XXII.

Gegenwart

 

 

Anna leckte sich nervös die frisch dunkelrot geschminkten Lippen. Der Knopf in ihrem Ohr und der Sender mit der Verkabelung um ihre Taille fühlten sich fremd an. Vorsichtig fasste sie sich an den Kopf, um zu prüfen, ob das Gerät noch richtig saß. Der Ohrhörer drückte, und Anna hatte das Gefühl, dass er jeden Moment herausfallen könnte. Gerade als ihre rechte Hand fast das Ohr erreicht hatte, knackte es im Gerät.

»Anna, fass dir nicht ständig ans Ohr. Du musst unauffällig und ganz natürlich wirken. Geh an die Bar, bestelle dir einen Drink und versuche, dich ein wenig zu entspannen. Du machst deine Sache sehr gut. Ich bin mir sicher, dass Jimmy jeden Augenblick hier auftaucht. Dir kann nichts passieren. Wir sind in deiner Nähe.«

Anna ließ die rechte Hand nach unten sinken und bewegte sich mit langsamen Schritten auf die Bar zu. Die Stimme von Kommissar Oliver Bergmann hörte sich durch den Ohrhörer fremd und verzerrt an. Im Augenwinkel nahm sie eine männliche Gestalt wahr. Sie drehte den Kopf und bemerkte, dass es nicht Jimmy war. Gleich würde es hier von Bankern und ihren Kunden nur so wimmeln.

Obwohl sie schon etliche Kundenveranstaltungen im Swissôtel in Neuss besucht hatte, fragte sie sich wiederholt, ob es richtig war, sich als Lockvogel zur Verfügung zu stellen. Nicht dass sie nervlich nicht in der Lage wäre, das hier durchzustehen. Doch sie erinnerte sich nur allzu deutlich an ihren Besuch in Jimmys Wohnung. Er war groß, sportlich und vor allem ein Technikfreak. Jeder Zentimeter seiner Wohnung wurde mittels Überwachungskameras kontrolliert. Außerdem besaß Jimmy Nerven wie Stahlseile. Er war Investmentbanker und zockte mit Millionen, ohne dabei unruhig zu werden. Er hatte Instinkt. Jagdinstinkt. Und irgendetwas in Annas Innerem warnte sie davor, diesen Mann zu unterschätzen. Sicher würde er ihren Plan schnell durchschauen und nicht so einfach in die Falle tappen.

Sie bemerkte plötzlich, dass ihr Puls raste. So ruhig wie möglich setzte sie sich auf einen Barhocker und bestellte sich eine Piña colada, ihren Lieblingscocktail. Sie trank einen großen Schluck und nahm genüsslich wahr, wie sich die kalte Flüssigkeit den Weg durch ihre Speiseröhre bahnte und der Alkohol anschließend seine beruhigende Wärme entfaltete. Ihre Nackenmuskeln entspannten sich ein wenig. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass der Spuk in spätestens drei Stunden überstanden war. Sie musste nichts weiter tun, als hier zu sitzen, an ihrem Cocktail zu nippen und auf Jimmy Henders zu warten. Sobald er auftauchte, würde die Polizei zuschlagen und ihn festnehmen.

 

 

 

 

Zwei Stunden später saß Anna immer noch an der Bar. Ein lästiger Kunde hatte sich zu ihr gesellt und redete seit einer geschlagenen Stunde ununterbrochen auf sie ein. Es war ein schleimiger alter Herr, welcher sich mächtig ins Zeug legte, um Eindruck zu schinden. Sein Altherrenparfüm verpestete die Luft und Anna hatte wirklich Mühe, sitzen zu bleiben. Am liebsten wäre sie einfach aufgestanden und gegangen. Sie hasste es, wenn Kunden versuchten, mit ihr zu flirten. Sie war schließlich Bankberaterin und keine Mitarbeiterin eines zwielichtigen Begleitservices.

Es war jetzt kurz vor Mitternacht und bisher hatte sich Jimmy Henders nicht blicken lassen. Heimlich sah sie sich um. Am anderen Ende des Saales entdeckte sie Oliver Bergmann. Lässig stand er mitten in einer Menschentraube und unterhielt sich scheinbar angeregt. Er hatte sie den ganzen Abend keine einzige Sekunde aus den Augen gelassen. Er registrierte ihren Blick und zwinkerte ihr unauffällig zu. Ein plötzliches Vibrieren in ihrer Handtasche ließ Anna zusammenzucken. Verwundert hielt ihr gealterter Gesprächspartner in seiner Rede inne und starrte sie an. Anna kramte in ihrer Handtasche und holte ihr Handy hervor. Auf dem Display erkannte sie eine SMS von Jimmy.

Kannst du mich in der Tiefgarage treffen? Warte im Auto auf dich. Parkplatz 205. LG Jimmy.

Der Knopf in ihrem Ohr knackte und Oliver Bergmanns Stimme ertönte: »Wenn irgendetwas ist, dann sage es jetzt einfach laut.«

Anna blickte ihren immer noch stummen Gesprächspartner an und sagte: »Ich habe eine SMS bekommen. Von einem Freund namens Jimmy. Er möchte, dass ich mich mit ihm in der Tiefgarage treffe. Parkplatz 205.«

Ihr Gegenüber lächelte enttäuscht. »Was soll das bedeuten, meine Dame? Wollen Sie mich jetzt etwa verlassen, nachdem wir uns gerade erst richtig kennengelernt haben?« Seine rechte Augenbraue zuckte dabei verärgert und sein Mund war zu einem schmalen Strich verzogen.

