I.
Vor fünfhundert Jahren
PROLOG
16 Jahre zuvor ...
Es war unheimlich düster in der kleinen Stube, obwohl das Feuer lichterloh brannte. Heißes Wasser blubberte im Kessel über der Feuerstelle. Immer dann, wenn sich einzelne Wassertropfen explosionsartig von der brodelnden Oberfläche des dampfenden, kochenden Wassers lösten und in hohem Bogen über den Rand des Kessels hinauskatapultiert wurden, um Sekunden später mit einem hässlichen Zischlaut an der Außenseite des Kessels zu verdampfen, begleitete sie das laute Schreien der Frau auf dem Stroh. Ihr Name war Elisa.
Mit ihren knapp sechzehn Jahren war sie blutjung und gehörte zu den schönsten Frauen des kleinen mittelalterlichen Städtchens Zons - doch weder von ihrer Jugend noch von ihrer Schönheit war im Augenblick etwas zu erkennen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht lag sie auf dem Stroh, ihr Körper blass und aufgedunsen. Der Schweiß, der sich überall auf ihrer Haut gebildet hatte, strömte einen unangenehmen, fauligen Geruch aus.
Seit Anbeginn der Welt existiert das Böse. Es taucht immer wieder auf, mal zufällig und mal in Mustern. Elisa wusste das, doch es war längst zu spät. Sie richtete ihren Oberkörper auf und presste. Eine der um ihr Lager versammelten Frauen tupfte ihr mit einem Leinentuch den Schweiß von der Stirn. Eine andere machte sich zwischen ihren Beinen zu schaffen.
Das Wasser brodelte im Kessel und Elisa schrie ihren Schmerz lauthals in die dunkle Nacht hinaus. Sie presste noch einmal und wenig später spürte sie einen Moment großer Glückseligkeit, als das Kind sich zwischen ihren Beinen den Weg in die Welt bahnte und mit einem lauten Schmatzen hinausglitt. Doch dieser Moment sollte nur kurz dauern, denn gleich darauf fuhr eine erneute Schmerzwelle durch ihren zermarterten Körper. Sie war viel heftiger und gewaltiger als zuvor.
Entsetzt riss Elisa die Augen weit auf. In ihrem Inneren hatte sich etwas festgekrallt, das nur widerwillig aus ihrem aufgedunsenen Leib herauskommen wollte. Keine weichen Babyhände, sondern eher krallengleiche Pranken hielten ihren Wehen mit aller Kraft Stand und zerrten an ihren Eingeweiden.
Ihr erstgeborener Sohn brüllte wie am Spieß und konnte doch ihre eigenen Schreie nicht übertönen. Blut strömte literweise aus ihrem Unterleib und die Hebamme schüttelte schockiert den Kopf. Elisa schenkte ihrem zweiten Sohn das Leben, während sie qualvoll bei seiner Geburt verblutete. Ihr Blick blieb an ihrem Erstgeborenen hängen, der von weichem Babyflaum umgeben trotz seiner Schreie einem Engel glich. Ihren zweitgeboren Sohn bekam sie nie zu Gesicht. Er lag zwischen ihren Schenkeln in einer riesigen Blutlache. Noch bevor die Hebamme ihn emporheben konnte, um ihn den Augen seiner Mutter vorzuführen, verließ das Leben Elisas Körper. Ihr letzter Gedanke galt dem Bösen und dem misslungenen Versuch, es rechtzeitig aufzuhalten.
16 Jahre und 6 Monate zuvor ...
Die knorrige Alte hatte böse blitzende Augen. Schwerfällig lief sie vor ihrer Hütte auf und ab. Der Wind blähte ihre Kleider auf und in diesem Augenblick sah sie wahrhaftig wie eine Hexe aus. Sie riss die Arme nach oben, eigentlich nur, um das Gleichgewicht zu halten, doch die Geste sah wie eine Drohung aus. Die Mädchen kicherten leise vor Aufregung und duckten sich hinter den Büschen am Wegesrand. Es sollte eine Mutprobe werden. Mehr nicht.
Elisa reckte ihren Kopf empor. Der Korb voller frischer Eier stand direkt vor dem Eingang. Ein schneller Lauf, eine kurze Drehung, und eines der Eier könnte ihr gehören. Dann durfte sie das neue Kleid tragen. Normalerweise warfen die Geschwister in solchen Fällen eine Münze, doch diesmal fiel die Münze zweimal auf dieselbe Seite. Unentschieden. Also hatten sie sich etwas Neues ausgedacht. Eine aufregende Mutprobe! Elisa blickte kurz zu ihrer Schwester hinüber und nickte. Los! Sie stürmte aus dem Busch und rannte so schnell sie konnte auf den Eingang der Hütte zu. Die Alte drehte verwirrt den Kopf in ihre Richtung. Mit kleinen, behäbigen Bewegungen humpelte sie auf Elisa zu. Diese ließ sich nicht entmutigen, noch drei Schritte und sie war beim Eierkorb. Aus dem Augenwinkel nahm sie verwundert wahr, dass ihre Schwester ihr nicht folgte.
