheitspflicht nachkommen konnte, ohne wirklich anwesend zu sein. Der Hörsaal befand sich im Erdgeschoss des Universitätsgebäudes. Er besaß zwar nur einen Ausgang, der sich in Sichtweite und damit unter voller Kontrolle des Professors befand, aber es gab am Ende des Hörsaals einen Zugang zu einer kleinen Toilette, der sich hinter einer Nische verbarg. Kevin grinste schelmisch und tastete nach dem Schraubenzieher in seiner Hosentasche. Seine Mutter hatte ihn heute Morgen genervt, aber der Professor für Molekularbiologie würde das ganz gewiss nicht mehr tun.
...
Petra Ludwig betrat zum ersten Mal in ihrem Leben die medizinische Fakultät der Universität zu Köln. Im Gebäude selbst roch es fast wie in einem Krankenhaus. Petra merkte, wie sich ihr Bauch meldete. Sie hasste Krankenhäuser. Dies war der Grund, warum sie letztendlich mit ihrem Reizdarmsyndrom bei der indischen Heilkunst Ayurveda gelandet war. Der Stress in den letzten Tagen bekam ihr gar nicht gut. Obwohl sie sich akribisch an ihren neuen Ernährungsplan hielt, machten ihre männlichen Kollegen und diese Mordserie ihr wahnsinnig zu schaffen. Sie fühlte sich alleine gelassen. Ihr Recherche-Team arbeitete ihre Vorgaben zwar ab, aber sie spürte die Ablehnung, die sie ihr entgegengebrachten, fast körperlich.
Ingrid Scholten, die Leiterin der Spurensicherung, war da schon eine größere Hilfe. Zwar hatte das Labor alle Hände voll zu tun und für Petra ging alles viel zu langsam voran, aber man behandelte sie freundlich und hilfsbereit. Petra musste an ihren Chef Hans Steuermark denken. Eigentlich war er ein herzensguter Mensch, aber eben auch ein ziemlicher Sturkopf. Petra war sich recht sicher, dass er seine Entscheidung, Oliver Bergmann nach Frankfurt an der Oder zu versetzen, längst bereut hatte. Aber irgendwie standen seine felsenfesten Prinzipien ihm im Weg.
Petra hatte extra nachgeforscht und wusste, dass der vorläufige Untersuchungsbericht Bergmann und Gruber im Wesentlichen entlastete. Aber Steuermark hatte ihr unmissverständlich klar gemacht, dass er vor Abschluss der Untersuchungen und Vorliegen des finalen Ergebnisses nicht aktiv werden würde.
Petra spürte, dass die ganze Last dieser Ermittlungen auf ihren Schultern lag. Sie fühlte sich dieser Situation nicht gewachsen. Natürlich ließ sie sich das nach außen hin nicht anmerken, aber es kostete sie viel Kraft und ihr Darm fuhr mittlerweile Achterbahn mit ihr. Heute Morgen hatte sie sich nur mit Hilfe von Schmerztabletten dazu überwinden können, aus dem Bett zu steigen.
Petra Ludwig lief durch einen langen, mit hellgrünem Linoleum ausgelegten Flur zum Vorlesungssaal. Sie lief schnellen Schrittes hindurch in das Hinterzimmer, das Professor Neuhaus als Büro diente. Obwohl er nicht, wie der Biologe Hans-Peter Mundscheit, in seinen privaten Wohnräumen ermordet wurde, kam ihr dieser Tatort vollkommen gleich vor. Er spiegelte dieselbe Brutalität und Kaltblütigkeit wider.
Sie brauchte gar nicht genau hinzuschauen. Petra wusste auch so, was sie vorfinden würde. Die Finger waren amputiert und diesmal vor dem Fenster auf einer Nylonschnur aufgehängt worden. Das Opfer lag auf dem Boden. Die Blutgefäße am Oberschenkel waren freigelegt und hingen schlaf herunter. Das Büro ähnelte einem Schlachtfeld. Die weißen Wände waren mit Blutspritzern übersät und unter der Leiche staute sich die rote Flüssigkeit zu einem See.