»Es tut mir sehr leid, Herr …«, Anna versuchte sich krampfhaft an seinen Namen zu erinnern.

»Hans von Fels«, half er ihr aus und streckte ihr seine Hand entgegen. Anna ergriff sie und hob erneut an: »Herr von Fels. Es war sehr nett, mit Ihnen zu plaudern. Wenn Sie geschäftliche Fragen haben, können Sie mich gerne anrufen.« Mit diesen Worten hielt sie ihm ihre Visitenkarte vor die Nase, warf ihm ein erlöstes Lächeln zu und entfernte sich mit schnellen Schritten von dem lästigen Gesprächspartner. Hoffentlich hatte er nach dieser Abfuhr keine Fragen mehr an sie. Anna schüttelte grimmig den Kopf. Was bildete sich dieser Typ überhaupt ein. Nur weil er ein von Fels war und – im wahrsten Sinne des Wortes – vor Geld nur so stank, musste sie ihm doch nicht gleich in die Arme fallen! Erleichtert atmete sie tief ein und stellte fest, dass die Luft nicht mehr nach seinem strengen Parfüm roch.

»Ich gehe jetzt in die Tiefgarage«, flüsterte sie in ihr Mikrofon und sah prüfend zu Kommissar Oliver Bergmann hinüber. Dieser nickte. Na gut, dachte Anna, dann bringen wir es jetzt zu Ende. Sie blickte auf die Uhr. Kurz vor Mitternacht. Müdigkeit machte sich schon in ihr bemerkbar. Anna spürte ihren vom langen Sitzen steif gewordenen Rücken. Nicht mehr lange, dann kann sie endlich in ihr weiches Bett fallen. Das war ein langer, anstrengender Abend.

Mit lautem Klingen öffnete sich die Tür des Fahrstuhls und Anna stieg entschlossen ein. Keine zehn Sekunden später befand sie sich im Untergeschoss. Klingend öffnete sich die schwere Edelstahltür des Fahrstuhls und Anna trat hinaus in die rau betonierte Tiefgarage. Jeder ihrer Schritte hallte laut und spitz an den nackten Wänden wider. Sie sah sich um. Die Garage war voll. Teure, vor allem schwarze und silberne Pkws reihten sich eng aneinander und verbargen den Blick auf die hinteren Reihen. Anna entdeckte die Nummerierung. In ausgeblichenem Weiß waren die Zahlen am Anfang jedes Stellplatzes aufgemalt. Sie befand sich in einer Parkreihe mit einstelligen Ziffern. Verdammt, ich muss bis ans andere Ende, dachte Anna fröstelnd. Trotz der lauen Sommernacht blies ein kühler Luftzug durch die Tiefgarage. Anna bekam eine Gänsehaut und lief die unendlich langen Stellplatzreihen entlang. Sie wusste, dass Jimmy einen schwarzen Porsche Cayenne fuhr. Es war ein großer Wagen mit verdunkelten Scheiben und riesigen, breiten Reifen. Sie liebte diese Art von Autos. SUVs waren momentan stark in Mode. Leider ließ Annas Geldbeutel jedoch maximal das SUV-Modell von Kia zu. Sie dachte an ihren Bonus und dann fiel ihr der Garten ein, den sie sich zulegen wollte. In ihrem Ohr knackte es. Ein dünnes, abgebrochenes Rauschen folgte, doch Anna konnte nichts verstehen. Sie fasste sich kurz an ihr Ohr. Der Stecker saß perfekt. Bevor sie weiter nachdenken konnte, erblickte sie in zehn Meter Entfernung einen schwarzen Porsche Cayenne. Jimmy!

Das war der letzte Gedanke, der ihr durch den Kopf schoss, bevor es schwarz um sie herum wurde. Sie spürte, wie ihre Knie nachgaben und sie schwer nach unten sank. Kurz bevor sie auf den harten, kalten Betonboden stürzte, fühlte sie kräftige Hände an ihren Schultern, die sie auffingen. Dann übermannte sie die Dunkelheit und es wurde still um sie.

 

 

 

 

»Ich wiederhole noch einmal: Drehe dich wieder um, Anna. Du bist uns aus dem Blickfeld geraten. Die Kamera deckt den hinteren Winkel in der Tiefgarage nicht ab!« Oliver starrte sein Mikrofon an. Es sah aus, als wollte er das Gerät hypnotisieren, damit es endlich eine Antwort gab.

»Anna?«

Stille.