Angsthase, dachte sie. Die Alte ist viel zu langsam, um mich zu kriegen. Übermütig machte sie einen großen Schritt und landete mit ihrem rechten Fuß auf einem Stein. Verflucht. Sie wankte, ruderte mit den Armen in der Luft und stürzte auf die Knie. Panisch blickte sie sich nach der Alten um. Die humpelte plötzlich viel schneller und kam mit beängstigender Geschwindigkeit näher. Elisa sprang mit letzter Kraft auf. Nur noch ein Schritt.
Ihr Kopf wurde unsanft nach hinten gezerrt. Die Alte hatte ihren langen Zopf erwischt. Oh nein! Sie versuchte sich loszureißen, doch die Alte hielt ihre Haare fest in den knorrigen Händen. Sie hatte erstaunliche Kraft für ihr hohes Alter.
»Was sucht Ihr an meiner Hütte? Wollt Ihr etwa meine Eier stehlen? Lumpenpack!« Die Alte zischte böse.
Einem plötzlichen Instinkt folgend ließ Elisa sich auf die Knie fallen. Die Kraft, mit der ihr Körper nach unten fiel, reichte aus, um sich aus den Fängen der Alten loszureißen. Ihr linkes Knie schlug so hart auf den Boden, dass es augenblicklich zu bluten begann. Der Schmerz ließ für einen Moment grelle Blitze vor ihren Augen tanzen, doch Elisa ignorierte sie. Auf keinen Fall wollte sie in die Fänge dieser alten Hexe geraten. Geschickt rollte sie sich auf die Seite, sprang auf die Füße und erhaschte mit einem langen Ausfallschritt das oberste Ei aus dem Korb.
»Bleibt stehen!« Mit hochrotem Kopf versuchte die Alte, sich ihr in den Weg zu stellen.
»Ein Dieb! Haltet sie!« Wild fuchtelnd und laut fluchend kreischte die Alte ihr hinterher, doch Elisa war längst außer Reichweite. Ihr Herz dröhnte und Schweiß lief ihr den Hals hinab. Mit flinken Schritten verschwand sie in dem Gebüsch, aus dem sie gekommen war.
»Lauf Martha! Sie will uns holen!« Mit diesen Worten riss Elisa ihre jüngere Schwester, die immer noch erstarrt hinter dem Busch kauerte, aus der Bewegungslosigkeit. Völlig außer Atem erreichten die beiden den kleinen Pfad, der zurück ins Dorf führte. Die Alte wohnte außerhalb der dicken Festungsmauern von Zons. Bereits vor etlichen Jahren hatte man sie vor die Stadttore verbannt, da sie als Hexe verschrien war und niemand in ihrer Nähe hausen wollte. Schwer atmend ließ sich Elisa am Stamm einer großen Weide fallen. Ihr Brustkorb hob sich rasend auf und ab, aber ihr Gesicht zeigte ein freudiges Lächeln.
»Ich habe gewonnen, Schwesterherz! Das Kleid gehört mir.«
Martha, die sich ausgelaugt neben ihre Schwester fallen ließ, zeigte plötzlich aufgeregt mit dem Finger auf Elisas linkes Bein.
»Sieh doch dein Knie an. Es blutet wie verrückt.«
Elisa blickte auf das zerschundene linke Knie. Eine hässliche Wunde klaffte direkt über der Kniescheibe. Vorsichtig tastete sie am Rand der Verletzung entlang. Blut und Schmutz hatten sich zu einer schwarzen Kruste verbunden. Unwillkürlich ergriff sie ihren langen blonden Zopf und erstarrte. Ein wildes Haarbüschel hatte sich herausgelöst und ragte wie die zersplitterten Strohhalme eines abgenutzten Besens aus dem geflochtenen Haar hervor. Im selben Moment spürte sie den dumpfen Schmerz, der auf ihrer Kopfhaut pochte. Die Alte hatte ihr offensichtlich ein ganzes Haarbüschel ausgerissen. Furcht kroch in ihr Herz, und mit einem ängstlichen Blick sah sie zu Martha hinüber.
