XI.
Vor fünfhundert Jahren
Das Kloster Brauweiler erhob sich anmutig vor ihren Augen. Bastian Mühlenberg und Pfarrer Johannes zügelten die Pferde und genossen den Anblick. Die Herbstsonne gab dem kalten Stein eine übernatürliche Wärme und die von buntem Laub verfärbten Bäume vor der Abtei verliehen diesem Ort einen Zauber, der nur von Gott selbst kommen konnte. Zwei mächtige Türme ragten rechts und links des Haupthauses empor und ließen keinen Zweifel an der Bestimmung dieses Gemäuers. Das Kloster Brauweiler stellte seit mehr als 100 Jahren den Pfarrer für Zons. Auch Johannes war hier aufgewachsen und hatte in diesen Mauern zu Gott gefunden. Mühsam hievte er sich jetzt vom Pferd. Wie lange war er nicht mehr hier gewesen? Es mussten Jahre sein.
Das schwere Holztor öffnete sich knarrend. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Flügel endlich einen Spalt in der Mitte freigaben. Ein rundlicher Mönch erschien in der Toröffnung und musterte die Besucher prüfend. Als er Pfarrer Johannes erkannte, erhellte sich seine Miene.
»Da seid Ihr ja endlich! Ich habe Eure Nachricht bekommen und konnte es kaum erwarten, Euch zu sehen.« Der Mönch stürzte Pfarrer Johannes zu. Beide umarmten sich heftig.
Johannes war sichtlich gerührt. »Bruder Anselmus, Ihr habt Euch nicht verändert.« Johannes lachte und deutete auf den Bauch des Mönches. »Die Klosterküche scheint Euch immer noch zu schmecken!«
»Richtig, aber Euch scheint es auch nicht schlecht zu ergehen. Obwohl ich den Eindruck habe, dass die Zonser Köche noch nachlegen könnten!« Die beiden brachen in schallendes Gelächter aus und Bastian fühlte sich schon fast unsichtbar.
»Bruder Anselmus«, Johannes legte einen Arm um Bastians Schulter, »dies hier ist mein junger Freund, Bastian Mühlenberg. Ein sehr gelehriger Bursche und schlauer Kopf.«
Anselmus begrüßte Bastian mit einer festen Umarmung und führte seine Gäste in das Klosterinnere. Ein gepflegter, kreuzartig angelegter Garten gab dem Innenhof eine lebendige Atmosphäre. Es duftete nach frischen Kräutern und aus der Kapelle drang Mönchsgesang. Bruder Anselmus durchquerte mit schnellen Schritten den Hof und führte sie durch eine mit aufwändigen Schnitzereien verzierte Pforte. Durch schmale und verwinkelte Gänge gelangten alle drei schließlich in eine große Halle. Dampf waberte durch den Raum. Mehrere Öfen glühten, darauf standen Kessel mit brodelnder Flüssigkeit. Bastian hielt die Luft an. Der stechende Geruch war kaum zu ertragen und trieb ihm Tränen in die Augen.
»Willkommen in meinen Arbeitsgemächern.« Bruder Anselmus schien der Qualm nichts auszumachen. Seine Augen leuchteten freudig. Er stellte drei Becher auf einen Holztisch und goss purpurroten Wein ein. »Zur Stärkung! Bevor wir uns mit den Münzen beschäftigen.« Er hob den Becher an und trank gierig mit großen Schlucken.
Bastian nippte an seinem Wein, während er sich umschaute. Überall standen eigentümlich geformte Gefäße aus Holz oder Glas herum. Zangen und Eisenstäbe hingen an den Wänden und erweckten den Anschein einer Folterkammer. Dies musste die Werkstatt eines Alchemisten sein, durchfuhr es Bastian. Warum war er nicht sofort darauf gekommen. Er holte den Lederbeutel mit den Münzen unter seinem Wams hervor und ließ die goldenen und silbernen Geldstücke über den Holztisch rollen. Bruder Anselmus griff nach einem Goldgulden und inspizierte ihn kritisch.