»Anna? Sag etwas!«

Nichts! Verdammt! Oliver riss sein Funkgerät vom Gürtel und schlug Alarm. Egal, ob Jimmy Henders jetzt vorgewarnt wurde und die ganze verdeckte Aktion aufflog. Annas Sicherheit ging vor. Er gab das Signal zum Zugriff. Mit einem Mal wimmelte es im Hotel nur so von Polizisten. In Sekundenschnelle waren sämtliche Ausgänge verstellt, sodass niemand mehr hinaus- oder hineingelangen konnte. Oliver stürmte über die Treppe nach unten in die Tiefgarage. Für den Fahrstuhl hatte er jetzt keine Zeit. Sein Partner Klaus war dicht hinter ihm. Im Augenwinkel nahm er eine laufende Gestalt wahr. Es war Hans Steuermark. Eigentlich war Steuermark als Leiter des Kriminalkommissariats nicht mehr für Feldeinsätze vorgesehen und zu reiner Schreibtischtätigkeit verdammt, aber aufgrund der Personalknappheit hatte man für den heutigen Großeinsatz eine Ausnahme gemacht. Oliver sah Steuermark die Freude über diesen Einsatz regelrecht an. Trotz seiner sechsundfünfzig Jahre bewegte er sich flink, geschmeidig und mit großer Sicherheit. Seine dunkelbraunen Augen blickten entschlossen und seine Finger umfassten den Griff seiner Pistole mit derselben Routine, mit der er sonst täglich seinen Kaffeebecher festhielt. Oliver nickte Steuermark zu und bedeutete ihm, die andere Seite des Ganges zu übernehmen. Mit schnellen und routinierten Schritten liefen sie die Tiefgarage ab und bewegten sich auf den Teil des Gebäudes zu, der nicht von der Kamera überwacht wurde. Oliver zog im Laufen seine Waffe. Hektisch suchten seine Augen die Autos ab. Der Geruch von Abgasen stieg ihm in die Nase. O nein! Jemand hatte es mit dem Auto nach draußen geschafft! Unverzüglich machte er kehrt. Steuermark begriff sofort, was los war und wendete ebenfalls. Klaus, der das Manöver noch nicht durchschaut hatte, rannte mit vollem Lauf weiter in die falsche Richtung und stürzte fast beim Wenden, als er die Planänderung begriff.

»Raus, raus. Lauft nach vorne. Er kann noch nicht weit sein. Riegelt die Umgebung ab! Los!«

Oliver brüllte, als wenn es um sein Leben ging. Das konnte doch nicht wahr sein. Sein Fuß trat auf einen Gegenstand. Er blickte nach unten und erstarrte. Es war Annas Sender! Er hatte ihr die Verkabelung vom Körper gerissen! Panik ergriff ihn und eine furchtbare Vorahnung verdunkelte sein Herz. Der Mistkerl hatte Anna! Oliver rannte, so schnell ihn seine Beine trugen. Schon hatte er den Ausgang der Tiefgarage erreicht. Draußen standen bereits seine Kollegen und gaben Anweisungen für die Straßensperrung. Schnaufend fragte Oliver: »Habt ihr ihn?«

»Leider nein! Die Straßensperre steht, aber er muss schon vorbei sein!«

Verzweifelt fasste sich Oliver an den Kopf.

»Verdammt! Er hat ihren Sender entdeckt und entfernt. Peilt nach ihrem Handy!«

Einer der Polizisten schüttelte still den Kopf und hielt Oliver ein Handy entgegen. Es war Annas Telefon!

Mit aufgerissen Augen starrte Oliver das Handy an. Die Gedanken in seinem Kopf rasten. Du wirst sie nicht bekommen, du Mistkerl!

»Klaus, folge mir!«

Mit diesen Worten stürmte Oliver zu seinem Dienstwagen und startete hastig den Motor. Auch wenn der Kerl es durch die Straßensperre geschafft hatte, konnte er noch nicht weit sein! Ohne zu wissen, warum, bog er auf die Landstraße nach Zons ein und brauste mit Blaulicht durch die Nacht.

 

 

 

 

»Wir haben sie verloren!« Olivers Worte klangen verzweifelt. Es war seine Schuld. Er hatte die verdeckte Aktion geplant und war einfach nicht gut genug gewesen. Seit einer Stunde fuhren sie zwischen Zons und Neuss hin und her. Jede Landstraße und jeden verdächtigen Feldweg hatten sie abgefahren. Ohne Erfolg. Der gesuchte Porsche Cayenne blieb wie vom Erdboden verschluckt.

 

 

 

 

Anna stöhnte auf. Sie hatte die Augen geschlossen. Ihr Kopf schmerzte und ihr war schwindlig. Ihre Augen und die Nase brannten wie Feuer. Es fühlte sich an, als wären sie verätzt worden. Du wurdest betäubt! Wie ein Pfeil schoss ihr dieser Gedanke durch den Verstand. Sie durchlebte die letzten Augenblicke in der Tiefgarage noch einmal und sah Jimmys schwarzen Porsche vor sich. Dann stoppte die Erinnerung. Es wurde schwarz.

Vorsichtig öffnete Anna die Augen und blinzelte. Schummrige Dunkelheit erfüllte den muffigen Raum. Wonach roch es hier? Sie holte tief Luft und eine plötzliche Welle der Übelkeit überkam sie. Tod. Es roch nach Verwesung. Sie blickte sich um und erkannte eine hockende Gestalt in einer Ecke. Ihr Herzschlag setzte aus. Sie war nicht alleine! Saß dort drüben ihr Entführer? Schnell schloss sie die Augen wieder und rührte sich keinen Millimeter. Vielleicht hatte er noch nicht bemerkt, dass sie aufgewacht war. Mit dumpfem, lautem Klopfen pumpte ihr aufgeregtes Herz das Blut durch ihre Adern. Beruhige dich, Anna! Du musst jetzt einen kühlen Kopf bewahren. Oliver Bergmann müsste jede Sekunde hier sein!