Professor Neuhaus war 65 Jahre alt gewesen und hatte kurz vor seiner Pensionierung gestanden. Er wirkte selbst im Tod noch gefasst. Zwar war sein Mund zu einem Schrei geöffnet, aber dieser glich eher einem erschrockenen »Oh« als einem panischen Schmerzenslaut. Petra sah genauer hin. Diesmal hatte der Mörder alle Finger amputiert. Das war merkwürdig.
Beim letzten Mal war sie davon ausgegangen, dass er die Lust an der Amputation verloren hatte. Sie dachte, es wäre für ihn wie ein Vorspiel, welches ihn vom eigentlichen Ziel abhielt. Demnach hätte er diesmal noch schneller vorgehen müssen. Nach Petras Lesart sollten weniger als acht Finger amputiert sein.
»Er hat es genossen. Es erinnert mich an den Mord an Sophia Koslow.« Ingrid Scholten stand im Türrahmen und brachte ihre Gummihandschuhe in die richtige Position. Petra versuchte, ihre Worte nachzuvollziehen. »Warum hat er es beim letzten Mal nicht genossen?«
»Wenn wir es hier mit einem eiskalten Mörder zu tun haben, der Spaß daran hat, seine Opfer leiden zu sehen, dann ist es für ihn eine größere Herausforderung, wenn sie nicht so schnell aufgeben.«
Petra nickte. Vielleicht hatte Ingrid Scholten recht. Sophia Koslow war eine Prostituierte, das Leben hatte sie mit Sicherheit hart gemacht. Professor Neuhaus‘ Leiche wirkte wie die eines Indianers, der mit Würde durch die Folter und in den Tod gegangen war. Petra versuchte, sich an das Gesicht des zweiten Opfers, Hans-Peter Mundscheit, zu erinnern. Es war zu einem grauenvollen Schrei verzerrt gewesen.
Petra betrachtete die präparierte Haut auf dem Oberschenkel der Leiche. Es war präzise Arbeit.
»Wenn ich mich richtig erinnere, wurden die Schnitte bei Hans-Peter Mundscheit nicht mit dieser Sorgfältigkeit ausgeführt. Ich werde im Labor prüfen, ob es sich immer noch um denselben Täter handelt. Aber ich gehe davon aus.« Ingrid Scholten klappte ihren silbernen Koffer auf und machte sich mit einem kleinen Pinsel am Schreibtisch des Opfers zu schaffen.
»Ich glaube nicht, dass ich irgendwelche Spuren vom Täter finde. Aber man weiß ja nie.«
Petra machte sich keine Hoffnungen darauf. Der Täter war kontrolliert und gefühlskalt, da war sie sich sicher. Bisher hatte sie immer noch keinen Zusammenhang zwischen den ersten beiden Opfern entdeckt. Aber der Biologe und das neue Opfer waren beide an der Universität zu Köln tätig. Vielleicht hatten sie einmal zusammengearbeitet. Das musste Petra unbedingt herausfinden. Sie lief zurück auf den Flur und sprach eine junge Ärztin in einem weißen Kittel an, die erschrocken einen Schritt zurückwich. »Wo finde ich die Klinikverwaltung?«
...
Anna Winterfeld kramte auf dem Dachboden ihrer Mutter in einem Karton. Emily saß direkt neben ihr.
»Schade, dass wir nicht einfach zu diesem gruseligen Alten ins Stadtarchiv nach Zons fahren können.« Emilys Stimme klang genervt. Sie mochte es nicht, wenn sich die Dinge in die Länge zogen. Ihre Reportage hatte zwar schon ein ordentliches Ausmaß angenommen, aber ihr fehlten weitere Praxisfälle.
Annas Mutter, die als Krankenschwester bereits in mehreren psychiatrischen Kliniken tätig gewesen war, hatte diverse Berichte über deren Insassen gesammelt. Teilweise waren die Zeitungsartikel über zwanzig Jahre alt und das Material war thematisch sortiert. Eigentlich sollten sie schnell vorankommen, aber Emily hatte das Gefühl, dass ihr immer noch das Salz in der Suppe fehlte.