»Die Prägung ist nicht gut ausgeführt«, stellte er nüchtern fest. »Lasst uns sehen, was alles in dieser Münze steckt.« Er drehte sich um und nahm ein gläsernes Gefäß mit Flüssigkeit aus einem hölzernen Regal. »Dies hier ist Trennwasser«, erklärte er, während er sich an verschiedenen Apparaturen zu schaffen machte. »Es trennt das Gold aus der Münze heraus.«
Bastian runzelte erstaunt die Stirn. Wie sollte das funktionieren? Er kannte die Arbeit des Schmiedes und wusste, dass Bronze, Eisen, Gold oder Silber bei verschiedenen Temperaturen schmolzen und dann bearbeitet werden konnten. Er hatte allerdings noch nie gesehen, wie miteinander verschmolzene Metalle wieder getrennt wurden.
»Seid vorsichtig!«, warnte der Mönch. »In diesem Gefäß ist Säure. Ihr dürft die Flüssigkeit nicht in Eure Augen oder auf die Haut bekommen. Dann werdet Ihr auf der Stelle blind und Eure Gesichter sind entstellt.«
Unbewusst nahm Bastian Abstand vom Tisch und blickte zu Pfarrer Johannes. Dieser betrachtete entspannt, wie Bruder Anselmus die Goldmünze erhitzte.
»Da haben wir es!« Der Stolz in der Stimme des Mönches war nicht zu überhören. Mit geübten Handgriffen stellte Anselmus mehrere Gefäße nebeneinander und nahm eine Eisenzange zu Hilfe. Heißes Metall ergoss sich zischend in kühle Flüssigkeit. Der Mönch wischte sich mit einem Leinentuch die Schweißperlen von der Stirn. Ohne aufzusehen, ergriff er eiserne Gewichte und begann, die einzelnen Gefäße zu wiegen.
»Die Münzen haben einen Kupferkern. Sie sind nicht aus reinem Gold.« Er winkte Bastian und Pfarrer Johannes näher zu sich heran. »Seht. Diese Münze besteht aus nicht einmal halb so viel Gold wie ein echter Gulden.«
Pfarrer Johannes pfiff durch die Zähne. »Dachte ich es mir doch. Wir haben es also tatsächlich mit Münzfälschern zu tun! Ich wusste gar nicht, dass wir in Zons einen Münzmeister haben.«
Eine Silbermünze rollte über den Rand des Holztisches und Bastian bückte sich flink, um sie aufzufangen, bevor sie auf dem Boden aufschlug. Plötzlich schoss ein Pfeil über seinen Kopf hinweg durch den Raum und versenkte sich im Hals des Mönches. Der Angriff kam wie aus dem Nichts.
»Stellt Euch!« Die Stimme klang rau und wütend. Bastian zog sein Kurzschwert und wandte sich mit einer blitzschnellen Drehung dem Angreifer zu. Im Augenwinkel nahm er wahr, wie Bruder Anselmus zu Boden fiel und Pfarrer Johannes zu ihm stürzte. Eine Gestalt in einer schwarzen Kutte stand ihm gegenüber und holte eben zum Schlag mit dem Schwert aus. Tonkrüge fielen scheppernd zu Boden, als Bastian sich in Stellung brachte. Er war ein geübter Kämpfer und wich dem Hieb seines Gegners mühelos aus. Das Schwert schlug hart auf dem Steinboden auf und brachte die schwarze Gestalt aus dem Gleichgewicht. Bastian stürzte sich auf die Kutte, doch er verschätzte sich. Sein hageres Gegenüber war schneller und sprang mit einer Drehung rückwärts. Die scharfe Klinge sauste durch die Luft und traf Bastian am Oberarm. Ein brennender Schmerz betäubte kurz seine Sinne, doch Bastian behielt die Nerven und stürzte dem jetzt fliehenden Angreifer hinterher.