Sie tastete nach dem Sender an ihrer Hüfte und stellte entsetzt fest, dass er fort war. Auch der Knopf in ihrem Ohr fehlte. Sie machte sich nicht mehr die Mühe, nach ihrem Handy zu suchen – ihr war klar, dass es ebenfalls nicht mehr in ihrem Besitz war. Wieder öffnete sie vorsichtig die Augen und beobachtete die Gestalt in der Ecke. Sie rührte sich nicht. Die Statur war die eines Mannes. Sie kam Anna irgendwie bekannt vor. Sie dachte verzweifelt nach und fasste schließlich allen Mut zusammen.

»Hallo?«, flüsterte sie in die Dunkelheit hinein.

Keine Reaktion.

»Hallo, können Sie mich verstehen?«

Der Mann rührte sich nicht. Wahrscheinlich war er ebenfalls betäubt worden. Anna sah sich um. Sie befand sich in einer leeren Lagerhalle. Der Schein von Straßenlaternen fiel durch schmierige, alte Fenster herein und erhellte die Halle ein wenig. Wankend erhob sie sich und machte ein paar wacklige Schritte vorwärts. Der Schwindel war immer noch sehr stark, und Anna hatte das Gefühl, jeden Moment wieder ohnmächtig zu werden. Sie kämpfte mit ihrem Bewusstsein und näherte sich Schritt für Schritt der hockenden Gestalt. Schließlich erkannte sie sie. Es war Jimmy.

»Jimmy, wach auf! Kannst du mich hören?«

Anna stürzte auf ihn zu und rüttelte an seinem Oberkörper. Jimmy fiel schlaff zur Seite. Anna hielt inne. Er stank fürchterlich. Sie drehte seinen Kopf zu sich herum und musste sich auf der Stelle übergeben. Jimmy war tot. Sein schwarzer blutverkrusteter Mund war zu einem dicken Strich verklebt und die Augen waren grauenvoll verdreht. Oh, mein Gott! Sie musste hier unbedingt raus! Von Panik ergriffen schleppte sie sich auf den grün beleuchteten Notausgang zu und stieß verzweifelt gegen die verschlossene Tür. Nichts. Sie ließ sich trotz aller Gewalt, die sie aufbrachte, nicht öffnen. Sie blickte zu den Fenstern. Sie waren vergittert. Vielleicht konnte sie eine Schwachstelle finden. Gerade in dem Moment, als sie loslaufen wollte, hörte sie Schritte. Sie kamen immer näher.

Was sollte sie jetzt tun? Ihrer ersten Intuition folgend, lief sie zurück zu der Stelle, an der sie aufgewacht war, und ließ sich gegen die Wand sinken. Sie schloss die Augen und stellte sich ohnmächtig. Nur den rostigen Nagel, den sie am Notausgang vom Boden aufgelesen hatte, hielt sie fest – unter ihrem Oberschenkel verborgen – in ihrer Hand.

 

 

 

 

»Lass uns zurückfahren, Oliver! Wir können hier nichts mehr ausrichten. Vielleicht entdecken wir im Polizeirevier noch einen Hinweis. Wir gehen die gesamten Akten ein weiteres Mal durch.« Tröstend legte Klaus eine Hand auf Olivers Schulter. Dieser schüttelte heftig den Kopf. »Nein, das kann ich nicht. Ich weiß, dass sie irgendwo hier draußen ist, und ich kann spüren, dass sie noch lebt. Wir dürfen jetzt nicht aufgeben!«

Das Funkgerät im Wagen knirschte. »Wir nehmen die Verfolgung auf. Verdächtiger verlässt das Zielobjekt.«

Oliver sah Klaus an. An den manipulierten Zaun des Materialfriedhofs, den sie seit Tagen beobachten ließen, hatte er gar nicht mehr gedacht. Warum trieb sich Frederick Köppe ausgerechnet heute Nacht auf dem Gelände des Chemieparks herum? Wenn es überhaupt Frederick Köppe war.

»Bitte um Identität des Verdächtigen«, rief Oliver heiser in sein Funkgerät.

»Es handelt sich eindeutig um die Person Frederick Köppe. Wir haben gerade sein Fahrzeug identifiziert. Der Wagen ist auf den Namen Fritz Kallenbach zugelassen.«

»Geben Sie mir die Richtung durch. Wir nehmen ebenfalls die Verfolgung auf und fordern Sie Verstärkung an. Es könnte sich um eine Entführung handeln!«

Oliver bremste und wendete den Dienstwagen mit quietschenden Reifen. Er war sich sicher, dass Frederick Köppe sie auf direktem Weg zu Jimmy Henders führen würde und damit auch zu Anna. Hoffentlich kamen sie nicht zu spät!

Nach fünf Minuten hatten Oliver und Klaus Sichtkontakt zum Wagen von Frederick Köppe. Sie folgten ihm mit ungefähr fünfzig Metern Abstand. Besonders eilig schien der Fahrer es allerdings nicht zu haben. Auf der Landstraße nach Zons konnte man größtenteils siebzig fahren, doch Frederick Köppe schlich mit fünfzig Stundenkilometern dahin. An einer Tankstelle bog er ab und hielt an.

»Was macht der Kerl da? Die Tankstelle hat seit Stunden geschlossen. Es ist mitten in der Nacht«, Klaus schüttelte verständnislos den Kopf. Sie fuhren an der Tankstelle vorbei, um dem Verfolgten nicht aufzufallen. Der Kopf von Frederick Köppe leuchtete im Wagen gespenstisch auf.