»Im Mittelalter gab es das Wort Psychopathen noch gar nicht. Wir könnten höchstens weitere Mordfälle heraussuchen und analysieren, ob der Mörder ein psychopathisches Persönlichkeitsprofil hatte.« Annas Stimme klang vor Anstrengung heiser. Sie hatte mittlerweile einen riesigen Stapel alter Zeitungsausschnitte durchgeblättert.
»Ich weiß«, seufzte Emily. »Aber wir können im Nachhinein ja keinen Hare-Test mehr anwenden und ich will nicht, dass meine Reportage wie ein Bericht aus den Klatschspalten wirkt.«
Anna nickte. Sie hatte sowie keine Lust, ins Stadtarchiv zu gehen. Der Kreisarchivar Dietrich Hellenbruch war ihr suspekt. Mehr als einmal hatte sie sich wie ein kleines Mädchen vor ihm gefürchtet. Ein Gedanke an Bastian Mühlenberg blitzte plötzlich in ihrem Kopf auf. Dort im Stadtarchiv hatte sie ein Porträt von ihm entdeckt, welches heute in ihrer Nachttischschublade lag. Manchmal betrachtete sie es, bevor sie einschlief. Vielleicht konnte sie noch mehr über Bastian Mühlenberg herausfinden, wenn sie wieder im Stadtarchiv recherchierten. Lautes Klimpern unterbrach Annas Traumwelt. Goldene und silberne Münzen purzelten aus einem alten ledernen Buch und verteilten sich klirrend über dem Boden.
»Die sind ja alt. Wo hat deine Mutter die her?«
Anna zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Ich wusste nicht einmal, dass sie sich überhaupt für Münzen interessiert, geschweige denn welche besitzt.«
Sie nahm eine helle Goldmünze in die Hand. Ein Mann, wahrscheinlich ein Heiliger mit einem Schlüssel und einem Buch in der Hand, war auf der einen Seite der Münze zu erkennen. Anna versuchte die Inschrift zu entziffern, aber sie war viel zu undeutlich. Sie hielt die Münze vor Emilys Nase. »Hier, du kannst doch alte Schriften entziffern. Was steht dort?«
Emily starrte angestrengt auf die Inschrift. »Keine Ahnung. Die Münze sieht jedenfalls uralt aus und ist völlig abgenutzt.« Achtlos steckte sie die Münze in das Lederbuch zurück.
»Vielleicht hast du recht. Wir sollten dem kauzigen Archivar noch einen Besuch abstatten. Wenn wir einen interessanten Mordfall entdecken, könnte ich Professor Morgenstern bitten, den Täter für uns zu analysieren. Das ersetzt zwar keinen echten Hare-Test, aber immerhin ist das Urteil eines bekannten deutschen Klinikleiters so etwas wie ein wissenschaftlicher Ansatz.«
...
Das Kreisarchiv lag in der Schloßstraße 1 mitten in Zons und hatte sich seit ihrem letzten Besuch nicht verändert. Dietrich Hellenbruch stand hinter seinem Tisch und schob seine dicke Hornbrille den Nasenrücken hinauf. Eine graue, fettige Haarsträhne fiel ihm dabei ins Gesicht und er strich sie hastig nach hinten.
»Guten Morgen, meine Damen. Sind Sie mal wieder auf der Suche nach Unholden aus der Vergangenheit?« Seine Stimme klang freundlich.