Sie rannten durch die engen Klostergänge, Bastian dicht auf den Fersen des Unbekannten. Plötzlich endete der Gang und sie gelangten ins Freie. Der hagere Mann in der schwarzen Kutte lief über eine Holzhängebrücke und gerade als Bastian den schwarzen Stoff zu Greifen bekam, schwang er sich über das Geländer hinab in die Tiefe. Von unterhalb der Brücke war der Donner von Pferdehufen zu vernehmen, der alsbald verklang. Bastian rang nach Luft und beugte sich über die Brüstung der Brücke, die über den Wassergraben führte, der das Kloster umgab. Sie hing nur etwa drei Fuß breit über der Wasseroberfläche.
Der Angreifer war offenbar direkt auf den Rücken eines Pferdes gesprungen und geflohen. Jede weitere Verfolgung war zwecklos.
Bastian hieb mit der Faust auf das hölzerne Brückengeländer. Verflucht, er war zu langsam gewesen. Er hätte diesen Unhold dingfest machen müssen! Verärgert warf er die dunkle Kutte zu Boden. Er musste nachdenken! Wer war dieser Fremde und warum hatte er es auf sie abgesehen?
...
August befand sich im Paradies. Er war umgeben von einem Reichtum, der ihm bisher völlig fremd war. Innerlich beglückwünschte er sich selbst zu der Geduld, die er bei der Verfolgung des Buckligen aufgebracht hatte. Ohne diese Hartnäckigkeit wäre er nie Zeuge geworden, wie Gilig die rechte Tür des Lagers öffnete. Sie war viel unscheinbarer, als der linke Eingang, nahezu unsichtbar. Im dahinterliegenden Holzverschlag jedoch stapelten sich die mit Gold- und Silbergulden gefüllten Säcke.
Schlagartig erkannte August, was der Schmied damals mitten in der Nacht im Wald getrieben hatte. August hätte ihn nie bezwingen können, wenn er nicht in einem Loch unter der alten Kastanie gegraben hätte. Stundenlang war er in dieser Nacht auf der Jagd nach einem Lebewesen umhergeirrt. Unbefriedigt und lustlos durch die Dunkelheit des kleinen Wäldchens geschlichen, bis er die Geräusche hörte und wenig später den Schmied erblickte.
Matthias Honrath hatte sich vollkommen unbeobachtet und sicher gefühlt. Eine kleine Laterne spendete ihm schwaches Licht. August konnte sich genau daran erinnern, wie sein Herz einen Satz gemacht hatte, als er begriff, dass er den ihm körperlich weit überlegenen Mann in dieser gebückten Haltung überwältigen könnte. Zu diesem Zeitpunkt hatte er noch nie einen Menschen getötet.
Der Schmied war ein Hüne, eigentlich viel zu groß für den ersten Versuch. In seiner Fantasie hatte August sich ausgemalt, ein Kind oder eine Frau zu töten - an einen ausgewachsenen Mann hatte er nie gedacht. Doch der Schmied kniete in Gedanken versunken vor dem Loch und wühlte mit den Händen im Dreck. August konnte sich diese Gelegenheit auf keinen Fall entgehen lassen.
Es war erschreckend leicht gewesen, ihm die Schlinge um den Hals zu legen. Nicht, dass August Angst verspürt hätte, nur hatte er bis zu jener Nacht geglaubt, dass jeder Mensch über einen lebensrettenden Instinkt verfügte. Doch Matthias Honrath besaß ganz offenbar keinerlei innere Stimme, die ihn warnen konnte. Erst als der Strick ihm die Luft abschnürte, begann er, sich zu wehren. August spürte die Erregung bei der Erinnerung in sich aufsteigen. Er war so sehr mit seiner Blutgier beschäftigt gewesen, dass ihm bisher nie der Gedanke gekommen war, was der Schmied eigentlich mitten in der Nacht im Wald gesucht hatte.