»Sieh mal, Oliver. Er telefoniert!«

Tatsächlich. Oliver konnte erkennen, wie das Licht des Handydisplays eine Gesichtshälfte von Köppe erhellte. Sie bogen in eine kleine Einfahrt und warteten. Zehn Minuten später war Köppes Wagen immer noch nicht an ihnen vorbeigefahren. Wo steckte er nur? Langsam verließ Oliver die Hoffnung. War er sich eben noch ganz sicher gewesen, dass Köppe direkt auf dem Weg zu Jimmy Henders war, sahen die Umstände doch ganz und gar nicht danach aus. Köppe hatte überhaupt keine Eile.

Endlich sah er in einiger Entfernung Scheinwerfer auftauchen. Das musste er sein. Sie warteten einen Moment und nahmen dann die Verfolgung wieder auf.

 

 

 

 

Die Schritte kamen immer näher. Anna konnte kaum noch ihr Zittern verbergen. Ihre Nerven waren zum Zerreißen angespannt. Jetzt nur keinen Fehler machen! Wer immer dieser Kerl ist, du hast nur eine Chance, zu entkommen. Krampfhaft hielt sie die Augen geschlossen. Sie hätte gerne gesehen, ob ihr Entführer Matthias Kronberg war. Da die Polizei nur noch zwei Hauptverdächtige auf der Liste hatte, konnte es eigentlich niemand anders sein. Warum wollte er sie töten? Sie hatte ihm schließlich mit dem Kredit aus der Patsche geholfen und aktiv dazu beigetragen, dass sein Familienunternehmen keine Insolvenz anmelden musste. Anna hielt die Luft an. Sie konnte spüren, dass er nicht mehr weit entfernt war. Vier, fünf Schritte noch. Ich will nicht sterben! Nicht heute, dachte sie und drückte den Nagel fest gegen ihren Oberschenkel. Wenn sie es schaffen könnte, dieses fünfzehn Zentimeter lange Monster in seine Halsschlagader zu rammen, dann wäre sie gerettet.

Jetzt stand er direkt vor ihr. Sie spürte, wie er sich zu ihr hinunterbeugte, und konnte seinen heißen Atem im Gesicht fühlen. Sie wartete noch ein paar Sekunden ab, und gerade als er ihre Schulter berühren wollte, schlug sie zu. Mit der gesamten Kraft, die sie hatte, stieß sie den Nagel in seinen Hals. Ein lautes ungläubiges Brüllen folgte ihrem Angriff. Ihr Entführer wankte rückwärts und griff sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an den Hals.

»Du verfluchtes Miststück. Dir werde ich es zeigen!«

Er riss sich den Nagel heraus und schleuderte ihn wütend weg. Klimpernd landete der Nagel wenige Meter entfernt auf dem Betonboden. Die Angst lähmte Anna für einen Moment. Doch dann gab ihr Gehirn das Signal zur Flucht, und ohne weiter nachzudenken, spannten sich ihre Oberschenkel an. Mit einem gewaltigen Sprung nach vorne schubste sie ihren Angreifer weg und versuchte, zu entkommen. Das war nicht Matthias Kronberg! Sie kannte diesen Mann nicht. Er war groß und hatte eine dunkle Kutte an. Er sah aus wie ein Mönch. Ein lauter Knall ließ sie in der Bewegung innehalten. Ehe sie sich versah, wurde ihr linkes Bein weggerissen. Sie hing fest. Ein breiter Riemen hatte sich um ihren Knöchel gelegt und zog sie jetzt unbarmherzig nach hinten. Sie krallte sich mit den Fingernägeln im Betonboden fest, konnte jedoch keinen Halt finden. Der Mann kannte keine Gnade. Brutal warf er sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie und zog ihren Kopf an den Haaren nach hinten. Verzweifelt wehrte sie sich.

»Du kannst mir nicht entkommen, Sünderin! Du hast eine Todsünde begangen und ich werde im Namen des Herrn über dich richten!«

Er schlug ihren Kopf auf den Boden und Anna wurde augenblicklich schwarz vor Augen. Das Nächste, was sie wahrnahm, war, wie er sie über den rauen Betonboden schleifte. Kraftlos ließ Anna es geschehen. Als ihr Oberschenkel über einen Gegenstand rollte, griff sie zu und nahm mit einem Funken Hoffnung den langen Nagel auf. Noch ist es nicht zu Ende, dachte sie und wartete ab, bis er sie in einer Ecke der Lagerhalle achtlos liegen ließ. Schnellen Schrittes entfernte er sich und warf die Tür wütend ins Schloss. Gerade, als Anna sich aufrichten wollte, kam er zurück. Ihre Hände wurden hochgerissen und mit einem leisen Klicken rastete das Schloss der Handschellen ein, die er um ihre Gelenke geschlungen hatte. Dann war sie wieder alleine.

 

 

 

 

»Überprüfen Sie, wem diese Lagerhalle gehört«, sprach Oliver in sein Funkgerät. Frederick Köppe stand auf einem riesigen Parkplatz vor einer verlassenen Lagerhalle an der Landstraße. Hier gab es etliche leer stehende Industriebaracken, die seit Jahren nicht mehr genutzt wurden. Da sich für diese Objekte keine Käufer fanden, zerfielen sie mit der Zeit immer mehr. Im Sommer versteckten sich diese Industrieanlagen hinter den großen grünen Bäumen, welche zu beiden Seiten die Landstraße säumten. Nur im Winter, wenn das Laub auf dem Boden lag, konnte man die triste Industrielandschaft zwischen den Baumstämmen hindurch erkennen.