Emily trat einen Schritt vor und begrüßte den schrulligen Alten. »Wir wollten herausfinden, ob es weitere Morde in Zons gab, die sich im fünfzehnten Jahrhundert ereignet haben. Wir sind auf der Suche nach psychopathischen Täterprofilen.«
Der Kreisarchivar schluckte. »Sie sind auf der Suche nach was?« Er blickte Emily durchdringend an. Dieses junge hübsche Ding hatte offensichtlich eine enorm dunkle Seite. Alle paar Monate stand sie hier bei ihm, in seinem Archiv, und wollte neue Gruselgeschichten hören. Dietrich Hellenbruch hatte nicht die geringste Ahnung, was sie mit einem psychopathischen Täterprofil meinte. »Sie bekommen wohl einfach nicht genug, junge Dame. Ich habe Ihnen alles über den Puzzlemörder erzählt und auch über den Missetäter, der seine Opfer mit einer goldenen Sichel tötete. Ihretwegen bin ich mehr als einmal in Schwierigkeiten geraten!« Wehmütig dachte Dietrich an das Porträt von Marie Mühlenberg, dem Weib des Soldaten der Zonser Stadtwache und daran, wie die Kriminalpolizei dieses Bild für ihre Ermittlungen beschlagnahmt hatte. Es hatte ihn Monate gekostet, es zurückzubekommen. Viel schlimmer war jedoch die Tatsache, dass er seine lebende Marie nicht mehr sehen durfte. Bevor Emily Richter mit ihrer Freundin hier aufgetaucht war, war er jeden Tag zu McDonalds gefahren, nur um dieses wundervolle Mädchen - welches der mittelalterlichen Marie bis aufs Haar glich - zu betrachten. Doch dann war alles schiefgelaufen. Seine Marie, oder Sandra Schwanengel - so lautete ihr richtiger Name - hatte ihn wegen Belästigung anzeigen wollen. Jetzt konnte er sie nur noch durch ein Fernrohr betrachten. Das hatte ihn eine Stange Geld gekostet und es war nicht dasselbe. Er blickte Emily ins Gesicht. Dieses junge Ding hier brachte ihm immer nur Ärger! Eigentlich sollte er ihr diesmal nicht helfen.
»Das sind besonders gefühlskalte Täter. Sie können keine Angst, keine Reue und keine Liebe spüren.« Emily lächelte den Archivar aufmunternd an.
Dietrich Hellenbruch seufzte. Wenn dieses junge Ding ihn mit feurigen Augen anlächelte, konnte er nicht widerstehen.
»Also gut, dann lassen Sie uns nachschauen.«
Der Kreisarchivar verschwand in einem kleinen Hinterzimmer und kam nach einer Weile mit einem dicken alten Buch wieder heraus. Abermals schob er seine Brille nach oben und blätterte dann angestrengt in den staubigen Seiten.
»Lassen Sie mich mal schauen«, murmelte er, während seine Finger langsam über die abgenutzten Seiten fuhren. »Hier habe ich etwas.« Sein Finger hielt inne. »Im Herbst des Jahres 1496 wurde der Zonser Schmied ermordet in einem kleinen Wäldchen vor den Stadtmauern aufgefunden. Dem Knaben Tilmann wurden drei Finger von einem Unbekannten in einer schwarzen Kutte abgerissen. Eine verbrannte Frauenleiche wurde vor den Stadttoren entdeckt.«
Der Kreisarchivar fuhr mit seinem Finger weiter nach unten. »Und Bastian Mühlenberg hat eine Bande von Münzfälschern dingfest gemacht. Ist davon etwas interessant für Sie?« Dietrich Hellenbruch klappte das Buch zu und betrachtete Emily mit lüsternem Blick.
Emily sah ihm nicht in die Augen. »Gibt es denn Beschreibungen zu den Tätern? Vielleicht wurde ein Verhör aufgezeichnet.«
Dietrich Hellenbruch schüttelte missmutig den Kopf. »Das sind uralte Mordfälle. Die Befragungen, die meist im Juddeturm stattfanden, wurden nicht protokolliert. Die Stadtwache war früher viel zu sehr mit ihren Foltermethoden beschäftigt. Niemand hätte freiwillig den Protokollführer gespielt.« Der Kreisarchivar setzte ein teuflisches Grinsen auf. Er hatte sich so in Rage geredet, dass dabei ein paar große Speicheltropfen durch die Luft sausten. Emily sprang angewidert einen Schritt zurück.
Der Archivar ließ sich nicht beirren. Er wischte sich mit einer hastigen Geste die Lippen trocken und fuhr fort: »Es könnte sein, dass Bastian Mühlenberg bestimmte Auffälligkeiten in seinen Notizbüchern vermerkt hat, aber das ist in meiner Übersicht nicht dokumentiert.« Emilys enttäuschter Blick ließ Dietrich Hellenbruch in seinem Redeschwall stocken. Seine Augen wanderten von ihren großen rehbraunen Augen hinab zu ihrem schlanken weißen Hals. Die Begierde ließ seinen Mund feucht werden. »Also gut. Sie erinnern sich doch noch an den Karteikasten hinten bei den großen Archivregalen? Schauen Sie dort nach. Die Notizbücher von Bastian Mühlenberg liegen alle im Regal B80.« Mit diesen Worten humpelte Dietrich Hellenbruch in Richtung der Toilette davon und ließ Anna und Emily alleine im Vorraum des Kreisarchivs stehen.