Nachdem das Leben aus Matthias Honraths Körper gewichen war und seine Augen stumpf ins Leere blickten, hatte August minutenlang neben der Leiche gesessen und sie angestarrt. Dann hatte er sie mit Mühe auf den Holzkarren gehievt, auf welchem der Schmied seine Werkzeuge transportierte, und wenige Meter entfernt unter einer anderen Kastanie abgelegt.
August hatte überlegt, den toten Körper weiter wegzuschaffen, vielleicht sogar bis nach Stürzelberg, doch die Leiche war unglaublich schwer. Ihm war schnell klar geworden, dass er körperlich nicht in der Lage war, den mächtigen Schmied über große Entfernungen über den holprigen Waldboden zu karren. Also hatte er ihn einfach abgelegt, auf die Seite gedreht und war zu dem Baum zurückgekehrt, unter welchem er ihm das Leben genommen hatte. Völlig verschwitzt und außer Atem hatte er die Werkzeuge verscharrt und das große Loch im Boden zugeschüttet, das Matthias Honrath mit bloßen Händen ausgehoben hatte.
Erst jetzt, als August im Holzverschlag am Krötschenturm inmitten von Goldgulden saß, begann er zu verstehen. Im Wald musste es noch mehr von diesen Münzen geben!
...
Pfarrer Johannes betrachtete den wertvollen Umhang. Der Stoff war aus kostbarem Garn gewoben und kunstvoll mit Kreuzen verziert. »Die Männer des Erzbischofs tragen solche Kutten.« Johannes mochte sich die Folgen dieser Erkenntnis gar nicht ausmalen. Das dunkle Kellergewölbe des Klosters Brauweiler, in dem sie sich noch immer befanden, verstärkte seine düstere Stimmung. Die Schmiedeöfen zischten und der Dampf, der aus ihren Rohren aufstieg, erinnerte Johannes plötzlich an den Vorhof zur Hölle.
Bastian fuhr mit den Händen über den feinen Stoff. Er glitt fast so leicht wie Seide durch seine Finger. Kein einfacher Bauer oder Handwerker könnte sich ein solches Gewand leisten.
»Ihr glaubt, der Erzbischof Hermann von Hessen hat diesen Gauner geschickt?«
Bruder Anselmus griff sich an den duftenden Kräuterverband, der mittlerweile heilend über seiner Halswunde lag, und holte tief Luft. »Freunde, lasst uns nicht übertreiben. Warum sollte der Erzbischof seine Häscher auf uns hetzen?« Seine Stimme klang schwach, aber immerhin hatte er die Attacke mit dem Pfeil überlebt. Das Gift, welches an der Pfeilspitze klebte, war nicht stark genug gewesen, um ihn zu töten und so war Bruder Anselmus nach kurzer Ohnmacht wieder zu sich gekommen. Der Heilkundige des Klosters hatte sich seiner sofort angenommen und ihn versorgt.
»Weil er hinter diesen Münzfälschungen steckt.« Johannes hatte keine andere Erklärung. Doch Anselmus widersprach ihm: »Habt Ihr mir nicht selbst erzählt, dass die Bruderschaft dahinterstecken könnte?«
Bastian nickte. »Reinhold Nolden, der Bruderälteste, hat sich uns in den Weg gestellt, als wir den buckligen Gilig verfolgt haben.«
»Warum habt Ihr ihn nicht befragt?«
»Wir hatten noch keinen Anlass. Erst durch Euch wissen wir von den Münzfälschungen und außerdem waren wir auf der Suche nach einem Mörder«, erwiderte Bastian. Insgeheim ärgerte er sich. Die Fragen von Bruder Anselmus waren berechtigt. Wäre die alte Jonata damals nicht mit der Nachricht über den Tod des Bettelweibes dazwischengeplatzt, hätte er Reinhold Nolden nicht so einfach davonkommen lassen. Er sah den Holzverschlag vor sich, aus dem der bucklige Gilig die schweren Säcke geholt hatte. Schon damals war es Bastian vorgekommen, als hätte er etwas Offensichtliches übersehen. Aber das innere Bild verschwamm, bevor er es greifen konnte. Er klopfte Bruder Anselmus auf die Schulter. »Ihr habt recht. Die St.