Frederick Köppe öffnete den Kofferraum und hievte einen riesigen Behälter heraus. Keuchend lud er diesen auf eine Sackkarre.

»Das ist ein Salzsäurebehälter. Ich denke, sie wollen die Leichen in der Lagerhalle entsorgen«, sagte Klaus und ließ die Augen nicht von Köppe.

»Ich schlage vor, dass wir ihn noch vor Betreten der Halle schnappen. Ich will nur sehen, ob er auch wirklich dort hineingeht«, erwiderte Oliver. Dann gab er den Befehl zum Zugriff. Die in der Zwischenzeit eingetroffene Verstärkung hatte sich auf dem gesamten Parkplatzgelände positioniert. Frederick Köppe transportierte nichts ahnend den schweren Säurebehälter, bis er direkt vor dem Eingang der Halle lautlos überwältigt wurde. Alles geschah so schnell, dass er nicht einmal die Chance hatte zu schreien.

Gebannt verfolgten Oliver und Klaus die Festnahme. Das Funkgerät knackte: »Die Lagerhalle gehört Matthias Kronberg. Sie befindet sich seit sechzig Jahren im Besitz seiner Firma.«

Oliver traute seinen Ohren nicht. Unverzüglich funkte er seine Kollegen an, die nach wie vor die nunmehr endende Kundenveranstaltung im Swissôtel observierten. Innerhalb von dreißig Sekunden hatte er die Information. Matthias Kronberg saß immer noch an der Bar.

»Wir müssen einen Zusammenhang zwischen Jimmy Henders und Matthias Kronberg übersehen haben. Irgendetwas stimmt hier nicht. Lass uns die Halle stürmen, bevor es zu spät ist.« Mit diesen Worten stürzte Oliver aus dem Auto und gab dem Leiter der Sondertruppe das Zeichen zum Stürmen. Oliver machte den Anfang und stand mit klopfenden Herzen vor dem Tor zur Lagerhalle.

Er zählte: »Eins, zwei, drei und Zugriff.« Krach. Mit einem mächtigen Rammbock schlugen zwei SEK-Beamte gegen die schwere Eisentür, die schließlich scheppernd aufflog. Oliver sprang durch die Öffnung. Es war schummrig, und seine Augen hatten sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt, als ein schwarzer Schatten mit panischem Kreischen auf ihn zustürzte. Im letzten Moment riss Oliver den Kopf zur Seite und zog die Schultern hoch. Ein stechender Schmerz traf ihn am Oberarm. Er ignorierte ihn und warf sich auf den Schatten. Schwer atmend bekam er die Hände der Gestalt zu fassen. Sie waren zierlich und schmal. Gewandt riss er seinen Angreifer herum und erstarrte.

Es war Anna. Mit panischem Blick starrte sie ihn an, während sie sich heftig unter ihm wehrte. Dann erkannte sie ihn und hörte schlagartig auf zu treten.

»Anna! Gott sei Dank«, stieß Oliver erleichtert aus und half ihr auf die Beine.

Sie wankte, wirkte ansonsten jedoch auf den ersten Blick unverletzt. »Ich kenne den Mann nicht, der mich entführt hat, und Jimmy ist tot!«

Mit diesen Worten zeigte Anna in eine Ecke der Halle, wo der ermordete Jimmy zusammengesunken auf dem Boden lag.

»Das gibt es doch gar nicht«, entfuhr es Oliver erstaunt. »Und Matthias Kronberg ist immer noch auf der Veranstaltung und trinkt an der Bar. Wir haben draußen auf dem Parkplatz Frederick Köppe geschnappt. Wir müssen ihn verhören, um an den Hintermann heranzukommen.«

Draußen brach plötzlich ein Tumult aus. Kräftige Männerstimmen brüllten. Schwere Stiefel liefen in schnellen Schritten über das Gelände und dann fiel ein Schuss.

»Stehen bleiben!«, übertönte eine drohende Polizistenstimme das Chaos. Oliver lief nach draußen.

»Was ist denn hier los?«

»Wir haben eine männliche Person gestellt. Er wollte gerade von diesem Gelände flüchten. Hat sich dort hinten in dem kleinen Schuppen versteckt und gedacht, er könnte uns an der Nase herumführen!«

»Meister! Mein Meister!«, Frederick Köppe schrie mit hochrotem Gesicht über den ganzen Parkplatz, als er die festgenommene Person erkannte. Er wollte sich losreißen, doch die Polizisten hielten den schmächtigen jungen Mann mit eisernem Griff fest. Seine Versuche endeten schließlich mit einem harmlosen Zappeln. Oliver runzelte die Stirn und ging auf Frederick zu.

»Wie heißt dein Meister mit Namen?«

Ängstlich starrte Frederick auf den Boden und wagte nicht, aufzuschauen.