...
Petra Ludwig spürte, wie sich langsam Blasen unter ihrem großen Zeh bildeten. Verflucht, in der Eile hatte sie vergessen, Socken anzuziehen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Klinikverwaltung der Universität zu Köln sich am anderen Ende des Campus befand. Noch weniger war ihr im Vorfeld klar gewesen, wie groß dieses Gelände eigentlich war. Petra biss die Zähne zusammen. Es konnte nicht mehr weit sein und nach der Befragung würde sie sich in der nächsten Apotheke Pflaster besorgen. Ihr Handy klingelte und lenkte sie augenblicklich von ihren Schmerzen ab. Im Display erkannte sie die Nummer von Ingrid Scholten. Schnell hob sie ab.
»Der Täter muss durch den Lüftungsschacht in das Büro von Professor Neuhaus eingedrungen sein. Ich habe relativ frische Blutspuren am Gitter entdeckt. Meine Mannschaft führt zurzeit genauere Untersuchungen durch. Wir wollen herausfinden, welchen Weg der Täter genommen hat und wo er eingestiegen ist.«
»Das ist ja interessant.« Petra Ludwig wunderte sich, warum er nicht einfach durch die Vordertür hineingegangen war. Die Antwort kam, bevor sie fragen konnte.
»Der Mörder ist intelligent. Der Flur sowie der Vorlesungssaal sind mit Überwachungskameras ausgestattet. Wir hätten also zumindest seine Statur auf dem Video sehen können. Jetzt haben wir keine weiteren Hinweise zu ihm.«
»Wie groß ist der Lüftungsschacht?«, fragte Petra einem plötzlichen Impuls folgend. Dabei fuhr sie sich durch die glatten braunen Haare, die sie normalerweise zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden trug. Heute Morgen war sie wirklich nicht Herrin ihrer Sinne gewesen, dachte sie, als sie den fehlenden Haargummi bemerkte. Ein Umstand, der ihr bisher nicht einmal aufgefallen war.
Am anderen Ende der Leitung war es für einen Moment still. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht!« Die Stimme von Ingrid Scholten klang mit einem Mal aufgeregt. »Es ist ein schmaler Schacht. Unser Täter ist ein zierlicher Mann. Oh mein Gott ...«, ihre Stimme nahm einen fast hysterischen Tonfall an, »es könnte genauso gut eine Frau sein!«
Petra Ludwig blieb auf der Stelle stehen und bemerkte, wie das Brennen unter ihrem Fußballen schlagartig verschwand. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht.« Sie spürte, wie ihr Blutdruck in die Höhe schnellte. Das war ein typischer Anfängerfehler! Sie hatte den Täterkreis von vorneherein auf einen Mann beschränkt. Vielleicht hatte sie deshalb bisher noch keinen eindeutigen Zusammenhang entdecken können. »Danke«, sagte sie kurzangebunden und legte auf. Den Rest des Weges schaffte sie, ohne ein einziges Mal ihre Füße zu spüren.
Der Leiter der Klinikverwaltung, Manfred Kullmann, erinnerte sie an einen Finanzbeamten. Er sah unscheinbar aus, trug eine randlose Brille und hatte graues Haar, welches von einem strengen Seitenscheitel aus zu beiden Seiten am Kopf klebte. Sein kariertes Hemd war mindestens zwei Nummern zu groß und beulte sich über die viel zu weit hochgezogene Hose. Entweder hatte er seinen Modestil in den letzten zwanzig Jahren nicht geändert oder seine Kleidung nie ausgetauscht. Petra Ludwig nahm auf dem harten Bürostuhl Platz.