-Sebastianus-Bruderschaft beauftragt den Buckligen mit Botendiensten. Ich bin bisher allerdings davon ausgegangen, dass es sich um Zutaten für die Herstellung von Wein handelt. Zumindest roch der Holzverschlag, vor dem wir Gilig gestellt haben, stark danach.« Bastian biss sich nachdenklich auf die Lippen. »Auf der anderen Seite habe ich Gilig selbst bei der Verschiffung der Münzen beobachtet. Ich kann nicht ausschließen, dass Reinhard Nolden sein Auftraggeber war.«
Pfarrer Johannes erhob sich. »Wir müssen zurück nach Zons! Dort werden wir die Lösung finden. Alle Fragen, die wir Bruder Anselmus gestellt haben, sind fürs Erste beantwortet.«
Bastian nickte. Johannes hatte recht. Er musste noch einmal mit Gilig sprechen. Den Bruderältesten würde er von Wernhart beschatten lassen und er musste herausfinden, wem das Schiff mit den Münzen gehörte. Der Kapitän könnte ihm sicherlich den Bestimmungsort der gefälschten Goldgulden und vielleicht sogar den Namen des Abnehmers verraten. Der Schmied war sicher in die Münzfälschung verstrickt gewesen. Wahrscheinlich war dies auch der Grund für seine Ermordung. Er wusste einfach zu viel.
Sie verabschiedeten sich herzlich von Bruder Anselmus und trugen ihm auf, sich zu schonen. Kurz vor Mitternacht erreichten sie Zons. Der Vollmond schien hell über dem friedlichen Städtchen. Am Ende der Schloßstraße konnte Bastian den Nachtwächter sehen. Er war eine mächtige Erscheinung, die mit ihrer Laterne fast einem Dämon glich, der durch die Gassen schwebte. Bastian merkte, wie die Müdigkeit in seine Knochen kroch. Für einen winzigen Moment fielen ihm die Augenlider zu. Er hörte nur noch den Hufschlag der Pferde und den schweren Atem von Pfarrer Johannes. Gerade als er die Augen wieder öffnete, huschte ein Schatten vor dem Nachtwächter vorüber. Dieser bog im selben Augenblick in die Grünewaldstraße ab, sodass der Schatten nur schemenhaft und für einen Wimpernschlag von der Laterne angestrahlt wurde. Bastian hätte ihn fast übersehen. Instinktiv gab er seinem Pferd die Sporen und ließ den verwirrten Johannes hinter sich.
Tatsächlich! Eine humpelnde Gestalt versuchte eilig, sich im Schatten der Häuserwände zu verbergen. In Windeseile ritt Bastian auf den Umriss zu und verstellte ihm den Weg. Er zog sein Schwert und sprang vom Pferd.
»Wer seid Ihr und wo wollt Ihr zu so später Stunde hin?« Die Antwort musste Bastian gar nicht abwarten. Giligs verkümmerter Wuchs war auch in der Dunkelheit unverkennbar. Der Bucklige stotterte Unverständliches. Offensichtlich war er erschrocken und hatte Angst, doch Bastian kümmerte das wenig. Diesmal würde er sich nicht so einfach abweisen lassen. Mit seinen kräftigen Armen drückte er Gilig gegen die Häuserwand.
»Sagt mir die Wahrheit. Habt Ihr den Schmied Matthias Honrath auf dem Gewissen?«
Der Bucklige schüttelte panisch den Kopf. Bastian drückte die flache Seite seines Schwertes gegen Giligs Kehle und schnürte ihm so die Luft ab. »Überlegt Euch die Antwort gut. Ich bin heute Nacht nicht zum Scherzen aufgelegt.« Er drückte noch weiter zu. Der faulige Atem aus Giligs Mund schlug Bastian übel ins Gesicht, doch er rückte keinen Zentimeter ab.