»Durchsucht ihn. Vielleicht hat er Papiere dabei.« Oliver blickte Frederick Köppe unmissverständlich an. »Es wäre an der Zeit mit der Wahrheit herauszurücken. Ist Ihnen eigentlich klar, dass durch Ihr Verhalten und Ihre Mithilfe mehrere Menschen ums Leben gekommen sind?«

Leise antwortete Frederick: »Er heißt Sebastian Kronberg. Er ist kein böser Mensch. Das müssen Sie mir glauben. Er straft nur die Sünder im Namen des Herrn, und ich tue ein gutes Werk, wenn ich ihm helfe.« Dicke Tränen liefen über Frederick Köppes gerötetes Gesicht. Du meine Güte, dachte Oliver, der Junge schien wirklich nicht zu begreifen, was er da tat. Eine Welle von Mitleid für den geistig zurückgebliebenen Köppe durchfuhr ihn, doch dann dachte er an die Opfer. Er blickte zu Anna, die blass bei seinem Partner stand, welcher behutsam auf sie einredete. Nein, er durfte kein Mitleid mit diesem Jungen haben.

»Bringen Sie ihn aufs Polizeirevier und besorgen Sie mir einen Haftbefehl! Es besteht der dringende Tatverdacht mehrfacher Morde in Mittäterschaft oder zumindest der Beihilfe zum Mord.« Mit diesen Worten wandte Oliver sich von Köppe ab und ging zu Sebastian Kronberg hinüber. Jetzt, wo er dicht vor ihm stand, war unverkennbar, dass es sich um den jüngeren Bruder von Matthias Kronberg handelte.

»Dieses Ding hier trug er bei sich!« Einer der Polizeibeamten hielt Oliver eine goldene Sichel hin. Sie wies merkliche Altersspuren auf. Das ist die Waffe des Sichelmörders, ging es ihm durch den Sinn. Du hast zum letzten Mal getötet! Mit diesem Gedanken steckte Oliver die Sichel in eine Plastiktüte und warf das schaurige Mordinstrument in die Box für die Spurensicherung.

 

 

 

 

Eine Woche später läuteten die Glocken im Kloster Knechtsteden. Die Sonne schien hell am strahlend blauen Himmel und kein Wölkchen war weit und breit zu erkennen. Komplett in Schwarz gekleidet standen Anna, Emily und Oliver vor einem dunkelbraun lackierten Sarg aus dickem Eichenholz. Ein weißhaariger, stark gebeugter Mönch stand am anderen Ende des Grabes und sang eine gregorianische Strophe. Eine Melodie, die in diesem Kloster seit Urzeiten gesungen wurde. Der Sarg stand offen und gab den Blick auf ein weißes Tuch mit goldverzierten Rändern frei, welches die sterblichen Überreste von Heinrich Mühlenberg bedeckte.

Andächtig legte Anna das goldene Mühlenamulett auf die Brust des toten Heinrich Mühlenberg. Er war schon vor über fünfhundert Jahren gestorben, doch bis zum heutigen Tag konnte sein Letzter Wille nicht erfüllt werden. Der Mönch sprach ein Gebet und anschließend wurde der Sarg verschlossen. Anna dachte an die Ereignisse der letzten Woche und an den Bruder von Matthias Kronberg, dem sie fast zum Opfer gefallen wäre.

Oliver Bergmann hatte ihr erzählt, dass der Mönch Sebastian Kronberg geständig war. Das Gericht würde jetzt seine Schuldfähigkeit prüfen müssen. Sebastian Kronberg hatte die goldene Sichel aus der geheimen Schatzkammer des Klosters Knechtsteden gestohlen. Da er als der jüngste Sohn der Kronberg-Familie keinen Anspruch auf das Erbe hatte, war er schon im frühen Kindesalter in das Kloster eingetreten. Die Mönche hatten ihm viel über die Todsünden beigebracht und der junge Kronberg hatte sich später zu einem strengen Fanatiker entwickelt. Ihm war jedes Mittel recht und er kannte keinerlei Reue.

Seine exzellenten Computerkenntnisse hatten es ihm ermöglicht – rund um die Uhr – am Leben der Außenwelt teilzunehmen. Obwohl er das Kloster nur selten verließ, kannte er sich in der Umgebung hervorragend aus. Frederick Köppe, den er zu seinem gefügigen Helfer gemacht hatte, war für ihn ein williges Werkzeug in einer Welt, die er hauptsächlich aus dem Internet kannte. Das Trojanerprogramm, mit welchem er sich Zugang zu Jimmy Henders Facebook-Account verschafft hatte, war perfekt programmiert und in der Lage, potenzielle Opfer monatelang vor der Entführung auszuspionieren. Auf Jimmy Henders war Sebastian Kronberg schon vor Jahren aufmerksam geworden. Kurz nach der Übernahme der Firma seines Vaters durch seinen Bruder Matthias ließ dieser sich auf ein hochspekulatives Bankgeschäft ein, welches die Firma fast in den Ruin getrieben hätte. Konzipiert wurde dieses komplexe Bankprodukt von Jimmy Henders, der von diesem Tag an auf der Sünderliste von Sebastian Kronberg stand. Dass er nicht schon früher zum Opfer geworden war, hatte er lediglich dem Umstand zu verdanken, dass er über unglaublich viele Facebook-Kontakte aus dem Bankmilieu verfügte. Für Sebastian war dies der perfekte Zugang zu einem Pool voller Sünder, der schnellstmöglich im Namen des Herrn bereinigt werden musste. Mehr als zehn Bankangestellte hatte Sebastian Kronberg auf dem Gewissen.