»Vielen Dank, dass ich so kurzfristig vorbeischauen durfte. Ich habe ein paar Fragen zu Ihren beiden Mitarbeitern Hans-Peter Mundscheit und Professor Hermann Neuhaus.«
Der Leiter der Klinikverwaltung blickte betroffen auf seine Fußspitzen. »Ja, ich bin bereits über die schrecklichen Vorfälle unterrichtet worden.« Er atmete tief durch. »Ich kann es gar nicht fassen, dass unsere Klinik in so kurzer Zeit mit zwei derart großen Verlusten umgehen muss. Haben Sie denn schon eine Spur?«
»Nun, darüber kann ich Ihnen zum derzeitigen Stand der Ermittlungen leider keine Auskunft geben. Ich hoffe, dass verstehen Sie?«
Manfred Kullmann nickte. »Natürlich, das verstehe ich.« Mit schlanken, blassen Fingern tippte er auf der Tastatur seines Computers herum. Ein lautes Surren ertönte. Das Geräusch verriet Petra, dass er gerade eine Suchanfrage gestartet hatte und der PC arbeitete.
»Ich suche die Lebensläufe der beiden Kollegen heraus. Dann wissen Sie genau, wann sie in unserer Klinik angefangen haben und zu welchen Zeiträumen sie auf den verschiedenen Stationen eingesetzt waren.«
»Mich interessiert, ob sie eine Zeitlang zusammengearbeitet haben.«
Das Surren hörte plötzlich auf. »Da haben wir es.« Zufrieden drückte der Verwaltungsleiter auf eine Taste und der Drucker, der auf einem Sideboard unter dem Fenster stand, begann zu quietschen, während er Seite um Seite einzog und anschließend in die Papierablage schob. Manfred Kullmann drückte Petra die Blätter in die Hand. »Sie haben fast fünf Jahre lang zusammengearbeitet«, verkündete er stolz. »Allerdings ist das mittlerweile über 25 Jahre her.«
Petra überflog die Lebensläufe. Endlich hatte sie einen Zusammenhang entdeckt. Die beiden letzten Opfer kannten sich.
»Sie haben etliche gesunde Babys in die Welt gesetzt, als sie zusammen die Kinderwunschklinik führten. Professor Neuhaus hat sich nach ein paar Jahren aus der Praxis zurückgezogen, weil er sich auf die Forschung und die Ausbildung seiner Studenten konzentrieren wollte«, ergänzte Manfred Kullmann »Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie weiterhelfen?«
Petra Ludwig schüttelte den Kopf. Nein, fürs Erste hatte sie genug. Sie musste sich heute noch um Ronny Hammerschmidt kümmern. Vielleicht konnte sie eine Verbindung zwischen ihm und den beiden Medizinern herstellen.
...
»Hören Sie, ich habe Ihnen doch schon gestern am Telefon gesagt, dass ich Ihnen keine Auskunft geben kann.« Die junge Frau im weißen Schwesternkittel schüttelte streng den Kopf. »Sie können gerne mit dem Arzt sprechen, aber hier unterliegt alles der ärztlichen Schweigepflicht und ohne richterlichen Beschluss wird er Ihnen keine Auskunft geben!«
Oliver Bergmann blickte sie bettelnd aus blauen Augen an und versuchte, die Schwester mit seiner Polizeimarke zu beeindrucken. Er hatte es nicht abwarten können. Ohne weiter nachzudenken, war er in den nächsten Zug gesprungen. In Frankfurt an der Oder konnte ihn nichts mehr halten. Er war sich sicher, auf einer vielversprechenden Spur zu sein und nur per Telefon konnte er wenig ausrichten. Er musste wissen, ob Ronny Hammerschmidt gemeinsam mit seiner Frau in der Kinderwunschklinik Köln behandelt worden war.
Sein Handy klingelte. Es war Klaus. »Oliver, es gibt schon wieder einen Toten. Diesmal hat es einen gewissen Professor Neuhaus erwischt. Und jetzt rate einmal, an welcher Universität er tätig war.«
Oliver hielt den Atem an. »Universität zu Köln«, brachte er knapp hervor. Die Schwester horchte auf und blickte ihn böse an.