»Sie hat Euer Haar und sie hat Euer Blut, seid vor der Hexe auf der Hut! ...«
Elisa stockte. Es war der Beginn eines uralten Kinderliedes. Plötzlich sah sie sich wieder mit Martha in der großen dunklen Scheune. Wie oft hatten sie im Dunkeln gespielt, sich gegruselt und mit klopfenden Herzen vor Paula versteckt. Paula die Küchenmagd mit der langen Nase und einer dicken roten Warze direkt unter dem rechten Nasenloch. Sie hatte immer die böse Hexe gespielt, die die beiden Mädchen fangen sollte. Bis zu ihrem elften Lebensjahr fand dieses Spiel fast jeden Abend vor dem Schlafengehen statt. Sie verkrochen sich in den dunkelsten Ecken des Gehöftes, um den fürsorglichen Händen der Mutter zu entgehen und noch ein kleines Abenteuer vor dem Zubettgehen zu erleben.
Elisa hasste die Nachtruhe, sie wurde schon in ihrer Kindheit des Öfteren von Albträumen heimgesucht und so versuchte sie, dem Schlaf so lange wie möglich zu entkommen. Es war immer Paula mit der langen Nase, die schlussendlich die beiden Mädchen einfing und auf das weiche Strohlager brachte, welches den Geschwistern als Schlafplatz diente. Mit dröhnenden Schritten durchschritt die Küchenmagd die Scheune und sang mit rauer Stimme das Hexenlied.
»Seid auf der Hut!«
Die Worte klangen mit einer solchen Deutlichkeit in Elisas Ohren, dass sie fast glaubte, wieder das kleine Mädchen zu sein, das sich vor dem Zubettgehen versteckt. Damals hatte sie sich geängstigt, aber letztendlich hatte sie tief in ihrem Herzen das Glücksgefühl eines großen Abenteuers empfunden - ganz anders als jetzt. Nachdenklich betrachtete sie das mit dunklen Pünktchen gesprenkelte Ei. Der Triumph ihres Mutes wurde weggespült von der Angst, die sich in ihrem Inneren ausbreitete und über ihr Herz legte wie ein dunkler Schleier.
Mit Einbruch der Dämmerung schlich sich Elisa mit pochendem Herzen erneut zur Hütte der Alten. Martha hatte sie mit Gewalt davon abbringen wollen, doch Elisa wollte es wissen. Sie wollte sehen, was die Alte mit ihrem Haar und ihrem Blut anstellte. Lautlos näherte sie sich dem einzigen Fenster der Hütte, aus dem ein Lichtschein drang. Ein Schwall unverständlicher Töne gelangte an ihr Ohr. Die Alte stand mit dem Rücken zum Fenster und stieß in einem immer gleichen Rhythmus fremd klingende Wörter aus. Dabei schabte sie mit einem Holzstab in einem Tongefäß. Mit einem Mal drehte die Alte sich um und starrte zum Fenster. Elisas Herzschlag setzte aus. Doch die Alte hatte sie nicht bemerkt. Sie drehte sich zur Seite und hielt plötzlich eine lange blonde Haarsträhne in den Händen. Unwillkürlich griff Elisa nach ihrem Zopf. Schmerzhaft machte sich die Stelle auf ihrer Kopfhaut bemerkbar, aus der die Haarsträhne herausgerissen wurde.
Die Alte bewegte sich jetzt im Rhythmus ihres Singsangs und zerschnitt das glänzende blonde Haar, um es Sekunden später in das Tongefäß zu geben. Sie stieß ein grässliches Lachen aus und spuckte in das Gefäß. Dann begann sie in deutscher Sprache zu murmeln und Elisas schlimmster Albtraum wurde wahr. Die Hexe verfluchte sie. Solange ihre Blutlinie andauerte, sollte jede siebente Nachfahrin ihrer Generation Zwillinge gebären. Ungleiche Zwillinge. So wie es seit Anbeginn der Zeit das Gute und das Böse gab, sollten auch die Zwillinge gut und böse sein. Ein Engel und ein Teufel. Elisa wurde schwarz vor Augen. Die Alte war tatsächlich eine Hexe. Wie konnte sie nur so dumm sein und ausgerechnet ihre Eier stehlen? Und alles nur wegen des neuen Kleides! Tränen der Verzweiflung liefen über Elisas Wangen. Wie sollte sie diesem Fluch nur entgehen?
Eine Stimme in ihrem Innern flüsterte leise: Ganz einfach, du darfst keine Kinder gebären! Langsam glitten ihre Finger zu ihrem Bauch hinab. Sie dachte an Lambert. Erst vor einem halben Jahr hatte Pfarrer Johannes sie in der St. Martinus Kirche getraut. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, dachte Elisa. Doch die winzige Wölbung direkt unter ihrem Bauchnabel strafte sie Lügen. Es war längst geschehen - Elisa war schwanger.