»Nein, nein ...«, stotterte der Bucklige hilflos. »Ich war es nicht.«
Bastians Geduld war am Ende. Er griff dem stammelnden Mann in die Haare und riss seinen Kopf in den Nacken. Die Klinge seines Schwertes blitzte kurz auf, bevor er sie diesmal mit der scharfen Seite an Giligs Kehle ansetzte. »Ich töte Euch noch heute Nacht, wenn Ihr mich belügt. Wo habt Ihr die Münzen versteckt?«
Wieder murmelte der Bucklige etwas Unverständliches. Bastian lockerte seinen Griff, um ihn besser zu verstehen.
»Haltet ein, mein Junge!« Pfarrer Johannes hievte sich völlig außer Atem vom Pferd. »Ihr könnt ihm nicht einfach die Kehle durchschneiden.«
Johannes‘ Appell prallte an Bastian ab. »Gilig wollte uns gerade etwas verraten«, stieß er mühsam hervor.
»Die Münzen sind im Lager. Ich zeige sie Euch, aber bitte tut mir nichts!« Giligs verzweifeltes Kreischen brachte Bastian zur Vernunft. Ohne Vorwarnung lockerte er seinen Griff und der Bucklige taumelte benommen zur Seite.
»Hier entlang, mein Freund!« Bastian ließ Gilig passieren und blieb ihm dicht auf den Fersen. Pfarrer Johannes folgte ihnen. Sie liefen durch die Vollmondnacht in Richtung Norden, denn das Lager des Schmiedes befand sich am Krötschenturm, der nordwestlichsten Ecke von Zons.
»Öffnet die Pforte!« Bastians Tonfall ließ keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit. Der Bucklige fummelte nervös in seiner Hose herum und zog schließlich mit zitternden Fingern einen Schlüssel hervor. Dann ging er auf den Holzverschlag zu und öffnete die Tür auf der linken Seite. Bastian stockte. Das also hatte er die ganze Zeit im Hinterkopf gehabt. Das Lager hatte zwei Türen. Hinter der kleinen, unscheinbaren Öffnung hätte Bastian niemals etwas vermutet. Er schob Gilig beiseite und betrat den Verschlag. Der Raum war so niedrig, dass Bastian sich ducken musste. Gilig holte eine Kerze hervor und zündete sie an. Der flackernde Lichtschein tanzte auf den kahlen Wänden und huschte über den Lehmboden. Der Bucklige senkte abrupt das Haupt, den Blick starr auf den Boden gerichtet. Pfarrer Johannes bekreuzigte sich. Bastian holte tief Luft und schüttelte ungläubig den Kopf.
Das Lager war leer.
...
Tränen standen in den Augen des jungen Mannes, der vor einer hageren Gestalt mit einem Dolch in der Hand kniete. Trotzig reckte Jakob Honrath, der Sohn des ermordeten Schmiedes, das Kinn in die Höhe und zerrte an den Fesseln, die seine Hände auf dem Rücken zusammenhielten. Eine Faust landete in seinem Gesicht und Bluttropfen rannen aus der aufgesprungenen Lippe über sein Kinn.
»Es fehlt ein halber Sack Goldgulden. Wo hat Euer Vater ihn versteckt?«
Wütend zischte Jakob: »Hättet Ihr ihm nicht das Leben genommen, könnte er Euch jetzt eine Antwort geben!«
Ein erneuter Fausthieb traf Jakobs Nase. Der Knochen knirschte und Blut spritzte durch den Raum.
»Wo ist das Gold?«
Jakob schwieg. Erneut sauste die Faust auf ihn nieder.
»Sagt mir, wo die Gulden sind oder Ihr folgt Eurem Vater in die Hölle!«
»Ich weiß es nicht! Aber ich werde Bastian Mühlenberg von der Münzfälschung berichten. Darauf steht die Todesstrafe.«
Diesmal traf ihn ein Tritt in den Unterleib. Jakob Honrath krümmte sich vor Schmerzen.
»Ihr meint den großen Blonden von der Stadtwache?«
Jakob nickte.