»Richtig. So viele Zufälle kann es doch gar nicht geben, oder? Hast du schon etwas herausgefunden?«
Oliver warf der Schwester einen ebenso bösen Blick zu und antwortete: »Nein. Ich habe eine Schwester gebeten, mir Auskunft zu erteilen, aber ihr ist es offensichtlich egal, ob sie die Polizeiarbeit behindert!« Entrüstet plusterte sich die junge Frau vor ihm auf. »Sie können sich doch nicht über alle Regeln hinwegsetzen!«
Oliver Bergmann baute sich vor dem Tresen auf. »Kennen Sie Professor Neuhaus?«
»Was geht hier vor?« Die Stimme kam von hinten und Oliver drehte sich um. Ein Arzt mit rundem Gesicht und Nickelbrille stand vor ihm. Oliver holte seine Polizeimarke hervor und hielt sie ihm direkt vor die Nase. »Ich habe Fragen zu Professor Neuhaus und zu einem möglichen Patienten.«
Die Augen des Arztes weiteten sich für einen kurzen Moment, dann sagte er: »Kommen Sie mit. Hier entlang.«
Oliver folgte ihm ins Sprechzimmer und nahm auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz.
»Warum interessieren Sie sich für Professor Neuhaus?«, fragte der Arzt ohne Umschweife.
»Nun, Sie kennen ihn ja offensichtlich und anhand ihrer Reaktion muss ich wohl keine weiteren Erklärungen geben.«
Der Arzt fuhr sich nervös mit der Hand über seinen kahlgeschorenen Schädel. »Ich habe es heute Morgen erfahren. Es ist eine schreckliche Tragödie.« Er schluckte, sichtlich betroffen. »Wissen Sie, Frau Hartweg von der Anmeldung weiß noch nicht Bescheid. Die Klinikverwaltung hat vorerst nur die leitenden Oberärzte informiert und um absolute Diskretion gebeten, bis wir Näheres erfahren.«
Oliver nickte verständnisvoll. »Woher kannten Sie Professor Neuhaus?«
»Er war mein Mentor. Er hat die Kinderwunschklinik gemeinsam mit dem Biologen Hans-Peter Mundscheit aufgebaut.«
»Die beiden haben zusammengearbeitet?« Oliver spürte, dass er auf der richtigen Fährte war. »Wie lange?«
»Oh, das ist schon über zwanzig Jahre her. Es war lange vor meiner Zeit. Aber es müssen einige Jahre gewesen sein.«
Oliver Bergmann lehnte sich über den Schreibtisch. »Ich brauche ihre Hilfe. Es ist sehr wichtig, um mit den Morduntersuchungen voranzukommen. War ein gewisser Ronny Hammerschmidt mit seiner Frau in Ihrer Klinik zur Behandlung?«
Der Arzt zuckte zurück. »Das unterliegt der ärztlichen Schweigepflicht.«
Oliver Bergmann nickte. »Ich weiß, aber mir läuft langsam die Zeit davon.«
Der Arzt zögerte einen Moment. Dann begann er, die Tastatur seines Computers zu bearbeiten. »Sie versprechen mir, dass Sie mit einem richterlichen Beschluss zu mir zurückkommen?«
»Darauf können Sie sich verlassen. Alles was Sie mir jetzt sagen, betrachte ich als vorläufig. Es bleibt unter uns, bis Sie mir das Ergebnis offiziell mitteilen können.«
Der Arzt holte tief Luft. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er sich in seiner Haut nicht wohlfühlte und zwischen Pflichtbewusstsein und Hilfsbereitschaft hin- und hergerissen war. Oliver konnte dieses Gefühl nur allzu gut nachvollziehen.
»Sie waren beide hier in Behandlung. Das ist mittlerweile dreizehn Jahre her. Die Behandlung dauerte fast zwei Jahre, war am Ende jedoch erfolgreich. Frau Hammerschmidt hat Zwillinge zur Welt gebracht.«
»Wissen Sie, ob die Kinder gesund sind?«
Der Arzt runzelte die Stirn. »Nein, das kann ich Ihnen nicht sagen. Wir beenden unsere Aufzeichnungen mit der erfolgreichen Geburt des Kindes. Alles Weitere erfolgt dann bei den Kinderärzten.«
Diese Information genügte Oliver fürs Erste. Er bedankte sich bei dem Arzt und verließ hastig die Klinik.