Die Taktik war dabei immer dieselbe. Mit gefälschten SMS lockte er seine Opfer an unbelebte, einsame Orte, wo er sie gemeinsam mit seinem Helfer Frederick Köppe zuerst betäubte und anschließend entführte. Ein großer Schrottplatz, der ebenfalls zum Unternehmen der Kronberg-Familie gehörte und abgeschottet zwischen Neuss und Zons lag, war der ideale Ort für die Gefangenschaft der Sünder. Dasselbe galt für die verlassene Lagerhalle an der Landstraße, wo Kronberg die Leichen zunächst zersägte und anschließend in Salzsäure auflöste. Die Knochenreste wurden daraufhin von Frederick Köppe mithilfe des Güllewagens auf den Feldern verteilt. Die Salzsäure besorgte Frederick Köppe aus dem Chemiepark, in dem er als Pförtner tätig war. Er zapfte die Säure aus den Lieferbehältern für die Kunden ab und fälschte anschließend die Lieferscheine. Da die entwendete Menge jeweils nur sehr klein war, fiel der Betrug nicht auf. Die Behälter für die Säure besorgte er auf dem Materialfriedhof.

Anfangs hatte Kronberg noch versucht, die Entführungen, die Morde, die Zersetzung der Leichen durch Säure und die anschließende Entsorgung in der Gülle seinem Helfer in die Schuhe zu schieben. Doch als die Polizei Frederick Köppe verhörte und ein Psychologe sich ebenfalls ein Bild von dem jungen Mann machte, wurde schnell klar, dass er hierzu niemals alleine in der Lage gewesen wäre. Zudem war Sebastian Kronberg nicht nur ein sehr intelligenter Mann, sondern auch groß und sportlich. Reichtum ohne Arbeit war die Todsünde, die er aus der modernen Welt vertreiben wollte. So wie der Sichelmörder von Zons vor fünfhundert Jahren Sünder bestrafte, die versuchten, sich mit Ablassbriefen freizukaufen, richtete Kronberg die neuen Sünder dieser Welt. In seinen Augen tat er nichts Falsches, sondern vollstreckte lediglich das Urteil Gottes.

Annas Haut wurde bei diesen Gedanken trotz der unerträglichen Hitze dieses Sommertages von einer Gänsehaut überzogen. Sie konnte zwar die moderne Interpretation der Todsünden nachvollziehen, zählte sich selbst jedoch nicht zu den Sündern. Auch wenn sie in einer Bank angestellt war, musste sie für ihr Geld doch hart und lange arbeiten. Möglicherweise hatte der Mönch Aktionäre und Spekulanten mit den Angestellten verwechselt. Aber in der Welt von Sebastian Kronberg waren wohl alle Sünder, die mit den Finanzgeschäften zu tun hatten.

Verstohlen blickte sie zu Emily und Oliver hinüber. Emily hatte ihre Reportage über den Sichelmörder fertiggestellt. In der nächsten Woche würde der Artikel in der Rheinischen Post erscheinen. Nur die Entdeckung des Labyrinths blieb vorerst unter Verschluss. Die zuständige Stadt Dormagen hatte Angst vor Tausenden Besuchern, die aufgrund dieser Neuigkeit das kleine Zons überfluten könnten. Das Lüften dieses Geheimnisses würde den Stoff für eine neue Geschichte von Emily Richter geben. Die beiden gaben wirklich ein hübsches Paar ab. Verliebt schauten sie sich in die Augen und auch der traurige Anlass dieser Beerdigung konnte das Strahlen aus ihren Gesichtern nicht verbannen. Liebe war etwas Wundervolles! Anna spürte einen Hauch von Einsamkeit, der sich wie ein Stich durch ihr Herz bohrte. Rasch sah sie wieder weg.

Der Sarg wurde langsam in die Erde hinabgelassen. Es war heiß und die Luft stand still. In der hellen Sommersonne konnte man sie geradezu flimmern sehen. Unsichtbare Linien verkrümmten das Bild, welches die Augen wahrnahmen, und Anna bemerkte, wie ihr kleine Schweißperlen die Stirn hinabperlten. Sie warf ein letztes Schäuflein Erde in das frische Grab und dachte an Bastian Mühlenberg. Ob er jetzt wohl seine Ruhe finden würde, wo sie sein Versprechen einlöste? Wie zu einer Antwort erhob sich ein kleiner Wind und fuhr sanft durch ihr langes, lockiges Haar. Fast war es, als könnte sie seinen Kuss auf ihrer Wange spüren. Wie ein langes Dankeschön verweilten warme Lippen für Sekunden auf ihrem Gesicht und eine Welle grenzenloser Zuneigung durchströmte Annas Körper. Dann war der Wind so plötzlich fort, wie er gekommen war. Verwirrt blickte sie wieder zu Emily und Oliver. Die beiden schienen nichts Außergewöhnliches bemerkt zu haben. Verstohlen sah sie sich um. Doch die Luft stand still und flimmerte in der Hitze des Hochsommers. Nur Annas Herz klopfte wild. Auch wenn ihr Verstand »Nein« sagte, so spürte sie doch, dass etwas von Bastian Mühlenberg bei ihr war und für immer bleiben würde.

 

 

ENDE

Bundle Puzzlemörder Erntezeit Zwilling Flügel
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