»Der hat vor ein paar Tagen auf unserem Schiff herumgeschnüffelt.« Die Stimme kam aus dem Hintergrund.
»Ich weiß«, zischte der hagere Mann. Er hatte bereits versucht, den großen Blondschopf von der Stadtwache aus dem Weg zu räumen, war ihm dafür extra einen halben Tagesritt bis ins Kloster Brauweiler gefolgt. Doch der Bursche hatte wohl einen Schutzengel bei sich gehabt. Der für ihn bestimmte Giftpfeil war im Hals eines dicken Mönchs gelandet, weil Bastian sich im entscheidenden Moment zufällig gebückt hatte.
Der hagere Mann schüttelte wütend den Kopf. Nur um ein Haar war er Bastian Mühlenberg entkommen! Der Bursche war flink wie ein Wiesel und hatte es geschafft, ihm im letzten Augenblick die Kutte vom Leib zu reißen. Um Mühlenberg würde er sich noch kümmern müssen, aber erst einmal musste er das Problem mit dem aufsässigen Sohn des Schmiedes regeln. Zum Münzmeister taugte er nicht und er hatte offensichtlich auch keine Ahnung, wohin das Gold verschwunden war. Wenn er schon seine Gulden nicht wiederbekam, würde er sich von Jakob nicht in Schwierigkeiten bringen lassen. Auch er selbst war nur ein Glied in einer langen Kette aus Verschwörungen und sein Leben hing davon ab, die Goldgulden zu liefern und die Mitwisser zum Schweigen zu bringen.
»Könnt Ihr schreiben?« Jakob verneinte.
Der hagere Mann riss seinen Kopf nach hinten und griff mit einem groben Leinentuch tief in den Hals des jungen Mannes. Dieser wehrte sich mit aller Kraft und stieß in Panik unverständliche, kaum mehr menschliche Laute aus. Der hagere Mann zückte seinen Dolch und schnitt ihm brutal die Zunge aus dem Hals. Der würde nicht mehr reden! Schon gar nicht mit Bastian Mühlenberg.
»Schafft ihn hier raus, bevor ich es mir anders überlege und ihm auch noch die Kehle durchschneide!«
...
Bastian starrte immer noch ungläubig in das leere Lager. Der bucklige Gilig wollte ihn tatsächlich an der Nase herumführen. Am liebsten hätte er Gilig sofort in den Juddeturm geworfen. Nur die Anwesenheit von Pfarrer Johannes hielt ihn zurück.
»Wo sind die Münzen?« Bastians Stimme hatte einen drohenden Unterton.
Der Bucklige war immer noch starr vor Schreck. Offensichtlich war er genauso überrascht wie Bastian und Pfarrer Johannes. Hilflos zuckte er mit den Schultern. »Ich schwöre Euch, dass das Lager gestern noch voll war. Die Säcke waren bis unters Dach gestapelt.«
»Ich glaube Euch kein Wort, Gilig Ückerhoven! Sagt mir die Wahrheit oder Ihr landet auf der Stelle im Juddeturm!«
Der Bucklige fiel vor Bastian auf die Knie und wimmerte. »Ich schwöre bei Gott. Ich weiß es nicht. Reinhard Nolden ist mein Auftraggeber. Für ihn schaffe ich die Münzen aufs Schiff. Vielleicht hat er die Säcke wegbringen lassen. Bitte tut mir nichts!«
Reinhard Nolden, der Bruderälteste der St.-Sebastianus-Schützenbruderschaft, steckte also doch hinter den Münzfälschungen. Bastian fühlte eine eisige Kälte in sich aufsteigen. Er würde ihn in den Juddeturm werfen und anschließend dem Henker übergeben. Bastian überlegte fieberhaft, wie er am geschicktesten vorgehen könnte. Um den Bruderältesten zu stellen, brauchte er die Münzen. Sie waren sein Beweismittel, ohne das Reinhard Nolden einfach alles abstreiten konnte. Gilig würde keinen tauglichen Zeugen vor dem Schöffengericht abgeben.
Einem ersten Impuls folgend, wollte Bastian den Buckligen für die Nacht in den Juddeturm sperren. Doch dann überlegte er es sich anders.
»Ihr könnt gehen! Aber vergesst unsere Begegnung und benehmt Euch wie immer. Wenn Ihr Reinhard Nolden auch nur ein Sterbenswörtchen verratet, landet Ihr im Juddeturm und ich werde persönlich dafür Sorgen, dass Euer Kopf in der Schlinge des Henkers endet.« Bastian stieß Gilig unsanft von sich und bedeutete ihm zu verschwinden.
Der Bucklige ließ sich das nicht zweimal sagen und rannte in Windeseile davon. Er lief, ohne ein einziges Mal zu humpeln. Ohne sie bewusst wahrzunehmen, speicherte Bastians Gehirn diese Szene ab.
»Warum habt Ihr ihn gehen lassen?« Pfarrer Johannes wirkte verstört.
»Ich brauche die Goldgulden. Ohne sie wird Reinhard Nolden sich herausreden. Wir haben nichts außer diesem leeren Lager und der Aussage eines Buckligen.« Der Pfarrer lächelte. »Ihr seid ein schlauer Junge! Aber versprecht mir eines: Lasst die Männer des Erzbischofs nicht aus den Augen! Ich möchte Euch nicht unnötig in Gefahr wissen. Seine Häscher sind gefährlich.«
...
Die Nacht verbrachte Bastian unruhig in seinem Bett. Er träumte von gefälschten Münzen, mit der die St.-Sebastianus-Bruderschaft neuen Ruhm erlangte und er träumte vom Erzbischof, der in kostbare Gewänder gekleidet eine Predigt hielt und ihn ermahnte, nicht weiter nach der Lösung des Rätsels zu suchen. Gottes Wege seien unergründlich.
Im nächsten Moment tauchte die Leiche des Schmiedes auf. Bastian ging näher heran und plötzlich öffnete der Tote die Augen. Er schreckte zurück und lief in den Wald hinein. Erst auf einer Lichtung, die wunderschön von der Herbstsonne angestrahlt wurde, machte er halt. Die bunten Blätter rauschten im Wind und Bastian fühlte, wie sein Herzschlag sich beruhigte. Er setzte sich unter einen Baum. Die Zwillinge August und Christan erschienen in seinem Blickfeld. Sie tollten mit einem jungen Hundewelpen herum. Bevor er sich versah, zerfiel der Hund zu einer einzigen Fleischmasse. Wie aus heiterem Himmel verwandelte er sich in ein blutiges Bündel aus stinkendem Fleisch und zerzaustem Fell. Bastian schreckte hoch.
Einer der Zwillinge stand jetzt direkt vor ihm. Bastian wusste nicht, ob es Christan oder August war. Er wirkte blass und schmächtig. Aus seinen Augen strahlte so viel jugendliche Unschuld, dass Bastian den Blick nicht abwenden konnte. Währenddessen verschwanden plötzlich die Lichtung und der tote Hundewelpe. Der Zwilling und er befanden sich jetzt an einem anderen Ort. Bastian war schon einmal dort gewesen. Der Traum verschwamm. Unruhig wälzte er sich im Bett umher. Dann erkannte er den Ort wieder.
Er schritt mit dem Zwilling jenen Gang entlang, in dem er Annas Mutter bereits gesehen hatte. Abermals bewunderte er die herausragende Handwerkskunst, die es schaffte, so glatte weiße Wände und einen Boden aus dunklem Wasser zu bauen. Der Zwilling legte eine Hand auf seine Schulter. Bastian drehte sich um und blickte in seine grünen Augen. Der Zwilling war gealtert. Mindestens um zehn Jahre, doch Bastian konnte ihn zweifelsfrei erkennen. Eine weitere Hand legte sich auf seine Schulter. Bastian erstarrte, es war die Hand einer Frau. Er drehte sich um und ein weiteres Paar grüner Augen blickte ihn an. Anna!